01.02.2025 Viszeralchirurgie
Neue Trends der Ventral- und Narbenhernienchirurgie aus dem Herniamed Register

Die primären (Nabelhernien, epigastrische Hernien) und sekundären (Narbenhernien) Ventralhernienoperationen zählen zu den häufigsten Eingriffen in der Allgemein- und Viszeralchirurgie [1]. Aktuell werden in Deutschland ca. 61.000 Nabelhernien, 50.000 Narbenhernien und 11.000 epigastrische Hernien stationär behandelt [2]. Die Inzidenz von Narbenbrüchen liegt drei Jahre nach bauchchirurgischen Operationen bei 22,4 % [3–6]. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen [7]. Ventralhernienoperationen stellen weltweit einen bedeutenden sozioökonomischen Faktor dar: In den USA verursachen ca. 100.000 Narbenbruchoperation pro Jahr Kosten von etwa 7,3 Milliarden US-Dollar [8].
In keinem Bereich der Allgemein- und Viszeralchirurgie hat es in den letzten beiden Jahrzehnten so viele bedeutende Innovationen und dynamische Veränderungen gegeben wie bei Ventral- und Narbenhernieneingriffen, einschließlich der Versorgung der Rektusdiastase [9–16].
Die neuen minimalinvasiven Techniken mit extraperitonealer Kunststoffnetzeinlage und ihre robotischen Varianten und neue Verfahren zur Versorgung sehr großer und komplexer Hernien sind aktuell das führende Thema der Hernienchirurgie. Die vorliegende Arbeit zeigt erste Trends nach dem Herniamed Update im Februar 2022. In diesem Kontext werden Innovationen und wichtige neue Publikationen und Leitlinien diskutiert.
Narbenhernien
Bei Einführung des Herniamed Registers 2009 waren die laparoskopische IPOM-Technik und die offene Sublay Operation nach Rives und Stoppa bei Narbenhernien unangefochten die führenden Verfahren. Während nach offener Sublay Operation ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht [1, 9–12, 17], ist das laparoskopische IPOM-Verfahren mit einem größeren Risiko für intraoperative Organverletzungen, Ausbildung von Adhäsionen und daraus resultierenden Darmaffektionen verbunden [1, 9–14, 17]).
Bedingt durch vielversprechende Publikationen der neuen Techniken [13–16, 18, 19] setzt sich die Überzeugung zunehmend durch, dass Netze nicht in die Bauchhöhle implantiert werden sollten. In den ersten Narbenbruchleitlinien der EHS wird die Sublay-(retromuskulär) Netzposition empfohlen [21]. International hochrangige Publikationen aus dem Herniamed Register erbrachten wichtige Erkenntnisse über die Komplikationsrisiken alter und neuer Operationsverfahren und neue Trends der Narbenhernienchirurgie [3, 14, 22–27]. Bis zum 4.11.2024 wurden über 158.896 Narbenbruchoperationen in das Herniamed Register eingegeben. Es ist weltweit das größte Narbenhernienregister.
Tab. 1: Unterschiedliche Techniken primärer elektiver Narbenbruchoperationen 2010–2019, Herniamed Register (modifiziert nach [3]).
2010 |
2013 |
2019 |
P (2013 vs 2019) |
|
Narbenhernien- Operationen total (n) |
761 |
5034 |
10110 |
|
Lap. IPOM |
202 (26,5 %) |
1704 (33,8 %) |
2119 (21,0 %) |
p < 0.001 |
Open IPOM |
109 (14,4 %) |
602 (12,0 %) |
1092 (10,8 %) |
P = 0.2457 |
Open Onlay |
57 (7,5 %) |
255 (5,1) |
389 (3,8 %) |
p =0.0042 |
Komponenten- separation |
9 (1,2 %) |
96 (1,9 %) |
314 (3,1 %) |
p < 0.001 |
Open Sublay |
253 (33,2 %) |
1618 (32,1 %) |
4188 (41,4 %) |
p < 0.001 |
Nahtverfahren |
88 (11,6 %) |
532 (10,6 %) |
988 (9,8 %) |
P = 0.8974 |
Andere |
43 (5,6 %) |
227 (4,5 %) |
1020 (10,0 %) |
p < 0.001 |
Tabelle 1 zeigt die unterschiedlichen Verfahren primärer elektiver Narbenbruchoperationen 2010–2019, Herniamed Register [3]
Zwischen 2010 und 2019 wurden insgesamt 61.627 Patienten mit primärer elektiver Narbenbruchoperation im Herniamed Register dokumentiert [3].
