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Der medizinische Fortschritt, die Veränderungen der Erwartungen von Patient:innen und die sinkende Zahl an Ärzte:innen fordern die Gefäßchirurgie als hochspezialisiertes Fach in besonderer Weise. Die Demographie gibt vor, dass die vorhandenen Probleme zunehmen werden. Es gibt keine weitreichenden Konzepte, diesen Herausforderungen wirklich gerecht werden zu können. Die Beschreibung des Problems trägt alleine nicht zur Lösung bei, denn es bedarf zeitversetzter, konkreter Lösungsansätze um kurz-, mittel- und langfristig den berechtigten Anforderungen der Patient:innen Rechnung tragen zu können. Wir versuchen hier eine ehrliche Beschreibung der Versorgungssituation und erreichbarer, patientenrelevanter Verbesserungen.

Exklusive Gefäßchirurgie

In Deutschland sind ca. 409.100 Ärzte:innen tätig, ca. 161.400 ambulant, ca. 211.900 stationär und ca. 35.800 außerhalb der klinischen Versorgung. Davon sind weniger als 2.000 Gefäßchirurg:innen. Der Anteil der ambulanten Gefäßchirurg:innen beträgt ca. 0,14 %, stationär ca. 0,69 %! Der Anteil der ambulant tätigen Gefäßchirurg:innen an den Ärzte:innen beträgt damit ca. 0,06 %, im stationären Bereich ca. 0,39 %! [1]. 2020 waren 998 Kolleg:innen mit Facharzt- oder Schwerpunktbezeichnung Gefäßchirurgie ambulant tätig, 353 mit Ermächtigung [2]. Auch wenn es gelingt mittel- und langfristig mehr Anzahl und Qualität zur Verfügung zu stellen, zeigt die absolute Zahl der Kolleg:innen, dass dies alleine nicht reichen wird. Die personelle Exklusivität ist beeindruckend. Doch ist diese Exklusivität wirklich erstrebenswert?

Das Umfeld

Im Umfeld der sektorenübergreifenden Versorgungskonkurrenz sind funktionierende, patientenfreundliche Kooperationsstrukturen aus Angst vor juristischen Komplikationen („Korruption“) aufgelöst und zerschlagen worden. Die Versorgung der Patient:innen hat sich durch den Neuaufbau erheblicher Barrieren, gegen den expliziten, politischen Wunsch, konkret verschlechtert. Damit kein Missverständnis entsteht: Es war unstrittig wichtig und richtig, korrupte Handlungen im Gesundheitswesen auch juristisch als das zu beschreiben was sie waren und klarzustellen, dass z. B. Zuweiserpauschalen dem gesamten Geist und Sinn des gesamtgesellschaftlich finanzierten Gesundheitssystems widersprechen.

Gefäßchirurgie verdient Geld

Aus Sicht des Krankenhausträgers sind zuweisende Gefäßchirurg:innen eine „Cash cow“. Sie weisen lukrativ abrechenbare Patient:innen zu, die mit geringem Personalaufwand zu hohen DRGs abgerechnet werden können. Sie glauben das nicht? Kennen Sie konservative Abteilungen die, obwohl sie kein Personal im Operationssaal binden müssen, mit ähnlich kleinen ärztlichen Teams vergleichbare Stationen belegen Rechnet man die Anzahl der Gefäßchirurg:innen in Bezug zu den CMI Punkten, dann sind wir zumindest eines der goldenen Kälber der Krankenhauslandschaft. Kein Krankenhausbetriebswirt würde es sich sonst leisten, eine der vielen kleineren und kleinen Abteilungen in Deutschland zu betreiben. Kein Krankenhaus wäre bereit die hohen, nahezu regelhaft außertariflichen Gehälter gefäßchirurgischer Oberärzte (die wir den Kolleg:innen ausdrücklich gönnen!) zu bezahlen.

Wie könnten kurzfristig umsetzbare Kooperationen aussehen?

Es gab sehr erfolgreiche, patientenzentrierte, gut gelebte Kooperationsmodelle. Gefäßchirurg:innen können die gesamte Behandlungskette vollständig betreuen. Sie können Patient:innen vollständig ambulant diagnostizieren, die langfristige ambulante Behandlungsart mit abwägen, diese ggf. im Verlauf anpassen, die operative Therapie (ambulant oder stationär) vornehmen, die direkte Nachbehandlung leiten, und die dauerhafte Nachbehandlung gewährleisten. Ein Wunsch, der organisatorisch (wenn es alle wollen) umsetzbar ist.

