01.12.2017 Fehlermanagement
Safety Clip: Lernen aus Fehlern und Schadenereignissen
Sind Verwechslungsrisiken beherrschbar?
Als Eingriffsverwechslung werden operative Eingriffe an der falschen Stelle (Körperteil, Organ, Seite bei paarigen Körperteilen oder Organen) oder am falschen Patienten, aber auch falsche Eingriffsarten definiert. Eingriffsverwechslungen gehören zu den so genannten „Never Events“, also zu den Schäden, die zu 100 % zu vermeiden sind.
Seit 2010 engagieren sich deutsche Krankenhäuser im High-5s-Projekt, um die 100-Prozent-Marke zu erreichen [1]. So wurde in Anlehnung an die High-5s-OP-Checkliste, die mittlerweile in fast alle deutschen OPs Einzug gehalten hat und aus dem OP-Prozess nicht mehr wegzudenken ist, die Standard Operating Procedure (SOP) „Vermeidung von Eingriffsverwechslungen“ entwickelt. Die SOP besteht aus drei sich ergänzenden Prozessschritten:
- präoperativer Verifikationsprozess
- Markierung des Eingriffsorts
- Team-Time-out
Allein das Abhaken der OP-Checkliste erhöht jedoch noch nicht die Patientensicherheit, wie folgender Schadenfall zeigt.
Fallbeispiel
Im September 2005 erleidet ein Patient infolge eines Unfalls eine beidseitige Unterschenkelfraktur. Diese wird mit Marknägeln in den Unterschenkeln und in den Os naviculare versorgt. Nach einem Jahr ist die Fraktur abgeheilt. Dem Patienten werden zunächst die Nägel am linken Unterschenkel und drei Schrauben am Os naviculare des linken Fußes entfernt. Eine Terminabsprache zur Entfernung der Marknägel am rechten Unterschenkel wird vertagt, da der Patient mit seinem Arbeitgeber Rücksprache halten muss.
Am 24. Oktober 2013 stellt sich der Patient erneut im Krankenhaus vor und vereinbart einen Operationstermin für den 29. Oktober 2013.
Am Operationstag wird, wie üblich, bei der präoperativen Visite die zu operierende Seite großzügig markiert. In der Patientendokumentation ist darüber hinaus eine Seiten- und Identitätskontrolle beim Einschleusen in den OP festgehalten. Auch befinden sich die Röntgenbilder vom rechten Unterschenkel zum Termin ordnungsgemäß im OP. Trotz der umfassenden Sicherheitsvorkehrungen kommt es zu einer Seitenverwechslung und es erfolgt ein Hautschnitt in der alten Narbe am linken Kniegelenk, wobei die Sehne längs gespalten wird. Ein eingelegter Marknagel wird erwartungsgemäß nicht gefunden. Bei der daraufhin vorgenommenen Kontrolle des radiologischen Befunds wird die Seitenverwechslung festgestellt. Die längs gespaltene Patellasehne und die Haut am linken Unterschenkel werden wieder vernäht und die Operation am rechten Unterschenkel wird erfolgreich durchgeführt.
Am Folgetag findet ein Gespräch mit der Krankenhausleitung (Ärztl. Direktor und Pflegedirektor) statt, bei dem die Seitenverwechslung thematisiert wird. Die zuständigen Ärzte suchen noch am Operationstag das Gespräch mit dem Patienten, um diesem die Seitenverwechslung zu erläutern.
Der Patient klagt nach der OP über Beschwerden sowohl am rechten als auch am linken Kniegelenk; wobei Letztere gegen Ende des Klinikaufenthaltes sogar noch zunehmen. Die Wundheilung verläuft allerdings vollkommen ungestört und reizlos, sodass der Patient wie geplant am 5. November 2013 aus der stationären Behandlung entlassen wird. Nach seiner Entlassung formuliert der Patient Haftpflichtansprüche.
Wie kam es zu der Verwechslung?
