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Fallbeschreibung

Für eine geplante Sectio werden in einem OP alle notwendigen Vorbereitungen getroffen. Die an diesem Tag für die Sectio eingeteilte instrumentierende Pflegekraft hat sich verspätet und beginnt nach ihrem Eintreffen eilig mit den Vorbereitungen des benötigten Sterilguts und der Instrumente. Die OP kann pünktlich beginnen. Der Chefarzt der Abteilung führt die Entbindung durch. Die operative Versorgung der Mutter, Frau H., verläuft problemlos. Die Zählkontrolle erweist sich als vollständig und man beginnt mit dem Verschluss des OP-Gebiets. Mutter und Kind können die Klinik nach einigen Tagen verlassen.
14 Tage später wird der Chefarzt von einem chirurgischen Kollegen angerufen, der in einem nahegelegenen Krankenhauses tätig ist. Man habe bei Frau H. soeben eine Laparatomie vorgenommen und ein im Bauchraum vergessenes Bauchtuch entfernt. Frau H. habe sich mit hohem Fieber und Bauchschmerzen in der Notaufnahme des Krankenhauses vorgestellt. Eine Röntgenaufnahme diagnostizierte einen Fremdkörper in der Bauchhöhle. Man habe deshalb einen sofortigen Eingriff durchgeführt.

Was ist passiert?

Der Vorfall ist für alle Beteiligten unerklärlich. Eine fieberhafte Suche nach den Ursachen beginnt. Aus Gedächtnisprotokollen wird der Fall unter den Beteiligten rekonstruiert und es werden Erklärungsversuche unternommen. Zur Strukturierung der Überlegungen orientiert man sich am „London Protocol“, einer Analysemethodik, um fehlerhafte Handlungen und Unterlassungen zu identifizieren und nach Faktoren im Arbeitsumfeld des Mitarbeiters zu suchen, die diese Handlungen/Unterlassungen bedingt haben (1). Ziel dieser Methodik ist es, multiple und potenziell gefährliche Risikofaktoren und -konstellationen herauszuarbeiten, um anschließend die effektivsten Ansatzpunkte und Maßnahmen für die Risikoprävention zu finden.
Das „London Protocol“ geht davon aus, dass alle menschlichen Handlungen fehleranfällig sind, dies jedoch umso stärker, je unsicherer und unorganisierter das System ist, in dem sich der Mensch bewegt. Deshalb gilt es, alle Faktoren des Systems so sicher und aufeinander abgestimmt wie möglich zu gestalten, damit den Menschen, die darin arbeiten, so wenig Fehler wie möglich unterlaufen. Der Mensch ist aber nicht nur Fehlerquelle, sondern gleichzeitig auch eine der wichtigsten Sicherheitsbarrieren, denn er kann durch entsprechende Aufmerksamkeit und durch Reaktionsvermögen eine bereits ihren Lauf nehmende Fehlsteuerung in einem System noch abwenden.
Im vorliegenden Fall wurde insbesondere der Prozess der Zählkontrolle unter die Lupe genommen und das Vorgehen am Tag der Operation minutiös rekonstruiert.

  • Folgende Handlungen/Unterlassungen wurden identifiziert:
    Ein sorgfältiges, einzelnes Durchzählen der Anzahl der Bauchtücher nach dem Entnehmen aus der Verpackung hat die instrumentierende Pflegekraft nicht durchgeführt. Es wurde von der Standardanzahl pro Verpackung, nämlich fünf Bauchtücher, ausgegangen und somit auch im OP-Protokoll die Zahl fünf vermerkt. Es wird vermutet, dass sich eine fehlerhaft bestückte Verpackung (mit sechs statt fünf Bauchtüchern) unter dem Sterilgut befand.
  • Eine präoperative Zählkontrolle im Vier-Augen-Prinzip wurde nicht vorgenommen. Hätte eine zweite Person den Zählvorgang beobachtet, wäre das Zählen der einzelnen Tücher eventuell sorgfältiger vorgenommen worden.
  • Der Operateur führte keine ausreichende Inspektion des OP-Situs kurz vor Verschluss des Wundgebiets durch. Der Operateur selbst vermutet, dass er versehentlich zwei Bauchtücher zum Austupfen der Bauchhöhle/des Uterus ergriff und ein Bauchtuch dabei „hängenblieb“.
  • Der Operateur ließ sich die Vollständigkeit der Zählkontrolle nicht laut bestätigen.