Abb. 1: Ärzte in Deutschland [1]

Niedergelassene Gefäßchirurg:innen als Akquise-Instrument

Ein Krankenhaus als betriebswirtschaftlich geführtes Unternehmen (leider spielt die volkswirtschaftliche Betrachtung meist keine Rolle) muss, wie jedes andere Unternehmen auch, Ressourcen verwenden, um Geld zu verdienen. Es muss Zeit, Personal und Geld investiert werden, damit geeignete Patient:innen ins Haus gelangen. Es wird nur bezahlt, wenn vor Ort behandeln wird. Es kann dem Krankenhaus nichts Besseres passieren, als eine enge Kooperation mit auswärtigen Gefäßchirurg:innen. Sie sind für das Krankenhaus kostenlos, sie verbrauchen keine Räume, stellen keine Gehaltsansprüche, müssen nicht fortgebildet werden, fordern keine Rücklagenbildung, keine Vertretungsregelungen und keine 24h Dienstbereitschaften. Die Zeit für die Akquise von Patient:innen ist eine kostenlos in Anspruch genommene Leistung auf Chefarztniveau. Niedergelassene Ärzte:innen treffen alle medizinischen Entscheidungen eigenverantwortlich, vollumfänglich und letztinstanzlich. Dementsprechend ist die Leistung der niedergelassenen Kolleg:innen als chefarztähnliches Akquise-Instrument einzuordnen. Leistungen niedergelassener Gefäßchirurg:innen in Kooperationen an Oberarztstrukturen und -gehältern zu orientieren ist, in bewusster Ignoranz der tatsächlich erbrachten Leistungen, politisch bzw. trägerschaftsmotiviert.

Niedergelassene Gefäßchirurg:innen vor dem Eingriff

Für Patient:innen ist die OP-Vorbereitung in Kliniken besonders lästig. Diese dauert häufig immer noch sehr lange. Würden wir ambulant vergleichbar viel Zeit verbrauchen, wären wir alle pleite. Eine Übernahme dieser Tätigkeit könnte den Kliniken erhebliche Kosten ersparen, die rechtssicher in Form einer angemessenen Vergütung an niedergelassene Kolleg:innen weitergegeben werden könnte. Hiermit entstünde eine direkt umsetzbare Verbesserung für die Patient:innen bei konstanten Kosten und gesteigerter Patientenbindung. Wo gibt’s das sonst?

Operierende niedergelassene Gefäßchirurg:innen

Nur bei echten sektorenübergreifenden Kooperationen besteht die Option der kontinuierlichen Behandlung. Niedergelassene Gefäßchirurg:innen, (sofern sie z. B. rechtssicher am Krankenhaus angestellt sind), kennen ihre Patient:innen detailliert. Werden Übergabesituationen vermieden (hier zwischen den Sektoren), werden auch Fehler vermieden. Besteht die Möglichkeit der Operation durch niedergelassene Gefäßchirurg:innen, sollte diese auch, sofern vom Patienten gewünscht, so durchgeführt werden. Es gewährleistet, dass exakt die Therapie durchgeführt wird, die in langen Gesprächen und oft monatelangen abwägenden Prozessen mit Patient:innen sowie ggf. Angehörigen besprochen worden sind. In einem zu Recht detailverliebten Fach wie der Gefäßchirurgie ist dies wichtig, denn die Komplikationen sind im Negativfall erheblich. Es muss ausdrücklich betont werden, dass dies nur für persönlich erbrachte Leistungen gilt. Frühere Auswüchse (z. B. niedergelassener Arzt trinkt Kaffee auf der Station, während die Chirurgen des Hauses operieren), die inhaltlich nichts Anderes waren als verdeckte Zuweiserprämien, sind nicht tolerabel. Sie diskreditieren die guten, an der Versorgungsqualität der Patient:innen orientierten Kooperationen.

Niedergelassene Gefäßchirurg:innen als Qualitätsgarant

Nach der Entlassung garantiert die fehlende Übergabesituation eine konkrete Verbesserung der patientenindividuellen Behandlungsqualität. Es kann und wird eine gelebte Qualitätskontrolle erfolgen. Follow-up-Quoten, wie sie aufgrund der engen persönlichen Patientenbindung in gefäßchirurgischen Praxen Standard sind, sind im Krankenhaus aktuell selbst unter Studienbedingungen und Einberechnung besonderer positiver Studieneffekte (z. B. Hawthorne Effekt) nicht reproduzierbar.

Was ist Kontinuität, Patientenbindung und Qualitätskontrolle wert? Betrachtet man die Diskussionen der letzten Jahre: unbezahlbar. In einem Gesundheitssystem, das seit Jahren versucht Instrumente zu entwickeln, um messbare Qualität zu generieren (und fortgesetzt ungeeignete wie selbst auszufüllende QM-Bögen benutzt), wären alleine die in den Praxen selbstverständlichen Follow-up-Raten unbezahlbar.