Die pro Jahr im Herniamed Register dokumentierte Anzahl von Narbenhernien stieg von 761 im Jahr 2010 auf 10.110 im Jahr 2019. Nach dem Herniamed-Update wurden vom 1. Februar 2022 bis 31. März 2024 30.896 Narbenbruchoperationen dokumentiert, was einer jährlichen Rate von ca. 15.000 Narbenhernien entspricht (siehe Tabelle 2). Der Anteil in offener Nahttechnik versorgter Narbenbrüche ist von 10,0 % im Jahr 2019 auf 9,2 % 2024 leicht gesunken. Trotz aller Leitlinienempfehlungen bleibt der Nahtverschluss auf einem hohen Niveau, ein Trend, der sich auch in aktuellen Daten des dänischen und französischen Hernienregisters findet [3,28]. Möglicherweise spielen hier grundsätzliche Bedenken gegen Kunststoffimplantate eine Rolle.
Der Rückgang laparoskopischer IPOM-Operationen hielt weiter an (Tab. 2): aktuell liegt der Anteil nur noch bei 17,8 % (2013: 33,8 %; 2019: 21,0 %). Seit 2019 ist wieder ein leichter Rückgang der offenen Sublay Operationen von 41,4 % auf 39,5 % zu verzeichnen. Seit 2019 ist der Anteil der neuen minimal-invasiven Techniken mit Sublay Netzeinlage (E/MILOS, eTEP und andere) nur leicht von 10,0 % auf 10,8 % gestiegen. Hier führen E/MILOS (5,4 %) vor eTEP (2,4 %) und dem laparoskopischen Sublay Verfahren (2,0 %). Das laparoskopische TAR-Verfahren wird sehr selten angewandt (0,6 %). Ein Grund für den geringen Anstieg könnte sein, dass die neuen Operationsverfahren technisch anspruchsvoll sind.
Tab. 2: Operationsmethoden bei elektiven Narbenhernienreparationen im Herniamed Register; 01.02.2022 – 31.03.2024 n = 30.896 Operationen
Operationsverfahren |
Anzahl OPs |
% |
Laparoskopisch – IPOM |
5.468 |
17.8 |
Offen – IPOM |
2.410 |
7.8 |
Offen – Onlay |
975 |
3.2 |
Komponentenseparation |
905 |
2.9 |
Offen – Sublay |
12.186 |
39.5 |
Offen – direkte Naht |
2.832 |
9.2 |
Laparoskopische extraperitoneale Netzplatzierung |
64 |
0.2 |
Laparoskopisch – Sublay |
603 |
2.0 |
Laparoskopisch – TAR |
187 |
0.6 |
Offen – Präperitoneales Netz |
1.775 |
5.7 |
EMILOS |
461 |
1.6 |
MILOS |
1.189 |
3.8 |
e-TEP |
739 |
2.4 |
TES |
23 |
< 0.1 |
VTEP |
22 |
< 0.1 |
Endoskopisches Onlay |
26 |
< 0.1 |
Sonstige |
1.031 |
3.3 |
Komplikationen, chronische Schmerzen und Rezidive im Herniamed-Register
Bei der Sublay Operation sank die Rate postoperativer chirurgischer Komplikationen signifikant von 11,8 % im Jahr 2013 auf 9,0 % im Jahr 2019 (p = 0,0013). Im gleichen Zeitraum fand sich ein leichter Rückgang der komplikationsbedingten Reoperationsrate von 5,3 % im Jahr 2013 auf 4,5 % [3].
Bei der laparoskopischen IPOM-Operation sanken sowohl die postoperative chirurgische Komplikationsrate als auch die Reoperationsrate von 2013 bis 2019 signifikant von 5,3 % auf 3,0 % (p = 0,0004), bzw. von 2,2 % auf 1,3 % (P = 0,0449) [1, 18–20]. Die allgemeine Narbenhernienrezidivrate ging von 5,6 % im Jahr 2013 signifikant auf 4,7 % im Jahr 2018 (p = 0,0385) zurück. Während die Rate chronischer Schmerzen in Ruhe von 10,5 % 2013 auf 9,5 % 2018 nur leicht zurückging, war die Rate chronischer Schmerzen bei Anstrengung von 19,5 % 2013 auf 16,7 % 2018 signifikant rückläufig (P = 0,0006). Therapiebedürftige Schmerzen lagen unverändert bei 8 % der Patienten vor [3, 22–24].
