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Welcher Studie zur Zukunft der Pflegepersonalsituation man auch glauben mag, allen ist eines gemeinsam: Der Fachkräftemangel in der Pflege wird sich weiter und dramatisch verschärfen. Das trifft die Alten- genauso wie die Krankenpflege. Guter Rat ist teuer, denn der Personalmarkt ist so gut wie leergefegt. Die Personalabteilungen der Krankenhäuser erarbeiten ständig neue Konzepte, um potenzielle Mitarbeiter auf sich aufmerksam zu machen. Kliniken bewerben sich bei Pflegekräften. Sie müssen gute Gehälter zahlen und ein attraktives Arbeitsumfeld bieten.

Als vermeintliche Antwort auf das Pflegekräfteproblem hat die Politik Pflegepersonaluntergrenzen eingeführt. Vorerst für die als pflegesensitiv definierten Bereiche Intensivmedizin, Geriatrie, Unfallchirurgie und Kardiologie gelten seit Beginn des Jahres feste Untergrenzen im Patient-Pflegekraft-Verhältnis. Perspektivisch sollen weitere Bereiche und vor allem Sanktionen bei Verstößen folgen. Postulierte Ziele des Gesetzes sind es, die Pflegequalität zu verbessern und die Mitarbeiter zu entlasten. Aber schon heute, nach einem guten halben Jahr, lässt sich konstatieren: Die Untergrenzen helfen nicht weiter.

Sonderfall Unfallchirurgie

In rund 90 Prozent haben die Krankenhäuser in den ersten drei Monaten seit Inkrafttreten der Regelung die Untergrenzen erfüllt, wie die erste Auswertung zeigt. Besonders hoch ist der Erfüllungsgrad in der sensiblen Intensivmedizin. In der Unfallchirurgie ist er allerdings mit 82,1 Prozent von allen Bereichen am niedrigsten. Das Beispiel Unfallchirurgie zeigt, wie untauglich starre Grenzen für die häufig schwer planbaren Prozesse in Krankenhäusern sind. Denn die Unfallchirurgie hat nicht nur besonders anspruchsvolle Untergrenzen, auch der Arbeitsalltag auf den Stationen ist von einem großen Maß an Unvorhersehbarkeit geprägt. Kaum ein anderer Bereich dürfte so stark von äußeren Faktoren abhängig sein, wie die Unfallchirurgie. Ein größerer Verkehrsunfall, ein plötzlicher Brand oder ein anderes Ereignis, das in großer Zahl Verletzte ins Krankenhaus bringt, und schnell sind die Untergrenzen nicht mehr haltbar. Es wäre ungerecht und inakzeptabel, wenn ein überlebenswichtiger Akutbereich wie die Unfallchirurgie bei großem Patientenandrang künftig mit Sanktionen rechnen müsste. Die Untergrenzen sanktionsfrei zu reißen, soll nach derzeitigen Plänen nur bei expliziten Großlagen – also bei ausgeprägten Katastrophenfällen oder Terroranschlägen – erlaubt sein. Ein Busunglück, ein Hochhausbrand oder ein größerer Arbeitsunfall in einer Fabrik sollen hingegen nicht zu mehr Toleranz bei den Untergrenzen führen. Die DKG fordert hier entsprechende Änderungen, um Krankenhäuser, die ihrer Hilfspflicht nachkommen, nicht noch zu bestrafen.

Ein weiterer Aspekt, der es der Unfallchirurgie in Sachen Personaluntergrenzen schwermacht, ist die Heterogenität der Patienten. Der Sportunfall eines gesunden 20-jährigen verlangt in der Regel deutlich weniger Pflegeaufwand als der Sturz eines 90-jährigen Altenheimbewohners. Während etwa geriatrische Stationen unabhängig von der jeweiligen individuellen Diagnose einen hohen Mindestpflegeaufwand einplanen können, ist das der Unfallchirurgie nicht möglich.

Moderne Personalbemessung erschwert

Der Preis dieser Untergrenzen ist hoch. Die Untergrenzen behindern den ziel- und bedarfsgerechten Personaleinsatz, organisiert von denjenigen, die am besten wissen, wo wie viel Personal gebraucht wird: den Verantwortlichen in den Krankenhäusern vor Ort.

