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Das akute Abdomen beschreibt ein lebensgefährliches Zustandsbild mit besonderer Dringlichkeit für diagnostische und therapeutische Maßnahmen.

Vier potenziell fatale Diagnosen, die einem akuten Abdomen zugrunde liegen können:

  • Herzinfarkt
  • Aortenaneurysma
  • Mesenterialischämie
  • ektope Schwangerschaft, Tubenruptur

Wie fatal sich eine verzögerte Diagnosestellung in Kombination mit organisatorischen Mängeln auswirken kann, verdeutlicht folgender Schadenfall, der in einer Belegklinik passierte.

Eine schwangere Patientin verspürt in den Morgenstunden heftigste Bauchbeschwerden, weshalb sie die Praxis ihres Frauenarztes aufsucht. Dieser führt eine gynäkologische Untersuchung durch. Er findet keinen auffälligen organischen Befund, vermerkt jedoch, dass die Patientin kurz und flach atmet und seit den frühen Morgenstunden unter heftigsten Dauerschmerzen leidet, ausgehend vom Epigastrium und sodann den gesamten Oberbauch und Bauchraum erfassend.

Der Blutdruck wird mit 100/70 mmHg normwertig notiert. Der Puls ist mit 96 spm erhöht. Bei „unauffälligem gynäkologischen Befund“ wird ein kurzes CTG von 9,5 Minuten geschrieben. Danach wird die Patientin unter der Verdachtsdiagnose eines chirurgischen Leidens (Magendurchbruch?) mit dem Krankentransport aus der Praxis in die gynäkologische Belegabteilung des Krankenhauses verlegt. Der behandelnde Arzt ist dort einer der belegenden Frauenärzte. Die stationäre Aufnahme erfolgt um 9.43 Uhr durch eine Ärztin im Praktikum, die über den Belegarzt angestellt ist. Im Lauf der nächsten drei Stunden werden mehrere CTGs geschrieben, die nach Auffassung der Gutachter kontrollbedürftig sind, ohne dass eine akute Notsituation des ungeborenen Kindes allein aus diesen Unterlagen abzuleiten ist.

Um 11.00 Uhr erfolgt in der chirurgischen Ambulanz die konsiliarische Vorstellung der Patientin. Dort wird sonographisch freie Flüssigkeit im Abdomen nachgewiesen und der Verdacht auf eine Uterusruptur erhoben. Aufgrund dessen wird um 11.15 Uhr mit dem gynäkologischen Belegarzt telefoniert, der weiterhin eine gynäkologische Problematik ausschließt und telefonisch die Verlegung in die Chirurgie anordnet.

Die Chirurgen ziehen einen internistischen Kollegen hinzu, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet der Sonographie verfügt. Auch dieser kommt zu der Verdachtsdiagnose Uterusruptur. Erneut schließt der Gynäkologe eine gynäkologische Problematik aus.

Infolgedessen wird eine Probelaparotomie angeordnet. Diese kann jedoch nicht sofort stattfinden, da alle OP-Plätze belegt sind. Aufgrund des Ausschlusses einer gynäkologischen Problematik stuft man das akute Abdomen nicht als Notfall ein und beschließt, die Probelaparotomie im Anschluss an die laufenden Operationen durchzuführen.

Intraoperativ bestätigt sich die Verdachtsdiagnose – eine 10 cm lange Uterusruptur. Aus dieser Ruptur wölbt sich die intakte Fruchtblase hervor. Ganz offensichtlich handelt es sich um eine protrahierte, zunächst still verlaufende Ruptur mit allmählichem Blutverlust. Die Fruchtblase wird geöffnet und ein 1.600 g schweres, schlaffes, gräuliches Kind wird aus dem Mutterleib geholt.

Der Geburtszeitpunkt ist in der Akte mit 14.27 Uhr vermerkt. Gegen 14.35 Uhr erfolgt die weitere Versorgung des Kindes durch das neonatologische Team eines anderen Krankenhauses. Das Kind überlebt mit dauerhaften hirnorganischen Schäden.

Einige Ursachen und Begleitumstände dieses Falles sollen näher beleuchtet werden.

Fallstricke bei der Diagnosefindung

Ein Arzt (in diesem Fall der Gynäkologe) trifft ein vorschnelles Urteil (Abdominalschmerz ist nicht gynäkologisch begründet) und verteidigt dieses energisch, obwohl im weiteren Verlauf gegensätzliche Hinweise und Befunde (Sonographie) auftauchen, die einen anderen Schluss (Uterusruptur) nahelegen. Eine Verifizierung der Aussage durch Hinzuziehung eines anderen Gynäkologen wird nicht veranlasst.

