01.07.2010 Safety Clip
Safety Clip – Diagnosefehler vermeiden
Ein Patient sucht die Klinik mit erheblichen Schmerzen im Lendenwirbelbereich auf. Er wird zunächst konservativ mit Analgetika behandelt. Da keine zufriedenstellende Linderung der Beschwerden herbeigeführt werden kann, wird er neun Tage nach der ersten Aufnahme im Krankenhaus operiert.
Der Patient klagt heute über weitreichende Lähmungserscheinungen der unteren Extremitäten und depressive Verstimmungen. Das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz spricht dem Patienten wegen eines zu spät operierten Bandscheibenvorfalls 384.000 € (Schmerzensgeld und Schadenersatz) zu. Dem behandelnden Arzt wird ein grober Behandlungsfehler vorgeworfen, da er den Kläger nicht unmittelbar nach seiner Ankunft in der Klinik operierte. Die Koblenzer Richter betonen, dass ein chirurgischer Eingriff dringend geboten sei, wenn bei einem Bandscheibenvorfall – wie im vorliegenden Fall – das diagnostizierte klinische Bild auf einen massiven und bei einer Behandlung ohne Operation möglicherweise irreversiblen Schaden hindeute [1].
Nach falsch (oder nicht) durchgeführten Therapien sind Diagnosefehler die zweithäufigste Ursache für Behandlungsschäden. Als Diagnosefehler gelten z.B. die Verzögerung der Diagnosestellung oder die Nicht-¬Durchführung des geeigneten und indizierten Untersuchungsverfahrens, ebenso die Anwendung veralteter, nicht indizierter Diagnosemethoden oder die wegen fehlender Kompetenz unzureichende Interpretation von Untersuchungsergebnissen. Ein Diagnosefehler liegt vor, wenn ein Arzt ein eindeutiges Krankheitsbild infolge Unachtsamkeit oder mangels ausreichender Erfahrung verkennt, wenn elementare Kontrollbefunde nicht erhoben werden oder wenn eine vorläufige Diagnose während der weiteren notwendigen Behandlung und Untersuchung nicht überprüft wird [2].
Eine Auswertung der Schadenfalldatei der Ecclesia Versicherungsdienst GmbH aus 2009 zeigt, dass von allen Ursachen für Behandlungsschäden 22 % auf
- eine falsch gestellte Diagnose,
- eine nicht oder zu spät eingeleitete Diagnostik oder
- eine Nichterhebung erforderlicher Befunde
zurückgehen. Weitere Ursachen sind die falsch durchgeführte Therapie (32,5 %) und die falsche Therapiewahl (6 %).
Häufig sind organisatorische Mängel Ursachen für Diagnosefehler. Hierzu zählen vor allem die unzureichende Kommunikation innerhalb des therapeutischen Teams, die Nichthinzuziehung kollegialer Expertisen sowie Dokumentationsmängel.
Einige typische Diagnosefehler werden im Folgenden beispielhaft dargestellt:
- Eine Patientin stellt sich mit starken Schmerzen im linken Unterschenkel und im linken Fuß im Krankenhaus vor. Als Ursache ihrer Beschwerden wird ein Gichtanfall diagnostiziert. Mit einem Salbenverband wird die Patientin entlassen. Aufgrund anhaltender Beschwerden begibt sie sich zu ihrem Hausarzt, der eine Bein-Venen-Thrombose diagnostiziert. Ein Diagnosefehler des behandelnden Krankenhauses wird bestätigt.
- Eine Oberschenkelfraktur wird nicht sachgerecht therapiert, da trotz zweimaliger Untersuchung lediglich eine Bänderdehnung diagnostiziert wird. Dadurch ist die spätere operative Versorgung erschwert und die Heilung verzögert. Obgleich die Diagnostik aufgrund von Kommunikationsproblemen zwischen Arzt und Patient (Behinderung des Patienten) erschwert war, wird der Diagnosefehler bestätigt.
- Bei einer Schnittverletzung am Gelenk der linken Hand wird während der chirurgischen Erstversorgung die Durchtrennung des Medianusnervs übersehen. Ein Diagnosefehler wird bestätigt.
- Ein Patient wird nach einem Sturz in eine Glastür wegen mehrerer Schnittverletzungen behandelt. Im Rahmen der Diagnostik wird eine Nervverletzung übersehen. Laut Gutachter hat sich der behandelnde Arzt keine ausreichende Übersicht über die Wundtiefe verschafft, sodass die inkomplette Verletzung des N. medianus und inkorporierte Glaskörper nicht erkannt wurden.
- Ein Patient stirbt an den Folgen einer Aortenaneurysmaruptur, nachdem in der Patientenaufnahme trotz erheblicher abdomineller Beschwerden keine hinreichenden diagnostischen Maßnahmen erfolgt sind. Eine umfassende Primärdiagnostik, eine Differentialdiagnostik und eine frühere OP hätten laut Gutachter die Überlebenschancen erhöht.