Propensity-score matching von laparoskopischer IPOM-Operation versus offene Sublay-Technik zur elektiven Versorgung primärer Narbenhernien
Eine 2019 publizierte Propensity Score Matching Analyse der Herniamedregisters verglich die laparoskopische IPOM-Technik mit dem offenen Sublay Verfahren bei elektiven primären Narbenhernien. Unter Verwendung des Propensity Score Matching wurden 3965 (96,5 %) übereinstimmende Paare aus 4110 laparoskopischen IPOM- und 5797 Sublay-Operationen zum Vergleich der Techniken gebildet. [22]. Die Analyse ergab Nachteile für die Sublay-Operation hinsichtlich postoperativer chirurgischer Komplikationen (3,4 % vs. 10,5 %; p < 0,001), komplikationsbedingter Reoperationen (1,5 % vs. 4,7 %; p < 0,001) und postoperativer allgemeiner Komplikationen (2,5 % vs. 3,7 %; P = 0,004). Die Mehrheit der chirurgischen postoperativen Komplikationen waren Infektionen an der Operationsstelle, Serome und Blutungen. Das laparoskopische IPOM hatte Nachteile in Bezug auf intraoperative Komplikationen (2,3 % vs. 1,3 %; p < 0,001), hauptsächlich Blutungen, Darm- und andere Organverletzungen. Es wurden keine signifikanten Unterschiede in den Rezidiv- und Schmerzraten bei 1-Jahres-Follow-up beobachtet. Die Herniamed Propensity Score Matching Analyse bestätigte die Ergebnisse aktueller Leitlinien und Metaanalysen [1, 9–12, 22]: Die laparoskopische IPOM Technik ist gegenüber der offenen Sublay-Technik mit weniger postoperativen chirurgischen Komplikationen, allgemeinen Komplikationen und Reoperationen assoziiert, hat aber Nachteile hinsichtlich der Rate der intraoperativer Komplikationen [1, 9–12, 22].
Negative Einflussfaktoren für das Ergebnis
von Narbenhernienoperationen
Eine Herniamed-Register-basierte multivariable Analyse von 22.895 Patienten mit primärer elektiver Narbenbruchoperation zeigte, dass eine große Defektbreite (EHS Klassifikation W3) und eine offene Operationstechnik hoch signifikant mit postoperativen chirurgischen Komplikationen, allgemeinen Komplikationen und Reoperationen assoziiert sind, während das weibliche Geschlecht und präoperative Schmerzen hoch signifikante Risikofaktoren für chronische Schmerzen nach einem Jahr darstellen. Risikofaktoren für Rezidive sind große Herniendefkte (EHS Klassifikation W3), ein höherer BMI und eine laterale EHS-Klassifizierung [23, 24].
Auch im Langzeit Follow-up weniger Komplikationen nach E/MILOS Narbenbruchoperationen
Eine Herniamed matched pair Analyse (Propensity score matching) mit 1-Jahres-Follow-up von 615 E/MILOS Narbenbruchoperationen der Arbeitsgruppe von Reinpold et al. [14] zeigte im Vergleich mit laparoskopischen IPOM Narbenbruchoperation signifikant weniger postoperative chirurgische Komplikationen (p < 0,001), allgemeinen Komplikationen (p < 0,004), Rezidive (p < 0,001) und weniger chronische Schmerzen (p < 0,001). Die propensity score Paaranalyse mit der offenen Sublay-Operation ergab signifikant weniger postoperative Komplikationen (p < 0,001), Reoperationen (p < 0,001), Infektionen (p = 0,007), allgemeine Komplikationen (p < 0,001), Rezidive (P = 0,017) und weniger chronische Schmerzen (P < 0,001).