Die Bedeutung der Krankenhausabteilung

Brauchen wir dann noch Krankenhausabteilungen? Natürlich! Dies umfänglich darzustellen ist hier nicht Gegenstand und würde den Rahmen weit sprengen. Im Kurzen: Man kann natürlich in intelligenten Kooperationen mit niedergelassenen Ärzte:innen vollständige Versorgungsketten an 365 Tagen 24 Stunden am Tag organisieren. Dies ist aber (neben lokalen Besonderheiten) bestenfalls mittelfristig realistisch möglich. Ob dies unbedingt angestrebt werde sollte, sei dahingestellt. Ein Blick über den Atlantik zeigt deutlich die Limitierung in der ländlichen Fläche (auch in Deutschland leben ca. 70 % der Bevölkerung in Städten unter 100.000 Einwohnern) [3], denn in den USA ist die Versorgungsdichte mit Gefäßchirurg:innen um ein Vielfaches geringer als bei uns. Von anderen lernen, könnte hier heißen, die gleichen Fehler nicht zu wiederholen.

Was sind die Grenzen?

Die Grenze aller Kooperation stellt die persönliche Behandlungskompetenz der Gefäßchirurg:innen dar. Wer nicht persönlich gewährleisten kann seine Patienten auf der Intensivstation nachzubetreuen, sollte entsprechende Eingriffe nicht durchführen. Wer komplexe Eingriffe nicht beherrscht und nicht in ausreichender Frequenz durchgeführt hat, sollte diese Eingriffe auch in Kooperationen nicht durchführen. Das gilt selbstverständlich für die niedergelassenen Kolleg:innen sowie für die an Kliniken angestellten in gleicher Weise.

Wie soll die Verteilung sein?

Schaut man sich die Qualitätsberichte der Krankenhäuser an, so leben die Abteilungen überwiegend von peripherer arterieller Chirurgie. Hier wird auch in Zukunft die größte Gruppe von Patient:innen zu erwarten sein. Die nötigen strukturellen Voraussetzungen für eine Gefäßchirurgie multimorbider Patient:innen mit komplexen Pathologien vorzuhalten sollte die Domäne der stationären Gefäßchirurgie sein und bleiben. Varizenchirurgie, Shuntchirurgie, periphere Angioplastien sollten entweder adäquat gegenfinanziert vollständig ambulant, oder in anzustrebenden Kooperationsformen ambulant/teilstationär erfolgen. Diese sollten örtlich konzentriert gefördert werden.

Durchlässigkeit

Genauso offen wie aus der Niederlassung in die Klinik muss die Möglichkeit der Tätigkeit aus der Klinik in die Niederlassung ermöglicht werden, denn auch hier ergeben sich Chancen zukunftsfähige Arbeitsumfelder zu schaffen. Es gilt also fachliche Grenzen zu akzeptieren, aber jedwede organisatorische, die Patientenbehandlung verschlechternde Grenzen, abzubauen!

Vergütung

Alle bisher überwiegend diskutierten Vergütungsmodelle (EBM, DRG, etc.) haben viele Mütter und Väter, aber die Qualität der Versorgung von Patient:innen ist nicht dabei. Wir müssen uns von den interessengesteuerten Vergütungsdiskussionen trennen, und endlich damit beginnen die Leistung an den Patient:innen zu vergüten, und das sektorenunabhängig anhand der Qualität. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn eine nicht operative Therapie für den Patienten besser ist.

Die Sorgen der Juristen

Es ist sicherlich nicht unsere Aufgabe juristische Spitzfindigkeiten im Detail zu kommentieren. Hier nur so viel: In der Championsleague verdient man mehr als in der Regionalliga. Ein überzogener Vergleich, aber einer, der die Thematik gut erklärt. Niedergelassene Gefäßchirurg:innen, deren Praxen vielleicht schon Jahrzehnte vor Ort sind, sind lokal bekannte Personen. Wenn eine Praxis z. B. um den Faktor zehn mehr Patient:innen im Jahr ambulant betreut als eine ganze Krankenhausabteilung im Jahr behandelt, dann hat dies einen benennbaren Wert. Langjähriges Vertrauen und persönlicher Bekanntheitsgrad sind werterhöhende Größen. Auch die besondere Leistung der kontinuierlichen persönlichen Behandlung ist ein besonderer Wert.

