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Warum Erfahrung nur unter bestimmten Bedingungen die Expertise erhöht und die Performanz verbessert

Viele glauben, dass mehr Erfahrung zu besserer Leistung und Expertise führt. Dass dies in dieser Form nicht zutreffen kann, zeigt schon die Alltagsbeobachtung. Viele von uns nutzen seit Jahren erfolgreich Smartphones. Wir haben demnach viel Erfahrung mit diesen Geräten und wir sind in der Lage, unsere Ziele mit ihrer Hilfe zu verwirklichen. Heißt das, dass unsere Leistung im Umgang mit diesen Geräten gut ist? Nicht unbedingt. Dass wir unsere Ziele erreichen, bedeutet nicht, dass wir dies effektiv und effizient tun. Ein Blick auf meine Studenten zeigt mir immer wieder, dass es noch besser geht. Und was ist mit Expertise? Selbst meine technophilen Studierenden sind keine Smartphone-Experten. Offensichtlich reicht es nicht, Erfahrung beim Umgang mit etwas zu haben, selbst wenn das Handeln effektiv und effizient ist. Erfahrung macht uns zu erfahrenen Nutzern und vielleicht zu kompetent Handelnden, aber nicht notwendigerweise zum Experten.

In diesem kurzen Artikel will ich aufzeigen, unter welchen Bedingungen Erfahrung unsere Expertise fördert. Dabei werde ich mich auf die verschiedenen Arten von Erfahrung und Lernen konzentrieren, die für die Entscheidungsfindung im klinischen Bereich relevant sind. Zum Schluss werde ich kurz die Implikationen der Befunde für den Erwerb von Expertise und evidenzbasierte Praxis diskutieren.

Erfahrung – ein zweiseitiges Schwert

Durch die Arbeit mit Patienten erleben Mediziner im Laufe der Jahre eine Vielzahl unterschiedlichster Fälle. Die Spuren, die diese Fälle im Gedächtnis hinterlassen, bilden psychologisch gesprochen die Grundlage dessen, was wir umgangssprachlich Erfahrung nennen [1]. Doch Fall ist nicht gleich Fall. Viele Fälle sind typisch und ähneln denen in Lehrbüchern und Leitlinien besprochenen Fällen, andere sind selten und atypisch. Im Gedächtnis verschmelzen die vielen typischen Fälle zu einem prototypischen. Im Gegensatz dazu bleiben atypische und andere besondere Fälle als Einzelfälle im Gedächtnis haften. Was wird im Gedächtnis abgelegt? Zum einen bleiben die präsentierten Symptome, Risikofaktoren, gestellte Diagnosen, Behandlungen und auch Behandlungsfolgen. Zum anderen sind auch emotionale Auswirkungen auf Behandler und Behandelten Teil der Repräsentation im Gedächtnis. Mit mehr Erfahrung steigt die Anzahl an gesehenen Fällen. So entstehen elaboriertere und differenziertere Prototypen und es werden sogenannte mentale Skripts angelegt, die das Vorgehen in Routinefällen steuern, ohne dass großes Nachdenken erforderlich ist [2]. Ebenso nimmt die Zahl an gesehenen, besonderen und außergewöhnlichen Fällen zu.

Die im Gedächtnis abgelegten Fälle haben einen erheblichen Einfluss auf spätere Diagnosen und Behandlungsentscheidungen. Neue Patienten, die typische Symptome zeigen, werden durch den Vergleich mit den Prototypen sehr schnell diagnostiziert und entsprechenden Behandlungen zugewiesen. Bei seltenen, atypischen Fällen spielen die bereits gesehenen atypischen Fälle eine besondere Rolle [3]. Gleicht der neue Fall einem bereits gesehenen, dann leitet dieser Einzelfall häufig die weiteren Entscheidungen. Damit steigt aber das Risiko für Fehler, da nicht sicher ist, dass der neue Fall wirklich äquivalent zu dem bereits gesehenen ist und die damals gestellte Diagnose und gewählte Behandlung das beste Vorgehen war. Gleicht der neue Fall nicht früheren Fällen, führt dies in der Regel dazu, dass eine tiefergehende Analyse durchgeführt wird. Der Erfolg dieses Vorgehens hängt dann wiederum vom diagnostischen, biologisch-physiologischen und therapeutischen Wissen des Behandlers ab [4]. Ist dieses Wissen defizitär, so kommt es trotz analytischem Vorgehen zu Fehlern.