Fünf-Jahres-Ergebnisse [18]: Die Follow-up Rate der E/MILOS Operationen betrug 87,5 % (538 von 615 Patienten). Zum Vergleich der E/MILOS- vs laparoskopischer IPOM- Operation und E/MILOS vs. offener Sublay-Operation erfolgte eine Propensity-Score-Matching-Analyse von 448 bzw. 520 Paaren. Im Vergleich zur laparoskopischen IPOM-Operation traten nach der E/MILOS-Reparation signifikant weniger Allgemeinkomplikationen (P = 0,004), weniger Rezidive (P < 0,001), weniger chronische Schmerzen bei Anstrengung (P < 0,001) und weniger therapiebedürftige chronische Schmerzen (P = 0,016) auf. Es fanden sich weniger postoperative Komplikationen (P = 0,052) und weniger chronische Ruheschmerzen (P = 0,053). Die Paaranalyse E/MILOS vs offener Sublay-Operation zeigte signifikant weniger allgemeine Komplikationen (P < 0,001), postoperative Komplikationen (P < 0,001), Rezidive (P = 0,002), weniger chronische Ruheschmerzen (P = 0,004), weniger chronische Schmerzen bei Anstrengung (P < 0,001) und weniger therapiebedürftige chronische Schmerzen, (P = 0,014). Die E/MILOS-Technik ermöglicht eine minimalinvasive Versorgung auch großer und komplexer Narbenhernien (37,4 % W3 Hernien, 29,2 % Rezidivnarbenhernien). Die Rate von Komplikationen, Rezidiven und chronischen Schmerzen ist auch nach fünf Jahren im Vergleich mit den herkömmlichen Techniken signifikant geringer. Die Studie ist weltweit bisher die einzige große Narbenhernienstudie der neuen minimalinvasiven Techniken mit Langzeitergebnissen [14, 18].
STRONGHOLD – eine
Herniamed-basierte Software zur biomechanischen Berechnung von primären und sekundären Ventralhernienoperationen
Zur Verbesserung von Ventralhernienoperationen wurde eine Software zur biomechanischen Berechnung des kritischen Widerstands gegen Krafteinwirkungen auf die Bauchwand (Critical Resistance to Impacts related to Pressure = CRIP) nach Sublay Ventral- und Narbenhernienoperationen entwickelt [28]. Mit der Biomechanical Calculation of Resistance Software (BCR) wird präoperativ die erforderliche Festigkeit (Critical Resistance to Impacts related to Pressure = CRIP) in Abhängigkeit von der Herniengröße bestimmt. Sie unterstützt den Chirurgen dabei, die Widerstandskraft der geplanten Ventralhernienoperation gegen Netzdislokationen und Rezidive zuverlässig zu bestimmen. Eine Herniamed Propensity-Score-Matching-Analyse von 301 Paaren mit BCR-Chirurgie und ohne BCR Analyse versorgter Patienten aus 23.220 Patienten aus dem Herniamed Register zeigte im 1-Jahres-Follow-up signifikant weniger Rezidive (1,7 % vs. 5,2 %, P = 0,0041) und behandlungsbedürftige chronische Schmerzen (4,1 % vs. 12,0 %, P = 0,001) im BCR Kollektiv. Die Autoren folgern, dass biomechanisch berechnete Ventralhernienoperationen die Patientenversorgung verbessern können. Weitere Daten sind hier erforderlich, um diese Ergebnisse zu bestätigen [28].
Narbenbruchoperationen bei Patienten ab 80 Jahren: Ergebnisse aus dem Herniamed-Register
Es wurden 46.040 Patienten eingeschlossen und nach Alter unterteilt. Intraoperative, allgemeine und postoperative Komplikationen sowie Ergebnisse nach 1 Jahr wurden bewertet und zwischen Patienten ab 80 Jahren und jünger verglichen [26].
Patientinnen und Patienten ab 80 Jahren hatten signifikant häufiger intraoperative (2,3 % vs. 1,5 %; p < 0,001), postoperative Komplikationen (8,6 % vs. 7,2 %; P = 0,001), Allgemeinkomplikationen (5,5 % vs. 3,0 %; p < 0,001) und Reoperationen (3,8 % vs. 3,0 %; P = 0,007). Dagegen traten Rezidive (3,6 % vs. 4,5 %; P = 0,007), chronische Schmerzen in Ruhe (7,3 % vs. 10,1 %; p < 0,001), bei Anstrengung (11,3 % vs. 18,3 %; p < 0,001) und behandlungsbedürftige chronische Schmerzen (5,4 % vs. 7,7 %; p < 0,001) in der Altersgruppe ab 80 seltener auf. In der Altersgruppe über 80 ist das perioperative Komplikationsrisiko erhöht, das Rezidiv- und chronische Schmerzrisiko erniedrigt. Eine sorgfältige Prähabilitation und Berücksichtigung der Begleitkrankheiten ist in dieser Altersgruppe besonders wichtig [26].