Abbildung 2: Oberarztnachfolge [4]

Langfristige Optionen

Die Gefäßchirurgie ist ein Fach am Scheideweg. Die Ambulantisierung wird fortschreiten, ob wir wollen oder nicht. Es ist nicht hilfreich, wenn immer mehr kleine Klinikabteilungen entstehen, in denen nicht selten zu wenig Gefäßchirurg:innen arbeiten, um einen gewünschten Ablauf bei hoher angestrebter Qualität auch wirklich 24/7 gewährleisten zu können. Der resultierende Kampf um den Nachwuchs wird härter, trotzdem sind Oberarztnachfolgen nur schwer zu besetzen [4]. Die jungen Kolleg:innen werden dabei schlimmstenfalls in fachliche Anforderungen gezwängt, die ihrem Ausbildungsstand nicht entsprechen. Das Ergebnis der chirurgischen Ausbildung an den Universitäten (der Anteil der Medizinstudierenden, die eine chirurgische Disziplin als Berufswahl ergreifen wollen, ist vor dem praktischen Jahr größer als danach – wir vertreiben die jungen Ärzte aktiv aus der Chirurgie!) ist langfristig nicht zu überschätzen [5, 6, 7]. Burnout, Depression, Selbstmord sind Themen die Gefäßchirurg:innen betreffen und es bleibt inständig zu hoffen, dass wir hier nicht wie so oft den amerikanischen Verhältnissen nur ein paar Jahre hinterher sind (die in den USA am zweithäufigsten betroffene Gruppe, der sich selbst tötenden Ärzte sind die Gefäßchirurgen).

Abbildung 3: Präferenz (auch) für Chirurgie [5]

Unsere Chance

Das Fach hat ein ungeheures Potential. Die Gefäßchirurgie als sektorenübergreifende präventive, häufig bestenfalls konservative, wenn nötig invasiv therapierende und langfristig patientenbezogen begleitende Medizin bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, wirklich gute Medizin zu betreiben. Eine solche Medizin ist nicht ohne niedergelassene Kolleg:innen möglich.

Es gilt aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, die Lehren anderer Länder miteinzubeziehen und eine Idee von dem zu entwickeln, wie das Potential gerade der jungen Kolleginnen und Kollegen und der folgenden Generationen von Gefäßchirurg:innen viel besser als heute genutzt werden kann. Es ist die Aufgabe für diese Generationen behandelnder Ärzte:innen Rechtssicherheit, kooperative Arbeitsstile, kooperative Strukturen und zukunftsfähige Modelle zu entwickeln. Wir, die wir heute in eigener Verantwortung oder in Leitungspositionen tätig sind, haben die Chance in hohem Maße davon zu profitieren. Nicht mehr als behandelnde Ärzte, sondern als Patienten.

Literatur

[1]   https://www.bundesaerztekammer.de/ueber-uns/aerztestatistik/gesamtzahl-der-aerzte, Zugriff 01.12.2021 und eigene Darstellung, Informationen auf Anfrage bei den Ärztekammern und KVen
[2]   https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/16398.php, Zugriff 01.11.2021
[3]   https://www.bfw-newsroom.de/deutsche-grossstaedte-2020-nicht-mehr-gewachsen/, Zugriff 05.11.2021
[4]   Martin, Wolfgang; Arbeitsmarkt Ärzte: Sorge um den Oberarztnachwuchs Dtsch Arztebl 2019; 116(31-32): [2]
[5]   Medizinstudierende: Sie wissen, was sie wollen. Richter-Kuhlmann; Dtsch Arztebl 2019; 116(7): A-295 / B-243 / C-243
[6]   https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/109474/Medizinstudierende-stellen-Zertifikat-Faires-PJ-vor, Zugriff 01.11.2021
[7]   https://www.bdc.de/strukturierte-grundvoraussetzungen-fuer-das-praktische-jahr/, Zugriff 01.11.2021

Korrespondierender Autor:

Dr. med. Sven Gregor

Kölner Landstr 135

40591 Düsseldorf

[email protected]

Dr. med. Kerstin Schick

St. Bonifatius-Str. 5

81541 München

Dr. med. Christiana Müller

Neutor 28-32

46325 Borken

Dr. med. Siamak Pourhassan

Zur Post 4-6

46145 Oberhausen

Priv. Doz. Dr. med. Thomas Noppeney

Krankenhaus Martha-Maria Nürnberg

Stadenstraße 58

90491 Nürnberg

Dr. med. Jürgen Pleye

Pottkamp 17

48149 Münster

Chirurgie

Gregor S, Schick K, Müller C, Pourhassan S, Noppeney T, Pleye J: Niedergelassene Gefäßchirurgie, eine Chance für die Zukunft? Passion Chirurgie. 2022 Januar/Februar; 12(01/02): Artikel 03_04.

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