01.09.2022 Orthopädie/Unfallchirurgie
Osteoporose – Silent Killer

CHIRURGIE
Osteoporose – Silent Killer
Definition
Osteoporose ist eine systemische Skeletterkrankung, die durch eine niedrige Knochenmasse und eine verschlechterte Mikroarchitektur des Knochens definiert ist. Folgen sind eine verminderte Knochenqualität sowie ein vermehrtes Auftreten von Frakturen unabhängig von der einwirkenden Energie [1]. Die Abnahme der Knochenqualität im Alter entsteht durch physiologische Umbauvorgänge im Rahmen des normalen Alterungsprozesses. Die Entwicklung zur Osteoporose ist bei Frauen nach der Menopause akzentuiert.
Epidemiologie
Die Osteoporose ist eine Volkskrankheit. Neben den physischen Einschränkungen entstehen durch die Erkrankung Kosten in erheblichem Ausmaß [2]. Die Kosten belaufen sich pro Jahr (2019) in Deutschland auf circa 4 Milliarden Euro. Entsprechend Schätzungen leiden etwa 60 % der Frauen an einer Osteoporose. Die Gesamtprävalenz beträgt etwa 10 %, das bedeutet für Deutschland circa 8 Millionen Betroffene [2].
Folgen der Osteoporose und der assoziierten Frakturen sind wesentliche Einbußen in Bezug auf Lebensführung, Mobilität, Selbstständigkeit, Morbidität und Mortalität [3]. Jede dritte Frau über 50 Jahre und jeder fünfte Mann über 60 Jahre werden im Rahmen der Osteoporose eine Fraktur erleiden. Die Gesamtzahl der Frakturen wird sich in den nächsten Jahren von 3,5 (2010) auf 4,5 Millionen (2050) erhöhen. Diese Steigerung entspricht einem Anstieg um fast 30 %. Pro Jahr erleiden in Deutschland etwa 800.000 Menschen eine Fraktur – die Hälfte davon ist auf eine Osteoporose zurückzuführen [4, 5].
Osteoporoseassoziierte Frakturen verursachen mehr Krankenhaustage als Diabetes mellitus, Myokardinfarkte und Mammakarzinome zusammen [6].
Morbidität und Mortalität
Osteoporoseassoziierte Frakturen führen unmittelbar zu Beeinträchtigungen der Gesundheit, die einen signifikanten Einfluss auf die Mortalität haben. Nach einer proximalen Femurfraktur versterben weiterhin 20 bis 30 % der Patienten innerhalb eines Jahres.
Betrachtet man die „disability adjusted life years” (DALY), kommt man im EU-Raum durch osteoporoseassoziierte Frakturen auf circa 2 Millionen Jahre. Damit haben diese Frakturen einen höheren Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung als die hypertensive Herzkrankheit und die rheumatoide Arthritis. Vergleicht man das Outcome nach osteoporoseassoziierten Frakturen in Bezug auf Morbidität und Mortalität, so hat lediglich ein Bronchialkarzinom einen höheren Einfluss auf diese beiden Parameter [7]. Diese Tatsache ist insbesondere hervorzuheben, da 2007 erstmalig gezeigt werden konnte, dass eine suffiziente Osteoporosetherapie nach proximaler Femurfraktur die Mortalität signifikant senken konnte [8].
Osteoporose und Multimorbidität
In den nächsten Jahren wird die Lebenserwartung der Bevölkerung weiter ansteigen. Hierdurch ist mit einer dramatischen Zunahme der Osteoporose und der Fragilitätsfrakturen zu rechnen. Bei den unter 65-Jährigen sind etwa 50 % multimorbid. Bei den über 85-jährigen Patienten liegt diese Zahl bei 81,5 % [9]. In einer Analyse von Puth et al. zeigte sich, dass etwa 95 % aller Osteoporosepatienten mindestens eine weitere relevante Komorbidität aufweisen [10]. Aus diversen anderen Arbeiten ist bekannt, dass der Erhalt einer guten Mobilität und Fitness positive Effekte auf zahlreiche Erkrankungen ausübt. Diese Parameter sind im Besonderen durch die Osteoporose und osteoporoseassoziierten Frakturen gefährdet.
Behandlungsrealität
Obwohl es in Deutschland circa 8 Millionen Osteoporosepatienten gibt, werden nach Schätzungen lediglich 1,5 Millionen Betroffene der korrekten Diagnostik und nur 1 Million Patienten der leitliniengerechten Therapie zugeführt. Die Prävalenz der Osteoporose ist deutlich höher als bei den meisten anderen Erkrankungen, dennoch haben 80 % der Bevölkerung keine Vorstellung von dieser Erkrankung.