Der verantwortliche Oberarzt, ein erfahrener Unfallchirurg, war bei dem Eingriff als erster Assistent im OP zugegen. Präoperative Vorsichtsmaßnahmen (Seitenmarkierung) wurden angewandt und die zu operierende Seite wurde routinemäßig kontrolliert. Die Ursache für die Verwechslung ist vermutlich darin zu suchen, dass die Operateure von der gleichartigen Narbe unterhalb der linken Kniescheibe, also am falschen Bein (beidseitige Unterschenkelfraktur), fehlgeleitet wurden.
Vom unerwünschten Ereignis zum Behandlungsfehler
Das Fallbeispiel beschreibt ein so genanntes unerwünschtes Ereignis. Solche Ereignisse werden durch die medizinische Versorgung (und nicht durch die Erkrankung!) verursacht und haben einen vorübergehenden oder dauerhaften Patientenschaden zur Folge.
Man unterscheidet vermeidbare und unvermeidbare unerwünschte Ereignisse. Ein vermeidbares unerwünschtes Ereignis ist auf einen Behandlungsfehler zurückzuführen. Juristisch meint der Begriff Behandlungsfehler „ein schädliches Ereignis, bei dem der medizinische Standard unterschritten wurde bzw. nicht die erforderliche Sorgfalt angewendet wurde.“ Ein Behandlungsfehler ist also dann gegeben, wenn
- eine nicht indizierte Maßnahme durchgeführt wurde,
- eine medizinisch gebotene Maßnahme unterlassen wurde oder
- die erforderliche Sorgfalt bei einer Maßnahme außer Acht gelassen wurde.
Behandlungsfehler können demnach in jedem Abschnitt der medizinischen Versorgung auftreten:
- bei der Behandlungsübernahme,
- bei der Anamnese,
- bei der Diagnose,
- bei der Therapie,
- bei der Rehabilitation und
- bei der Prävention.
In die Kategorie Behandlungsfehler fallen auch personelle oder apparative Defizite sowie die Übernahme einer Behandlung ohne fachliche Kompetenz.
Fehlerbegünstigende Faktoren
Bei der Patientenversorgung gibt es eine Reihe von Faktoren, die das Auftreten eines Behandlungsfehlers unterstützen. So wurden beispielsweise bei der Analyse des berichteten Fallbeispiels folgende fehlerbegünstigende Faktoren herausgearbeitet:
- Die Personen, die den Patienten untersuchten und die OP-Aufklärung vornahmen, waren nicht dieselben wie die Personen, mit denen er unmittelbar vor der Narkose in Kontakt stand.
- Die Prämedikationsvisite des Patienten in der Anästhesie-Ambulanz und die Anästhesie am Folgetag wurden von unterschiedlichen Personen vorgenommen.
- Um die Abläufe im OP zu beschleunigen, hatte das OP-Team bereits lange vor Eintreffen des Operateurs mit der Patientenlagerung begonnen, sodass der Patient bereits gelagert und abgedeckt war, als der Operateur den Saal betrat.
Welche präventiven Maßnahmen lassen sich implementieren?
Risikopräventive Maßnahmen können Mitarbeitenden dabei helfen, Eingriffsverwechslungen zu vermeiden. Je mehr Maßnahmen etabliert sind, umso unwahrscheinlicher ist eine Verwechslung. Möglicherweise hätte der Behandlungsfehler aus dem Fallbeispiel vermieden werden können, hätte die Klinik folgende Maßnahmen implementiert:
1. Zur Vermeidung von Verwechslungen des Operationsgebietes (rechte Seite/linke Seite) kommt ein einheitliches, abteilungsübergreifendes Kennzeichnungssystem zum Einsatz. Dieses ist in schriftlicher Form geregelt.
2. Die Markierung des Eingriffsortes erfolgt entweder am Vorabend im Rahmen der Aufklärung durch den aufklärenden Arzt oder am Tag des Eingriffs durch den Operateur oder einen erfahrenen Arzt des Behandlungsteams.
