01.03.2024 Safety Clip
Safety Clip: Die EU-Medizinprodukte-Verordnung für mehr Patientensicherheit
Der Markt für Medizinprodukte und die damit einhergehenden Anforderungen haben seit 2010 durch einen aufgedeckten Skandal viel Aufmerksamkeit erhalten. Der französische Hersteller Poly Implant Prothèse (PIP) entschied sich unter anderem aus Kostengründen dafür, ein unzulässiges Industriesilikon für seine Brustimplantate zu verwenden. Über Jahre wurden diese auf dem Markt vertrieben und eingesetzt. Die Folge: Hunderttausende Patientinnen haben mit den Risiken der minderwertigen Implantate zu kämpfen, denn diese können reißen, zu Irritationen und Entzündungen führen und letztendlich weitere Operationen bedingen. Daraufhin reagierte die Europäische Kommission mit einer Überarbeitung der bestehenden Regelungen.
Die Qualität von Medizinprodukten stärken
Durch den Implantate-Skandal wurden die Auflagen für Medizinprodukte deutlich verschärft. Am 25. Mai 2017 trat die neue EU-Medizinprodukte-Verordnung (MDR) gemeinsam mit der ebenfalls neuen Verordnung über In-vitro-Diagnostika (IVDR) in Kraft. Geltungsbeginn der MDR war nach einer Übergangsfrist von vier Jahren der 26.05.2021. Für die Hersteller von Medizinprodukten bedeutet das, dass unter anderem höhere Anforderungen an die technische Dokumentation der Herstellungsprozesse, an das Qualitätsmanagement und an die klinische Bewertung über den gesamten Produktlebenszyklus gestellt werden.
Das Ziel ist: Die Patientensicherheit durch eine höhere Qualität der Medizinprodukte zu stärken, ohne Innovationen einzuschränken.
Die Regelungen der MDR betreffen allerdings nicht nur neue Marktzugänge, sondern auch höherklassige Medizinprodukte, die bereits auf dem Markt vertrieben werden. Auch diese müssen einer Neuzertifizierung nach MDR unterzogen werden. Dafür braucht es ausreichend viele Zertifizierungsstellen, sogenannte „Benannte Stellen“, also staatlich autorisierte Stellen, die Prüfungen und Bewertungen durchführen. Ebenso gibt es Produkte, die aufgrund der MDR erstmalig eine Zertifizierung von der „Benannten Stelle“ benötigen, wie zum Beispiel wiederverwendbare chirurgische Instrumente oder höherklassige medizinische Software. Die Übergangsfrist für die Re-Zertifizierung von Bestandsprodukten soll 2024 auslaufen.
Auswirkungen der MDR auf die Versorgung
Zwar ist das MDR bereits vor über sechs Jahren in Kraft getreten, dennoch ist das System nach wie vor im Aufbau. Das führt auch zu langen Wartezeiten für die Ausstellung der MDR-Zertifikate. Die Kapazitäten der „Benannten Stellen“ sind, trotz steigender Zahlen, noch immer zu gering, um den gestiegenen Prüf- und Zertifizierungsaufwand abzudecken. Aus diesem Grund wurde die Übergangsfrist von Mai 2024 auf Ende 2027 für Produkte mit höherem Risiko (wie zum Beispiel Herzschrittmacher) beziehungsweise 2028 für Produkte mit mittlerem und geringerem Risiko (wie zum Beispiel Spritzen oder wiederverwendbare chirurgische Instrumente) verlängert.
Die Hersteller haben bereits mit den Bedingungen zu kämpfen. Sie müssen mit gestiegenen Anforderungen, Wartezeiten und vor allem höheren Kosten rechnen. Das führt dazu, dass sie die Produkte oder ganze Produktlinien vom Markt nehmen müssen. Hierbei handelt es sich sowohl um Bestandsprodukte als auch um Nischenprodukte. Gleiches gilt auch für Innovationsprodukte, sodass einige Hersteller zum Teil von den EU-Märkten abwandern.
Diese geschilderten Folgen, die die MDR mit sich bringt, wirken sich auch auf Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäuser aus. Denn wenn Hersteller ihre Produkte vom Markt nehmen, dann führt das in den Kliniken zwangsläufig zu Herstellerwechseln. Durch hinzukommende Lieferengpässe muss häufiger auf Ersatzprodukte ausgewichen werden. Seltene Nischenprodukte sind noch schwieriger zu beschaffen und Innovationsprodukte lassen lange auf sich warten. Das stellt vor allem das Personal in der Patientenversorgung zusätzlich vor steigende Herausforderungen.