Die Fallstricke, in die jeder Einzelne bei der Diagnosefindung geraten kann, sind kognitiv erklärbar. Die Psychologie hat dazu Erkenntnisse beigesteuert und Phänomene wie „Ankereffekt“ und „Framing-Effekt“ beschrieben, d. h. Menschen lassen sich in ihren Entscheidungen stark vom ersten Eindruck leiten und von souverän/dominant vorgetragenen Aussagen beeinflussen. Kritiklosigkeit in Bezug auf Autoritäten oder Technologien können ebenso eine Rolle spielen, wie Vorerfahrungen mit scheinbar ähnlichen Fällen.

Dringlichkeit/Triage

Im geschilderten Casus wurde die Dringlichkeit einer chirurgischen Intervention nicht erkannt bzw. bei der Anmeldung des operativen Eingriffs nicht unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. In vielen Notaufnahmen werden die eintreffenden Patienten unmittelbar nach ihrem Eintreffen anhand der Leitsymptome einer Dringlichkeitsstufe zugeordnet, die alle weiteren Handlungen leitet. Günstig ist es, wenn diese Einstufung durch ein farbiges Symbol (bspw. farbiges Patientenarmband) allen Beteiligten verdeutlicht wird. Ein Ampelsystem mit den Farben Rot, Gelb und Grün ist fast selbsterklärend. Durch eindeutige Sprachregelungen (schriftlich fixiert) lässt sich die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen reduzieren. In Verbindung mit Diagnostik- und Behandlungsleitlinien lassen sich Prozesse durch solche Regelungen beschleunigen. In der Geburtshilfe ist beispielsweise durch die Festlegung von Sectio-Dringlichkeitsstufen und Alarmierungskaskaden ein positiver Einfluss auf die E-E-Zeiten (Zeitraum bis zur Entwicklung des Kindes) belegt.

Allerdings wird dieser positive Effekt durch Verzögerungen in der Befundbeurteilung nicht selten relativiert. Auch im vorliegenden Fall wurden die Fachdisziplinen nacheinander und nicht gemeinsam tätig, eine gemeinsame Sichtung der Befunde fand nicht statt. Dieses Vorgehen ist noch immer in vielen Notaufnahmen üblich und bedarf einer Neuorientierung. Es muss der Grundsatz gelten: Bei Patienten mit der Verdachtsdiagnose „akutes Abdomen“ erfolgt die sofortige und gleichzeitige Hinzuziehung aller relevanten Fachdisziplinen (operativ/konservativ/anästhesiologisch) in Form von erfahrenen Ärzten.

Von der Diagnose zur Therapie:

Hierbei ist das Handeln der Ärzte auch im Kontext des jeweiligen Arbeitsumfeldes zu betrachten, in diesem Fall ein Belegarztsystem. Hegt ein konsiliarisch hinzugezogener Kollege Zweifel an der fachlichen Entscheidung des primär behandelnden Arztes, ist die Einflussnahme auf das weitere Geschehen begrenzt. Gerade in Belegkliniken sind Vernetzung und interprofessionelle Zusammenarbeit nicht gerade Charakteristika und für Notfallsituationen fehlen meist konkrete Absprachen.

Fazit:

Eines der Hauptkriterien für qualitativ hochwertige Entscheidungen, die Ärzte meist unter Zeitdruck und Stress zu treffen haben, ist die Entwicklung von Fähigkeiten, mit denen die üblichen Denkfehler und Fallstricke überwunden werden können. Wenn es gelingt, ein Klima zu schaffen, in dem sich jeder traut, Bedenken laut zu formulieren, wäre das ein großer Gewinn. Ärzte sollten ihre Kollegen ermuntern, auch Aussagen von Autoritäten „taktvoll“ in Frage zu stellen und zu überprüfen. Das „menschliche Versagen“ von einzelnen Ärzten darf den Blick für die Systemfaktoren nicht trüben. Nach einem schwerwiegenden Vorfall sind in der Regel auch gravierende organisatorische Änderungen erforderlich, die von den Organisationsverantwortlichen unmissverständlich eingefordert werden sollten. Unter Moderation sind solche Änderungen leichter zu entwickeln.

Literatur:

J. Bach, H.-P. Bruch, J. Heber, J. Jähne (Hrsg.): Behandlungsfehler und Haftpflicht in der Viszeralchirurgie. Kapitel Akutes Abdomen: S. Kersting und H.-D. Saeger . Springer Medizin Verlag Heidelberg 2011.

Rober M. Wachter: Fokus Patientensicherheit. ABW Wissenschaftsverlag GmbH 2011

Siering M. Safety Clip: Akutes Abdomen – Casus einer fatalen Fehldiagnose. Passion Chirurgie. 2011 Dezember; 1(12): Artikel 03_03.

Autor des Artikels

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Mechthild Siering

Dipl. Kauffrau (Pflegemanagement), Fachkrankenschwester und Risiko-BeraterinGRB-Gesellschaft für Risiko-Beratung mbHKlingenbergstr. 432758Detmold kontaktieren

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