Ein Blick in die Schadendatenstatistiken zeigt ein heterogenes Ursachenprofil. Um den Hauptursachen für Diagnosefehler bzw. Diagnoseirrtümer auf den Grund zu gehen, muss zunächst einmal die Situation in Notaufnahmen berücksichtigt werden. Patienten stellen sich mit unterschiedlich ausgeprägten Symptomen, Befunden und Risikofaktoren dem Arzt in der Notfallaufnahme vor und dieser muss unter Zeitdruck diagnostizieren und meist mit eingeschränkten Möglichkeiten, eine Zweitmeinung hinzuzuziehen.
Die klinische Entscheidung, ob ein Patient stationär aufgenommen wird oder nicht, wird laut Wachter von einer Vielzahl individueller Faktoren beeinflusst, etwa durch unzureichende Ausbildung, mangelnde Erfahrung oder persönliche und berufliche Präferenzen, durch herabgesetztes Denkvermögen aufgrund von Überlastung und Erschöpfung oder auch durch persönliche Risikobereitschaft [3]. Der Autor sieht einen der ersten und wichtigsten Schritte zur Vermeidung diagnostischer Fehler darin, die Denkweise von Ärzten bei der Diagnosestellung zu verstehen, um diese im Sinne eines Präventionskonzeptes mit adäquaten kognitiven Instrumenten und auch IT-technischen Hilfsmitteln zu unterstützen. Diagnosefehler entstehen mitunter durch das Fällen eines vorschnellen Urteils, das dann, auch wenn es abweichende Hinweise gibt, verteidigt wird.
Wachter klassifiziert fünf Ursachengruppen von kognitiven Fehlsteuerungen bei der Entstehung von Diagnosefehlern (s. Tab.):
Tabelle 1: Ursachengruppen von kognitiven Fehlsteuerungen bei der Entstehung von Diagnosefehlern (Auszug aus [3], S. 72)
Problematik | Kompensation | |
Verfügbarkeits-heuristik | Vorschnelles Urteil anhand der Erfahrung mit ähnlichen Fällen | Verifizierung der Ergebnisse anhand von Statistiken und/oder Einholung einer zweiten Meinung |
Ankereffekt | Sich zu sehr auf den ersten Eindruck verlassen | Fall überdenken, wenn neue Befunde vorhanden sind und/oder zweite Meinung einholen |
Framing-Effekt | Art und Weise der Präsentation ist zu dominierend | Fall aus anderer Perspektive betrachten |
Blinder Gehorsam | Kritiklosigkeit in Bezug auf Autoritäten oder Technologien | In Abwesenheit der Autoritäten noch einmal richtig nachdenken |
Vorzeitiges Festlegen | Engstirniges Glauben an eine einzige Idee | Nochmaliges Durchdenken des Falles nach Erholungspause (wenn dies der Klinikalltag erlaubt) |
Obwohl es in den vergangenen Jahren zahlreiche Innovationen in den Bereichen der Labordiagnostik, der bildgebenden Verfahren sowie der Operationstechnologie gegeben hat, treten nach wie vor Diagnosefehler auf, sowohl im Notfallversorgungsbereich als auch – wenngleich weitaus seltener – bei der elektiven Patientenversorgung. Aus der Perspektive des klinischen Risikomanagements haben sich folgende Präventionsmaßnahmen bewährt:
- Verfügbarkeit eines Mindeststandards an diagnostischen Maßnahmen auch außerhalb der Kernarbeitszeiten, d.h. am späten Nachmittag, in der Nacht und an den Wochenenden
- Gewährleistung und Inanspruchnahme des erfahrenen Facharztes im Sinne eines Vier-Augen-Prinzips
- Vorhaltung und Inanspruchnahme von fachabteilungsübergreifenden Hinzuziehungsregeln für Ärzte anderer medizinischer Fachabteilungen
- Selbstkritische Berücksichtigung der oben dargestellten kognitiven Ursachen für Diagnosefehler durch den behandelnden Arzt
- Erfassung und Auswertung von Diagnosefehlern und -irrtümern im Rahmen von CIRS-Analysen und M&M-Konferenzen
Zur Vermeidung von Diagnosefehlern bzw. Diagnoseirrtümern sind in erster Linie eine gute und praxisorientierte ärztliche Ausbildung und die Verfügbarkeit medizinischer Diagnostikinstrumente nötig, ebenso wie ein adäquater zeitlicher und personeller Rahmen für eine Diagnostik. Vor allem an Letzerem mangelt es allzu oft.
Literatur:
[1] OLG Koblenz Az.: 5 U 55/09 (29.10.2009) GesR 2010,199
[2] Bergmann, K.O.; Kienzle, H. (1996). Krankenhaushaftung, Deutsche Krankenhaus Verlagsgesellschaft, Düsseldorf
[3] Wachter, R., Focus Patientensicherheit, dt. Übersetzung 2010 (Hrsg. Koppenberg J., Gausmann P., Henniger M.), ABW-Verlag Berlin
Autor des Artikels
Dr. Peter Gausmann
GeschäftsführerGRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbHEcclesiastraße 1-432758Detmold kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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