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Mit ihren Empfehlungen forderte die Europäische Union 2009 die Mitgliedsländer auf, sich dem Thema Patientensicherheit systematisch und prioritär zu widmen. Ziel war es u. a., die Handlungskompetenz der Bürger bzw. der Patienten zu stärken. Die EU-Empfehlungen beinhalteten außerdem den Auf- bzw. Ausbau sanktionsfreier Systeme zur Fehlerberichterstattung sowie die staatliche Förderung der Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitenden im Gesundheitswesen. Daneben sollten nationale Strategien und Programme zur nachhaltigen Förderung der Sicherheit von Patienten in allen Versorgungsstufen des Gesundheitswesens etabliert werden.

Vor dem Hintergrund dieser Vorgaben und im Rahmen der Kampagnen, die weltweit von der WHO initiiert wurden, haben die Länder Dänemark, Finnland und die USA die Themen „Patientensicherheit und medizinisches Risikomanagement“ in die Gesetzgebung integriert und in ihre Gesundheitssysteme eingebracht. Mit der Ausformulierung des Patientenrechtegesetzes ist es inzwischen auch in Deutschland gelungen, den Mindeststandard für ein medizinisches Risikomanagement zu definieren. Dieser inkludiert neben den stationären Einrichtungen explizit auch den ambulanten Versorgungsbereich.

Patientensicherheitsziele und Strategien wurden bisher in den Niederlanden, Finnland, Kanada, Neuseeland, Großbritannien, den USA und Australien formuliert. Zumindest formal sind diese Ziele für Entscheider im Gesundheitswesen verbindlich und handlungsleitend. Ob die Gesundheitsziele erfolgreich umgesetzt werden, wird in den einzelnen Volkswirtschaften sicher noch differenziert zu betrachten sein. Eine Evaluation sollte nach einem angemessenen Zeitintervall erfolgen.

In Deutschland wurde die Diskussion über Patientensicherheit als potenzielles nationales Gesundheitsziel erstmalig 2012 von der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e. V. (GVG) eröffnet. Diese Organisation versteht sich als Konsensplattform für die soziale Sicherheit in Deutschland und ist seit ihrer Gründung im Jahre 1947 der „Think Tank“ für die Entwicklung der Sozialsysteme in Theorie und Praxis. Bei wichtigen Reformprojekten werden hier die entscheidenden Positionen konsentiert und wissenschaftlich abgesichert.

Seit Beginn der 2000er-Jahre engagieren sich unter dem Dach der GVG in der Initiative „gesundheitsziele.de“ mehr als 120 Organisationen des deutschen Gesundheitswesens für die Etablierung und Weiterentwicklung nationaler Gesundheitsziele. Unter Beteiligung von Bund, Ländern und Akteuren in der Selbstverwaltung werden Maßnahmen formuliert. Zudem wird regelmäßig evaluiert, inwieweit die Ziele erreicht worden sind. Seit dem Jahr 2000 hat gesundheitsziele.de nach und nach sieben nationale Gesundheitsziele entwickelt, die zwischenzeitlich evaluiert und aktualisiert wurden: [1]

  1. Diabetes mellitus Typ II: Erkrankungsrisiko senken, Erkrankte früh erkennen und behandeln (2003)
  2. Brustkrebs: Mortalität vermindern, Lebensqualität erhöhen (2003)
  3. Tabakkonsum reduzieren (2003)
  4. Gesund aufwachsen: Lebenskompetenz, Bewegung, Ernährung (2003/2010)
  5. Gesundheitliche Kompetenz erhöhen, Patientensouveränität stärken (2003/2011)
  6. Depressive Erkrankungen: verhindern, früh erkennen und nachhaltig behandeln (2006)
  7. Gesund älter werden (2012)

Im Frühjahr 2013 wählte der Steuerungskreis der GVG die Themen „Alkohol reduzieren“ und „Patientensicherheit“ aufgrund ihrer großen gesundheitswirtschaftlichen Bedeutung als neue Gesundheitsziele für die Bundesrepublik Deutschland.