Sicherheit kann das Risiko für Fehlentscheidungen erhöhen

Da mit der Erfahrung die Zahl der im Gedächtnis gespeicherten, gewöhnlichen und außergewöhnlichen Fälle zunimmt, wird die Zahl der neuen, noch nie zuvor gesehenen Fälle kleiner. Alle neuen Fälle wirken in einem gewissen Maß vertraut. Durch die höhere Familiarität des Gesehenen nimmt die Unsicherheit bei Entscheidungen ab. Dies hat sowohl positive als auch negative Folgen. Der Stress und die Belastung durch die zu treffenden Entscheidungen sinkt, was positiv für die physische und psychische Gesundheit der Entscheider ist. Auch erlaubt die Vertrautheit mit ähnlichen Fällen, schnell Entscheidungen zu treffen. Vertrautheit und die damit verbundene subjektive Sicherheit führen aber auch dazu, dass eigene Entscheidungen seltener in Zweifel gezogen und systematisch überprüft werden. Dies ist bei typischen Fällen unproblematisch, weil die Entscheidungen auf der Grundlage von Prototypen und/oder Skripten in der Regel gut sind. Bei seltenen und untypischen Fällen kann das Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit aber das Risiko für Fehlentscheidungen weiter erhöhen, weil Intuitionen, die auf der Ähnlichkeit zu dem früheren Fall beruhen, in die falsche Richtung führen können.

Durch Erfahrung nimmt nicht nur die Zahl an Fällen im Gedächtnis zu, es werden auch Zusammenhänge zwischen Patientenmerkmalen, Diagnosen, Behandlungsformen und Konsequenzen erlernt und im Gedächtnis gespeichert. Wie funktioniert Lernen psychologisch gesehen? Eine, wenn nicht die wichtigste Form von Lernen ist das Bilden von Assoziationen zwischen Bedingungen (z. B. Merkmalen des Patienten), Entscheidungen (z. B. Diagnosen und Behandlungen) und ihren Folgen [5]. Assoziatives Lernen ist fundamental und setzt nur voraus, dass zwei Elemente mehr oder minder häufig gemeinsam auftreten. Dieser Lernmechanismus funktioniert in allen Lernumgebungen gleich. Daher ist es von der Lernumgebung abhängig, ob die gelernten Zusammenhänge nachfolgend gute Entscheidungen erlauben oder nicht [6]. Eine Lernumgebung, in der es nur in extrem negativen Fällen Rückmeldung zu den Folgen einer Entscheidung gibt, erlaubt nicht den Aufbau von Expertise. Dennoch wird gelernt: Das Fehlen negativer Rückmeldung mit den getroffenen Entscheidungen assoziiert. Dadurch werden diese Entscheidungen (negativ) verstärkt und sie werden vermehrt getroffen. Obwohl aus dem Fehlen einer negativen Rückmeldung nicht folgt, dass die Folgen positiv waren, ist es genau dies, was psychologisch resultiert. Das Problem fehlender Rückmeldung ergibt sich vor allem in der hausärztlichen Praxis.