Dieser Befund findet sich ebenfalls durch folgende Tatsache bestätigt: 90 % der Osteoporosepatienten erhalten Analgetika, aber nur 10 % eine leitliniengerechte Therapie. Im Falle einer Therapieeinleitung besteht oft keine gute Compliance. In ungefähr 50 % der Fälle wird die Therapie nach einem Jahr nicht mehr weitergeführt. Dies gilt im Besonderen für die spezifische Therapie im Vergleich zur Basistherapie [2].
Schlussfolgerungen
Die Osteoporose ist eine Erkrankung mit einem hohen Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung und auf die sozioökonomischen Kosten. Noch immer ist die Rate der Sekundär- und Tertiärprophylaxe der Osteoporose zu gering. Deutschland benötigt dringend geförderte Projekte, die genau diese Lücke schließen. International erfolgreiche Projekte wie Fracture Liaison Services (FLS) finden sich in Deutschland nur an sehr ausgewählten Standorten. Mithilfe dieser Versorgungsprogramme könnte die Rate der Osteoporosediagnostik und -therapie signifikant gesteigert werden. Allein schon durch eine Basistherapie (Vitamin D und Calcium) kann ein positiver Effekt auf das Outcome und die Mortalität erzielt werden. Durch spezifische Therapieverfahren (Bisphosphonate, Hormonersatztherapie, Antikörper u. v. m.) haben die Behandler diverse Optionen, eine effektive Therapie mit deutlicher Senkung von Folgefrakturen und damit verbunden der Mortalität zu ermöglichen. Wesentlich hierfür ist die Durchführung der korrekten Diagnostik nach einer Fraktur.
Abb. 1: Anzahl an hüftgelenknahen Oberschenkelfrakturen, die in der Klinik für Unfallchirurgie der MHH behandelt wurden. Bei den Zahlen für 2022 handelt es sich um eine Hochrechnung anhand der bis Juni 2022 behandelten Patienten.
Abb. 2: Patienten älter als 70 Jahre, die in der Klinik für Unfallchirurgie der MHH behandelt wurden
Literatur
[1] DVO Leitlinie Osteoporose
[2] Bartl R, Bartl C (2021): Das Osteoporose Manual. https://doi.org/10.1007/
978-3-662-62528-6_8
[3] Wicklein S, Gosch M (2019): Osteoporose und Multimorbidität. Z Gerontol Geriat 52:433-439
[4] Häussler B, Gothe H, Mangiapane S et al. (2006): Versorgung von Osteoporose-Patienten in Deutschland. Ergebnisse der BoneEVA-Studie. Dtsch Arztebl 103: 2542-2548
[5] Kanis J, McCloskey (2013): European guidance for the diagnosis and management of osteoporosis in postmenopausal women. Osteoporos Int 24:23-57
[6] Hadji P, Klein S, Gothe H et al. (2013): Epidemiologie der Osteoporose. Bone Evaluation Study. Eine Analyse von Krankenhaus-Routinedaten. Dtsch Arztbl 110:52-57
[7] Hernlund E, Svedbom A, Ivergard M et al. (2013): Osteoporosis in the European union: medical management, epidemiology and economic burden. A report prepared in collaboration with the international osteoporosis foundation (IOF) and the European federation of pharmaceutical industry associations (EFPIA). Arch Osteoporos 8:8-136
[8] Lyles KW, Colon-Emeric CS, Magaziner JS et al. (2007): Zoledronic Acid in Reducing Clinical Fracture and Mortality after Hip Fracture. N Engl J Med 357
[9] Salive ME (2013): Multimorbidity in older adults. Epidemiol Rev 35:75-83
[10] Puth M-T, Klaschik M, Schmid M et al. (2018): Prevalence an comorbidity of osteoporosis – a crosssectional analysis of 10,660 adults aged 50 years and older in Germany. BMC Muskuloskelet Disord 19:144
Prof. Dr. med. Stephan Sehmisch
Direktor
Klinik für Unfallchirurgie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30626 Hannover
Swantje Oberthür
Klinik für Unfallchirurgie
Medizinische Hochschule Hannover
Chirurgie
Sehmisch S, Oberthür S: Osteoporose – Silent Killer. Passion Chirurgie. 2022 September; 12(09): Artikel 03_01.
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