Ein Expertenteam war im Jahr zuvor gebeten worden, die aktuelle Situation zur Patientensicherheit zu analysieren und die Umsetzbarkeit anhand eines Kriterienkatalogs der GVG zu analysieren. Dieser Arbeitsgruppe fiel es auch zu, Strategien zur Operationalisierung und Messung zu entwickeln. Anstatt Patientensicherheitsinitiativen auf einzelne Leistungserbringer zu übertragen, verfolgten die Teammitglieder von Anfang an einen prozessorientierten, transsektoralen Bearbeitungsansatz. Die Ergebnisse publizierte die Arbeitsgruppe in einem Übersichtsartikel: „Patientensicherheit als nationales Gesundheitsziel: Status und notwendige Handlungsfelder für die Gesundheitsversorgung in Deutschland“. [2]

Um der Idee einer sektorübergreifenden, interdisziplinären und interprofessionellen Ausgestaltung des neuen Gesundheitsziels Patientensicherheit gerecht zu werden, hat die Expertengruppe sechs Handlungsfelder definiert, die aus der Perspektive sowohl der Patienten als auch der Akteure im Gesundheitswesen sowie unter gesundheitsökonomischen Aspekten von elementarer Bedeutung sind.

Die sechs Handlungsfelder im Einzelnen: „Sicherheit in der Diagnostik“, „Schutz vor Infektionen“, „Sicherheit vor, bei und nach Operationen“, „Sicherheit bei der Arzneimitteltherapie“, „Sicherheit in der Pflege“ und „Sicherheit beim Einsatz von Medizinprodukten“.

  1. Sicherheit in der Diagnostik
    Diagnosefehler, die häufig durch Unterlassung, Verzögerung oder falsche Indikationsstellung entstehen, sind eine Form von Behandlungsfehlern, die durch eine Vielzahl geeigneter Präventionsmaßnahmen zu verhindern wären. Checklisten sind heute als Lösungsansatz bereits umfassend etabliert. Allerdings muss sich in den therapeutischen Teams ein Bewusstsein für aktive Fehlerprävention vielfach noch stärker ausbilden. Zudem ist das Lernen aus Diagnosefehlern weiter zu optimieren, und die Patienten selbst sind stärker als bisher üblich in den Prozess von Diagnostik und Therapieplanung einzubinden.
  2. Schutz vor Infektionen
    Nicht zuletzt die Medienberichterstattung der vergangenen Jahre hat in der Bevölkerung zu einer erheblichen Verunsicherung im Hinblick auf die Hygiene in Gesundheitseinrichtungen geführt. In der Tat gehören nosokomiale Infektionen zu den häufigsten – und am ehesten vermeidbaren – Komplikationsformen der medizinischen Behandlung. Verbesserungspotenzial liegt in den Bereichen Primärprävention (Vermeidung von Infektionen), Sekundärprävention (frühe Erkennung und sichere Behandlung von Infektionen) und Tertiärprävention (Beherrschung von Ausbruchsereignissen). Da nosokomiale Infektionen als vermeidbare, unerwünschte Ereignisse gelten, bietet dieser Sektor viel Potenzial zur Erreichung und Operationalisierung des neuen Gesundheitsziels.
  3. Sicherheit vor, bei und nach Operationen
    Operationsverfahren werden immer differenzierter. Heute sind Behandlungen möglich, die noch vor einigen Jahren undenkbar waren. Im Angesicht einer stetig älter werdenden Gesellschaft werden die Einsatzbereiche moderner Techniken ständig erweitert. Auch im Bereich Technik wurden Sicherheitschecklisten für den perioperativen Prozess entwickelt und vielfach etabliert. Daneben werden in Zukunft aber die kontinuierliche Fort- und Weiterbildung der professionell Tätigen sowie ein hierarchie- und berufsgruppenübergreifendes Teamtraining am Patientensimulator von entscheidender Bedeutung sein. Hier kommt insbesondere das Konzept der „High Reliability Organisation“ zum Tragen. [3]
  4. Sicherheit bei der Arzneimitteltherapie
    Auswertungen von Fehlerkommunikationssystemen, die bereits in vielen Einrichtungen des Gesundheitswesens erfolgreich etabliert wurden, zeigen, dass in der Regel 50 Prozent der Fehlermeldungen auf Störungen im Bereich der Arzneimitteltherapie zurückgehen. Zur Optimierung sind Fehler in der ganzen Prozesskette zu vermeiden, angefangen bei der Verordnung eines Medikaments (Arzt-Patient-Kommunikation) über die Zubereitung und die Applikation bis hin zur Wirkungskontrolle. Zu berücksichtigen ist hier – insbesondere bei Selbstmedikation – die Patientenaufklärung und das Monitoring der Compliance. In der Gestaltung eines neuen nationalen Gesundheitsziels soll auch der Prozess der Medikation transsektoral in den Mittelpunkt gestellt werden.
  5. Sicherheit in der Pflege
    Die professionelle Gesundheits- und Krankenpflege ist eine der tragenden Säulen des Gesundheitssystems. Unzureichende Rahmenbedingungen und die mitunter mangelhafte Verfügbarkeit von qualifizierten Pflegekräften sind große Herausforderungen für die alternde Gesellschaft. Dennoch hat die Berufsgruppe der Pflegenden mit Hilfe von Präventionskonzepten viele Probleme der Vergangenheit bereits in den Griff bekommen (z. B. Dekubitalerkrankungen). Angesichts des demografischen Wandels wird die professionelle Pflege – besonders von Patienten mit demenziellen Erkrankungen – zunehmend an Bedeutung gewinnen. Im Fokus stehen wird u. a. die strukturierte Organisation des Ernährungs- und Flüssigkeitsmanagements.
  6. Sicherheit beim Einsatz von Medizinprodukten
    Obgleich die Medizintechnik sehr hoch entwickelt ist, treten immer wieder Probleme mit Hüft- und Brustimplantaten oder anderen Medizinprodukten auf – wenn auch selten. Komplikationen beim Einsatz von Medizinprodukten wirken sich unmittelbar auf die Sicherheit der betroffenen Patienten aus. Auch wenn der Gesundheitsbereich für die Industrie ein außerordentlich interessanter Markt ist, dürfen hier nicht Wettbewerbsinteressen vorrangig sein. Erkenntnisse aus Schadenereignissen müssen systematisiert aufbereitet werden. Diese Erkenntnisse sind Patienten und Wettbewerbern für die sachgerechte Herstellung und Anwendung zugänglich zu machen. Medizinprodukte sind nur gut, wenn ihre Anwendung ihrem erklärten Ziel auch gerecht wird. An dieser Stelle sind weitere Qualifikationsmaßnahmen nötig, und es bedarf eines Monitorings für Produkte mit inakzeptablen Leistungen und Sicherheitsdefiziten.