Die starren und bürokratischen Untergrenzen können zudem selbst auf die Häuser negative Auswirkungen haben, die über eine gute Personaldecke verfügen. Denn die Unbeweglichkeit der Untergrenzen verhindert die Entwicklung moderner flexibler Personaleinsatzkonzepte. Gerade vor diesem Hintergrund plädieren wir für eine bedarfsorientierte Form der Personalbemessung. Die Deutsche Krankenhaus Gesellschaft (DKG) erarbeitet derzeit gemeinsam mit der Gewerkschaft ver.di und dem Deutschen Pflegerat ein Personalbemessungsinstrument, das den tatsächlichen Bedarf auf den Stationen bestimmen wird.

Versorgungsverschlechterungen drohen

Und nicht zuletzt haben die Untergrenzen konkrete Auswirkungen auf die Versorgung. So reagieren einige Krankenhäuser mit der Streichung von Betten, um möglichen Sanktionen zu entgehen. Das Dilemma ist komplett, wenn kurzfristig Notfallpatienten auf der Station aufgenommen werden und die Klinik dadurch die Untergrenze reißt. Kommen Sanktionen zutragen, wird das Krankenhaus für die Versorgung hilfebedürftiger Menschen bestraft. Krankenhäuser dürfen und wollen aber keine hilfebedürftigen Patienten abweisen. In der Konsequenz laufen wir Gefahr, dass sich die Versorgungslage verschärft, Wartezeiten auf Operationen und Betten steigen und vor allem ländliche Regionen das Nachsehen haben. Denn dort gestaltet sich die Personalgewinnung noch einmal komplizierter als in attraktiven Großstädten.

Nicht zuletzt sorgen die Untergrenzen für zusätzliche Bürokratie – in einem Bereich, der ohnehin schon völlig von Dokumentationsflut überfrachtet ist. So wurden allein für die Auswertung des ersten Quartals 2019 rund 700.000 Schichten herangezogen. Dabei ist die Überbürokratisierung des Pflegealltags selbst eine der Hauptursachen für die missliche Personallage. Bis zu drei, manchmal sogar vier Stunden, müssen Krankenschwestern und -pfleger für die Bürokratie aufbringen – Zeit, die ihnen für ihre eigentliche Arbeit fehlt. Gelänge es, diese Bürokratiezeit wenigstens zu halbieren, hätten wir das Äquivalent von rund 50.000 Vollzeitpflegekräften mehr zur Verfügung.

Untergrenzen schaffen keine neuen Pflegekräfte

Was bleibt ist das Problem des chronischen Personalmangels in den Krankenhäusern. Nicht weil die Kliniken aus Kostengründen am Personal sparen – spätestens mit der Ausgliederung der Pflegekosten aus den DRGs gibt es dazu keinerlei ökonomischen Anreiz mehr – sondern weil der Arbeitsmarkt leergefegt ist. Vielmehr suchen die Krankenhausbetreiber händeringend nach Personal und überbieten sich mit Angeboten und Marketing-Ideen. Schon heute müssen rund 15.000 Stellen in der Krankenpflege unbesetzt bleiben und trotz verstärkter Ausbildung in den Krankenhäusern wird das Problem mittelfristig durch den demografischen Wandel weiter wachsen. Noch gar nicht kalkuliert sind mögliche Sogeffekte zu Lasten der Krankenhäuser durch Gehaltsanpassungen in der Altenpflege, die dieses Arbeitsfeld für Pflegegeneralisten wieder attraktiver machen könnten.

In der Oktoberausgabe 2019 der PASSION CHIRURGIE wird der BDC zu diesem Thema Stellung beziehen. Zu den Ausgaben: https://www.bdc.de/ausgaben/

Baum G: Pflegepersonaluntergrenzen: Ziel verfehlt. Passion Chirurgie. 2019 September, 9(09): Artikel 05_01.

Kommentar oder doch eher ein Essay zu „Pflegepersonaluntergrenzen: Ziel verfehlt“

Autor des Artikels

Profilbild von Georg Baum

Georg Baum

HauptgeschäftsführerDeutsche Krankenhausgesellschaft (DKG)Wegelystraße 310623Berlin

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