Welche Faktoren trugen zu diesen Handlungen/Unterlassungen bei?
Die in der Methodik des „London Protocols“ berücksichtigten Faktoren sind u.a. Patient, Arbeitsprozesse, Arbeitsumgebung, Individuum, Team und Management. Die Faktoren wurden dahingehend untersucht, inwieweit sie ursächlich auslösend für die Handlungen/Unterlassungen der Beteiligten verantwortlich sind.

Individuum

Die präoperative Zählkontrolle erfolgte nicht mit der erforderlichen Sorgfalt. Der verspätete Arbeitsbeginn bedingte eine eilige Vorbereitung der Materialien, sodass das einzelne Durchzählen der Bauchtücher unterlassen wurde. Zudem weiß man aus der Kognitionspsychologie (2), dass bei häufig getätigten Routinearbeiten die Aufmerksamkeit für die Detailwahrnehmung gesenkt ist und deshalb im vorliegenden Fall ein zusätzliches, in der Sterilpackung befindliches Bauchtuch nicht bemerkt wurde.
Weitere Gründe für die mangelnde Sorgfalt bei der Inspektion des OP-Situs durch den Operateur können ebenso die große Eingriffsroutine oder das Bestreben gewesen sein, die OP zeitgerecht vorzunehmen, um schnell zum nächsten OP-Punkt übergehen zu können.

Team

Der Prozess der Zählkontrolle wurde nicht als Teamarbeit aufgefasst. Deshalb waren Sicherheitsmechanismen wie z.B. das „Vier-Augen-Prinzip“ oder das laute Ansagen und Bestätigen von Zählergebnissen nicht etabliert.

Arbeitsumgebung

Das verwendete Sterilgut war fehlerhaft bestückt (Herstellerverschulden). Zudem befinden sich die Bauchtücher in stark komprimiertem Zustand in der Verpackung. Dies könnte die Ursache sein, dass der Operateur versehentlich zwei Tücher gleichzeitig griff, in dem Glauben nur eines in der Hand zu haben.
Als „Nebenbefund“ stellte man bei der Rekonstruktion fest, dass es in der OP-Abteilung aus wirtschaftlichen Gründen Gewohnheit ist, nicht verwendete, saubere Bauchtücher als Putztücher für Reinigungsarbeiten im OP zu benutzen. Es findet dort also eine Zweckentfremdung von Medizinprodukten statt. Es ist nicht auszuschließen, dass eines dieser „Reinigungstücher“ versehentlich in die abschließende Zählkontrolle geriet und damit wiederum den korrekten Zählstand verursachte, weil es das im Bauchraum der Patientin vergessene Bauchtuch „ersetzte“.

Arbeitsprozess

In der Abteilung gab es keine schriftliche Verfahrensanweisung für die Durchführung der Zählkontrolle. Verbindliche Vorgehensschritte, verantwortliches Personal waren nicht benannt, sodass eine korrekte Bestandkontrolle vor, während und nach der OP nicht gewährleistet werden konnte.
Patient

Aufgrund der Eingriffsart war eine postoperative Röntgenkontrolle nicht indiziert, die den Verbleib des Bauchtuchs hätte früher aufzeigen können.

RISIKOFAKTOREN für Fremdkörperverbleib

Patienten mit Adipositas
Patienten mit hohem Blutverlust
Personalwechsel während OP, mehrere chirurgische Teams während einer OP
Notfalloperationen
Unerwartete OP-Verläufe
Fehlende Ablaufbeschreibung der Zählkontrolle
Unübersichtliches Operationsgebiet (z.B. vaginaler Eingriff)
Mangelnde Kommunikation im OP-Team

Risikomanagement

  1. Ist in jeder Operationsabteilung eine verbindliche Verfahrensanweisung für die Durchführung der Zählkontrolle vorhanden, lässt sich das Risiko des Verbleibs von Fremdkörpern (Tupfer, abgebrochene Nadeln etc.) reduzieren. Das Vorliegen einer solchen Verfahrensanweisung bedeutet, dass die verantwortlichen Akteure bei der Zählkontrolle die definierten Schritte einzuhalten und sorgfältig auszuführen haben und diese – im Sinne der Teamleistung – auch verbal ansagen und bestätigen müssen.

Präoperativ

Die instrumentierende Pflegekraft und der „Springer“ zählen gemeinsam die Anzahl der in der Sterilverpackung befindlichen Tücher und Tupfer aller Art. Der Operateur erfragt den Zählstatus vor OP-Beginn (Teamfaktor).