Fehlende Varianz in der stationären Praxis erschwert das Lernen

In der leitlinienorientierten stationären Praxis ergibt sich ein anderes Lernproblem: Das Problem der fehlenden Varianz. Aufgrund der Vorgaben werden bei bestimmten Fällen mit wenigen Ausnahmen dieselben Entscheidungen getroffen. Unter diesen Bedingungen kann durch Erfahrung nur gelernt werden, was die Folgen dieser einen Entscheidung sind. Selbst wenn diese Folgen meist gut sind, heißt dies nicht, dass eine andere Entscheidung nicht zu besseren Ausgängen geführt hätte. Darüber wird aber nichts gelernt. Vermutlich werden Sie einwenden, dass es die Aufgabe der Forschung ist, die Wirksamkeit verschiedener Behandlungsmethoden im Vorfeld der Leitlinienerstellung zu untersuchen. Sie haben natürlich Recht. Mir geht es aber um einen allgemeineren Punkt: Um zu lernen, welche Option die beste ist, ist es notwendig verschiedene Entscheidungen mehrfach zu treffen und die resultierenden Folgen miteinander zu vergleichen. Nur so ist herauszufinden, welche Entscheidung zu den besseren Konsequenzen führt. Dieses Prinzip gilt sowohl für randomised controlled trials als auch in der Praxis, wenn es beispielsweise darum geht zu lernen, welche Form der Patientenansprache die Genesung am meisten beschleunigt.

Die Interpretation von Konsequenzen ist oft selbstwertdienlich

Ein drittes Problem beim Lernen aufgrund von Erfahrung ist, dass die Konsequenzen einer Entscheidung selten nur auf die getroffene Entscheidung zurückzuführen sind. Stets hat eine Vielzahl bekannter und unbekannter Faktoren einen Einfluss auf den Ausgang. Eine Beispiel hierfür sind Placebo- und Nocebo-Effekte. Diese zeigen, welch starken Einfluss Annahmen und Überzeugungen des Patienten auf das Entstehen und Verschwinden von Symptomen haben. Darum sind Rückmeldungen über die Konsequenzen einer Entscheidung im Einzelfall immer mehrdeutig. Diesen Interpretationsspielraum nutzen wir beim Lernen selbstwertdienlich aus. Wir neigen dazu, Erfolge eher auf unsere Kompetenz und die Qualität unserer Entscheidung zurückzuführen, während Fehlschläge und Misserfolge eher auf das Wirken anderer Faktoren und Personen attribuiert werden [7]. Dies führt dazu, dass bei Erfolg die Assoziation von Entscheidung und erwarteten positiven Folgen steigt, aber nach Misserfolg nicht in gleichem Maße sinkt. Die Folge ist eine Überschätzung der eigenen Kontrolle und eine tendenziell zu positive Erwartungshaltung.

Aus der Erfahrung, dass die eigenen Entscheidungen meist zu guten Folgen führen, und einer hohen subjektiven Sicherheit in Folge langjähriger Vertrautheit mit einem Krankheitsbild, kann es zu überzogener Selbstsicherheit (overconfidence) kommen [8]. In einer Studie [9] wurden beispielsweise Intensivmediziner gebeten, anzugeben, wie sicher sie sich bei ihren Diagnosen waren. Nachträglich wurde die Todesursache bei mehr als 100 Patienten über Autopsie festgestellt. Es stellte sich heraus, dass Ärzte, die angaben, vollkommen sicher zu sein, in 40 % der Fälle falsch lagen. Überzogene Selbstsicherheit trägt dazu bei, dass Entscheidungen nicht hinterfragt werden, wodurch die Gefahr von Fehlern ansteigt.

Zusammenfassend gesagt: Das Lernen aus Erfahrung führt nicht unbedingt dazu, dass Expertise erworben und Entscheidungen verbessert werden. Unter ungünstigen Bedingungen, wie unvollständigen, fehlerhaften und mehrdeutigen Rückmeldungen kann Erfahrung das Risiko für Fehler sogar erhöhen.

Expertise und Evidenzbasierte Praxis

Wie die oben ausgeführten Befunde und Überlegungen zeigen, ist Erfahrung nicht hinreichend für Expertentum. Erfahrung begründet nur dann Expertise, wenn durch sie gelernt werden kann, welche Entscheidungsoption unter welchen Bedingungen zu den besseren Ergebnissen führt. Dies setzt voraus, dass

  • verschiedene Optionen erprobt und
  • ihre Folgen rückgemeldet werden.