Medizinprodukte sicher anwenden
Wer ein Medizinprodukt am Patienten anwendet, muss die erforderliche Ausbildung oder Kenntnis und Erfahrung besitzen sowie in die sichere Handhabung eingewiesen sein. Aus der Praxis ist bekannt, dass sich diese Anforderungen aus der Medizinprodukte-Betreiberverordnung oft schwer umsetzen lassen. Ein geringer Standardisierungsgrad beziehungsweise ein häufiger Wechsel von Medizinprodukten, wie es aktuell häufig der Fall ist, erhöhen den Aufwand für eine sichere Anwendung zusätzlich und fordern eine erhöhte Aufmerksamkeit des Personals.
Die folgenden Faktoren können die sichere Anwendung von Medizinprodukten in Krankenhäusern unterstützen:
Kommunikation:
Kommt es zu Herstellerwechseln oder Lieferengpässen und somit zur Verwendung neuer Medizinprodukte, dann sollten diese Informationen frühzeitig über interne Kommunikationswege zur Verfügung gestellt werden. Eine regelhafte Einbindung in bestehende Besprechungen und ein Austausch über Besonderheiten in der Anwendung der Produkte können einen sicheren Umgang fördern.
Einweisung:
Auch bei selten oder nur kurzzeitig genutzten Medizinprodukten muss die anwendende Person sicherstellen, dass sie das notwendige Grundlagenwissen zur Funktion des Medizinprodukts und zum Verständnis der Risiken besitzt. Die Anwenderin oder der Anwender müssen eine Übersicht über die aktuell eingesetzten Medizinprodukte in ihrem oder seinem Arbeitsbereich haben. Notwendige Einweisungen sollte sie oder er im Rahmen der Holschuld einfordern. Der Betreiber muss für die organisatorischen Rahmenbedingungen sorgen und sicherstellen, dass alle Anwender die erforderlichen Einweisungen erhalten.
Sicherheitskultur:
Das Stärken einer Sicherheitskultur stützt die sichere Anwendung von Medizinprodukten. Eine Sicherheitskultur bietet unter anderem einen Rahmen, in dem es möglich ist, Unsicherheiten zu äußern, Sicherheitslücken zu identifizieren, zu analysieren und die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen. Das betrifft sowohl Schulungsmaßnahmen, die Ausstattung von Medizinprodukten als auch den offenen Informationsaustausch.
Fazit
Medizinprodukte spielen eine tragende Rolle in der täglichen Patientenversorgung. Die MDR trägt mit ihren strikten Anforderungen an Medizinprodukte einen wichtigen Teil zur Patientensicherheit bei, sodass Fälle wie der eingangs erwähnte Implantate-Skandal hoffentlich der Vergangenheit angehören. In der Praxis zeigen sich aber auch die Defizite der Verordnung. Lange Wartezeiten und steigende Kosten stellen Hersteller und Kliniken vor neue Herausforderungen. Die daraus resultierende Forderung von Verbänden, wie dem Bundesverband Medizintechnologie e.V. (BVMed), die Umsetzung der MDR praktikabler zu gestalten, ist nach wie vor laut und lässt weitere Anpassungen vermuten.
In dem ohnehin hoch belasteten System der Krankenversorgung bedeutet dies vor allem für das Personal eine zusätzliche Herausforderung. Ein wechselndes oder unvollständiges Sortiment an Medizinprodukten erfordert nicht nur einen gestiegenen Einweisungsbedarf, sondern auch eine erhöhte Aufmerksamkeit, um Fehler in der Patientenbehandlung zu vermeiden. Umso wichtiger ist die Stärkung einer offenen Kommunikation und Sicherheitskultur zur Förderung der Patientensicherheit.
Literatur
[1] https://www.bvmed.de/de/recht/eu-medizinprodukte-verordnung-mdr
[2] https://www.aps-ev.de/wp-content/uploads/2017/04/HE-Einweisung-von-MP.pdf
[3] Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates (Text von Bedeutung für den EWR.)
[4] Medizinprodukte-Betreiberverordnung – MPBetreibV
Larissa Gerke
Risikoberaterin
GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH
Ecclesiastraße 1-4
32758 Detmold
Chirurgie+
Gerke L: Safety Clip: Die EU-Medizinprodukte-Verordnung für mehr Patientensicherheit. Passion Chirurgie. 2024 März; 14(03/I): Artikel 04_02.
Weitere Artikel zur Patientensicherheit finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de), Rubrik Wissen | Qualität & Patientensicherheit | Safety Clip.
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