Intraoperativ

Nur die instrumentierende Pflegekraft reicht dem Operateur das Sterilgut an. Eine selbstständige Entnahme von Tüchern und Tupfern durch den Operateur ist nicht gestattet (Teamfaktor). Das gebrauchte Material wird gesondert gesammelt (Arbeitsumgebung).

Bei intraoperativen Personalwechseln ist ein Zwischenstand nach dem Vier-Augen-Prinzip (anwesende und auslösende Person) zu erheben und zu dokumentieren (Arbeitsprozess).

Vor Verschluss des Operationsgebiets wird sowohl das unbenutzte als auch das benutzte Material gezählt und abgeglichen (Teamfaktor, Arbeitsprozess).

Die instrumentierende Pflegekraft teilt dem Operateur unaufgefordert den Bestand mit, den korrekten bzw. den Fehlbestand (Teamfaktor, Arbeitsprozess).

Postoperativ

Die Kontrollpersonen werden in der Dokumentation festgehalten (Arbeitsprozess).

  1. Die Einhaltung der Vorgaben des Medizinproduktegesetzes ist zu gewährleisten und Zweckentfremdungen sind zu unterbinden. Medizinprodukte dürfen nur ihrer Zweckbestimmung entsprechend angewandt werden (§2[1] MPBetreibV). Die Krankenhausleitung ist für die Überprüfung der Umsetzung verantwortlich.

In der Gesamtheit der Anspruchsstellungen ist die Ursache „Vergessener Fremdkörper“ mit vier Prozent verschwindend gering (Quelle: Ecclesia Versicherungsdienst GmbH). Bei einer Anspruchsstellung wird immer zu klären sein, in welcher Weise ein Chirurg bei der Operation Materialien verwendete und welche Vorkehrungen er gegen das Zurücklassen der Materialien im Wundgebiet getroffen hat. Bei Vorliegen einer Verfahrensanweisung zur Vermeidung von unbeabsichtigt im OP-Gebiet zurückgelassenen Fremdkörpern (3) kann zwecks nachvollziehbarer Darstellung auf diese Anweisung verwiesen werden.

Laut einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) „… müssen … alle möglichen und zumutbaren Sicherungsvorkehrungen gegen ein solches Mißgeschick …“ getroffen werden, „… wozu bei textilen Hilfsmitteln deren Kennzeichnung, eine Markierung, das Zählen der verwendeten Tupfer und dergleichen gehören können. Im Einzelfall kann in der Außerachtlassung solcher gebotenen Maßnahmen auch ein grober Behandlungsfehler liegen“ (BGH VersR 1981, 462 [463]). Bei einer eingriffsbedingt fehlenden Übersicht über das Operationsgebiet (z.B. vaginaler Eingriff, Adipositas) wird der versehentliche Verlust eines Fremdkörpers im OP-Gebiet als schlichter ärztlicher Behandlungsfehler eingestuft, nicht jedoch als grober Fehler (4).

Bei eingetretenem Schaden sind folgende Maßnahmen und Verhaltensweisen zu beachten:

  • Gedächtnisprotokolle anlegen
  • Meldepflichten beachten
    • Vorsorgliche Meldung an Versicherungsdienstleister
    • Information an den Hersteller der Bauchtücher
    • Verständigung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
  • Kommunikation mit dem Patienten in einem Arzt-Patient-Gespräch – es besteht eine posttherapeutische Aufklärungspflicht – und Dokumentation des Aufklärungsgesprächs (Oberlandesgericht Oldenburg MedR 1995,326, OLG München, Urteil vom 10.01.2002)
  • Durchführung einer retrospektiven Schadenanalyse (ggf. mit externer Hilfe) mit allen Beteiligten, zur Eruierung aller ursächlich beitragenden Faktoren, welche die Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos „vergessener Fremdkörper“ erhöhen, mit anschließender Ableitung risikopräventiver Maßnahmen.

Literatur:

1. Vincent C., Taylor-Adams S., Chapman E.J., et al. How to investigate and analyse clinical incidents: clinical risk unit and association of litigation and risk management protocol. British Medical Journal 2000, 320: 777-81
2. Reason J. (1994). Menschliches Versagen. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. S. 68
3. Flyer „Jeder Tupfer zählt” – Prävention von unbeabsichtigt belassenen Fremdkörpern im OP Gebiet, Aktionsbündnis Patientensicherheit
4. Versicherungsrecht vom 20.11.1999, 50. Jahrgang, Heft 33, Seite 1420

Autor des Artikels

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Angela Herold

GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH, MünchenWerner-Eckert-Str. 1181829München kontaktieren

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