Dabei ist es durchaus möglich von den Erfahrungen anderer zu lernen. Die selbst gemachten Erfahrungen haben im konkreten Einzelfall aber einen höheren Einfluss auf Entscheidungen. Dies liegt daran, dass eigene Erfahrungen, insbesondere auch wegen ihrer emotionalen Komponente, im Gedächtnis besser verfügbar sind als Erfahrungen aus dritter Hand. Anders gesagt, ein neuer Fall erinnert uns unmittelbar an eigene Erlebnisse und erst später an Erzählungen von Lehrern, Vorgesetzten und Kollegen. Erfahrungen anderer, die in Form von Empfehlungen oder Regeln weitergegeben werden, haben einen noch geringeren Einfluss. Dies liegt daran, dass wir uns an konkrete Geschichten von Einzelfällen wesentlich besser erinnern können als an abstrakte Regeln [10].

Welche Implikationen ergeben sich? Um sicherzustellen, dass die eigene Lernumgebung den Erwerb von Expertise fördert, sollten Praktiker diese analysieren und ggf. gezielt anhand der oben genannten Kriterien verändern. Des Weiteren gilt es, das Vorgehen bei der sogenannten evidenzbasierten Praxis zu überdenken. Gemäß den vorliegenden Empfehlungen [11] sollen bei der Entscheidung im Einzelfall sowohl Evidenzen aus der Forschung als auch eigene Erfahrungen einbezogen werden. Die Erkenntnisse zu potentiell negativen Folgen erfahrungsbasierter Entscheidungen legen ein differenziertes Vorgehen nahe. Wenn die Erfahrung so war, dass Expertise erworben wurde, sollte diese unbedingt Grundlage der Entscheidung sein; wenn nicht, gilt es die Erfahrung zumindest kritisch zu hinterfragen und sich vermehrt auf Evidenzen zu verlassen. Nur dann werden die Entscheidungen wie von der evidenzbasierten Praxis vorgeschlagen, gewissenhaft und wohlüberlegt getroffen.

Literatur

[1] Norman, G., & Brooks, J. (2007). Non-analytical models of clinical reasoning: the role of experience. Medical Education, 41, 1140–1145.

[2] Schmidt, H.G. & Rikers, R.M. (2007). How expertise develops in medicine: knowledge encapsulation and illness script formation. Medical Education, 41, 1133–1139.

[3] Brooks, L.R., Norman, G.R. & Allen S.W. (1991). Role of specific similarity in a medical diagnostic task. Journal of Experimental Psychology: General, 120, 278–287.

[4] Graber, M.L., Franklin, N. & Gordon, R. (2005). Diagnostic error in internal medicine. Archives of Internal Medicine, 165, 1493–1499.

[5] Domjan, M.P. (2015). The principles of learning and behavior. Stamford: Cengage Learning.

[6] Hogarth, R. (2010). Educating intuition. Chicago: University of Chicago Press.

[7] Weiner, B. (1985). An attributional theory of achievement motivation and emotion. Psychological Review, 92, 548–573.

[8] Berner, E.S. & Graber, M.L. (2008). Overconfidence as a cause of diagnostic error in medicine. The American Journal of Medicine, 121, S2–S23.

[9] Podbregar, M., Voga, G., et al. (2001). Should we confirm our clinical diagnostic certainty by autopsies? Intensive Care Medicine, 27, 1750–1755.

[10] Heath, C. & Heath, D. (2007). Made to stick: Why some ideas survive and others die. New York: Random House.

[11] Sackett, D. (1997). Evidence-based medicine. London: Harcourt Brace Medical.

Hagmeyer, Y. Professionell in die Falle. Passion Chirurgie. 2015 Dezember, 5(12): Artikel 09_03.

Autor des Artikels

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PD Dr. York Hagmayer

Georg-Elias-Müller Institut für PsychologieUniversität GöttingenGosslerstr. 1437073Göttingen kontaktieren

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