Der Prozess der Operationalisierung des neuen nationalen Gesundheitsziels beginnt voraussichtlich im Herbst 2014 unter der Regie der GVG.

Das deutsche Gesundheitssystem gehört ohne Frage schon heute zu einem der sichersten weltweit. Die bisherigen Ansätze der Prävention sind aber in aller Regel auf einzelne Leistungserbringer im Gesundheitswesen begrenzt (Arztpraxen, Krankenhäuser, Zentren). Und der Fokus liegt bisher noch zu wenig auf dem transsektoralen Gedanken. Das Gesundheitsziel Patientensicherheit soll zu einer besseren Vernetzung und zur weiteren Optimierung beitragen.

Da die Initiative „gesundheitsziele.de“ besonderen Wert auf die Validierung der Maßnahmen legt, wird das neue Gesundheitsziel Patientensicherheit von Beginn an in einen Evaluationsprozess integriert. Wir werden in einigen Jahren beurteilen können, ob die ergriffenen Maßnahmen die erhoffte Wirkung zeigen.

Das neue Gesundheitsziel Patientensicherheit ist ohne Frage wichtig und seine Umsetzung lohnenswert.

Literatur

[1] gesundheitsziele.de

[2] Hölscher,U., Gausmann, P., Haindl, H., et al. Übersichtsartikel Patientensicherheit als nationales Gesundheitsziel: Status und notwendige Handlungsfelder für die Gesundheitsversorgung in Deutschland, in: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZEFQ) (2014) 108, 6 -14

[3] Gausmann, P., Chirurgie und Zuverlässigkeit: Lässt sich das Konzept der „High Reliability Organisation“ auf klinische Prozesse übertragen?, Safety Clip „Passion Chirurgie“ (2012) 03_01

Gausmann P. Safety Clip: Neues nationales Gesundheitsziel Patientensicherheit. Passion Chirurgie. 2014 Mai; 4(05): Artikel 03_02.

Autor des Artikels

Profilbild von Peter Gausmann

Dr. Peter Gausmann

GeschäftsführerGRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbHEcclesiastraße 1-432758Detmold kontaktieren
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