3. Die OP-Feld-Markierung ist eindeutig (z. B. Kreuz oder Pfeil) und erfolgt mit einem nicht abwaschbaren Stift.
4. Der OP-Plan enthält alle OP-relevanten Angaben (Patientendaten mit Geburtsdatum, Diagnose, geplante Therapie inkl. Seitenabgabe, geplante Dauer des Eingriffs, Narkoseform, geplantes Team).
In der Praxis ist dies häufig nicht gegeben!
5. Ein interprofessionelles Team überprüft am Vortag der OP die Durchführbarkeit des OP-Programms (OP-Planungsgespräch).
In der Praxis findet dies häufig nicht statt!
6. Eine bedarfsgerecht entwickelte OP-Sicherheits-Checkliste kommt zum Einsatz. Diese orientiert sich an den anerkannten wissenschaftlich-medizinischen Empfehlungen.
7. Die Zuständigkeit für die Kontrollschritte während der Einschleusung des Patienten in den OP ist eindeutig geregelt. Das Verfahren ist schriftlich festgelegt.
8. Ein persönliches Übergabegespräch findet statt und mitgelieferte Unterlagen werden auf Vollständigkeit überprüft.
9. Die Identität des Patienten wird durch persönliche aktive Ansprache des Patienten verifiziert.
In der Praxis unterbleibt dies häufig!
10. Bei paarig angelegten Organen und Extremitäten erfolgt eine Kontrolle der richtigen Seitenabgabe.
In der Praxis findet dies häufig nicht statt!
11. Der Operateur kennt den Patienten.
In der Praxis ist dies häufig nicht der Fall!
12. Präoperativ erfolgt eine für das gesamte OP-Team sichtbare Präsentation der für die OP erforderlichen Befunde.
In der Praxis unterbleibt dies häufig!
13. Innerhalb des OP-Teams bestehen klare und sichere Kommunikationsregeln, um Missverständnisse vor, während und nach der OP zu vermeiden.
14. Die anerkannten medizinischen Handlungsempfehlungen zur Vermeidung von Eingriffsverwechslungen in der Chirurgie sind bekannt und werden umgesetzt:
I.Aufklärung des Patienten
II.Markierung des Eingriffsortes
III.Identifikation des Patienten
IV.Etablierung eines routinemäßigen „Team-Time-outs“ mit standardmäßigen Abfragepunkten unmittelbar vor Schnitt.
15. Die Vorgaben zur Seitenkennzeichnung werden auch im OP eingehalten. Ohne Begründung wird nicht von ihnen abgewichen. Bei Unklarheiten ist die Eingriffsseite vor Schnitt zu klären. Ist dies nicht möglich, wird die OP nicht gegen die Patienteneinwilligung eingeleitet.
Derartige präventive Maßnahmen lassen sich für alle Bereiche des klinischen Alltags entwickeln. Vorangegangene Behandlungsfehler können dafür als Grundlage genutzt werden. Die Analyse von Behandlungsfehlern hilft, fehlerbegünstigende Faktoren zu erkennen und gezielt risikopräventive Maßnahmen aus ihnen abzuleiten. Das Lernen aus Fehlern und Schadenereignissen muss in den Kliniken zum Selbstverständnis und in den Arbeitsalltag integriert werden.
Lernen aus Fehlern ist kein überflüssiger Luxus, sondern ein Mehrwert für die Patientensicherheit.
Literatur
[1] Fishman L, Hermes R, Renner D, Gunkel C (2012). Aktiv in Patientensicherheit. Erfahrungen zur Implementierung einer international standardisierten Handlungsempfehlung zur Vermeidung von Eingriffsverwechslungen. Orthopädie und Unfallchirurgie Mitteilungen und Nachrichten. 548-552.
Autor des Artikels
Sabine Kraft
Risiko-BeraterinGRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbHKlingenbergstr. 432758Detmold kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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