Komplexe Narbenhernien
Kriterien komplexer Ventral- und Narbenhernien sind: Defektbreite 10 cm und größer, Loss of Domain, Defektverschluss nur mit Komponentenseparation möglich, kontaminierte und infizierte Ventralhernien (CDC Klasse III und IV), deformierte Bauchwand nach multiplen Eingriffen, chronischen Wunde der Bauchwand, z. N. nekrotisierender Fasziitis, Vorhandensein einer enterokutanen Fistel, erhöhter intraabdomineller Druck, Notfalloperation mit Darmresektion, laterale Defektlokalisation, offenes Abdomen, Rezidiv nach Netzoperation oder Komponentenseparation, frühere Infektion der Bauchwand, Entfernung eines intraperitonealen Netzes, Frühere Netzinfektion der Bauchwand, Substanzverluste der Bauchwand nach Trauma, Tumorresektion, Infektion, Radiatio, Komorbiditäten und Risiken für Wundheilungsstörungen: Adipositas WHO >/= 30, COPD, Diabetes mellitus, Alter > 80 Jahre, Steroidtherapie, Immunsuppression, Leberzirrhose, Ascites, Kachexie [1, 9–12, 29].
Sehr große Ventral- und Narbenhernien einschließlich Loss of Domain Hernien
Bei allen Hernien gehört die gründliche klinische Untersuchung und der Ultraschall zur Basisdiagnostik. Bei großen Ventral- und Narbenhernien sollte präoperativ immer ein dynamisches CT oder MRT des Abdomens durchgeführt werden [21]. Die Herniendefektgröße kann in Ruhe und beim Pressen enorme Größenunterschiede aufweisen. Präoperativ ist bei allen Ventral- und Narbenhernien eine Prähabilitation zur bestmöglichen Einstellung von Begleitkrankheiten erforderlich (Gewicht, Diabetes, Nikotinkarenz, COPD, kardiopulmonale Erkrankungen u. a.). Bei Ventralhernien ab einem Querdurchmesser von 10 cm sollte über die vier Wochen präoperative Applikation von Botuliniumtoxin in die laterale Bauchwand beidseits nachgedacht werden. Eine schriftliche Aufklärung über die off label Anwendung von Botulinumtoxin ist unverzichtbar.
Zur Versorgung sehr großer und komplexer Bauchwand- und Narbenhernien sollten ab einer Herniendefektbreite ab 8 cm Breite gemäß EHS Narbenhernienleitlinie [21] alle modernen Techniken der offenen und ggf. laparoendoskopischen Narbenhernienchirurgie vorgehalten werden: insbesondere die offene Sublayoperation nach Rives und Stoppa, der M. transversus abdominis release (TAR). Das intraoperative Faszienzugverfahren (siehe unten) kann in vielen Fällen sehr hilfreich sein. Nicht selten lässt sich durch intraoperativen Faszienzug das TAR Manöver vermeiden.
Intraoperative Faszientraktion (IFT): Chirurgische Technik
Das Fasciotens Hernia System™ dient der Dehnung der Bauchdecke zum primären, spannungsfreien Bauchverschluss [30]. Hierfür wird über eine externe Vorrichtung, die u. a. einen traction controller / resp. eine Federwaage umfasst, ein nach ventral gerichteter Zug an die Bauchwandstrukturen angelegt. Dabei werden nach Rives Stoppa Präparation der Rektusscheiden und Netzaugmentation der hinteren Blätter in gleichmäßigem Abstand von ca. 2 cm handelsübliche chirurgische Fäden in die vorderen Faszienblätter mit einem Abstand zum medialen Faszienrand von 1 cm und einer Stichlänge von 2 cm appliziert. Das Nahtmaterial wird dann in einer speziellen Fadenhalterung des Rahmens befestigt, so dass die Fäden einzeln nachspannbar sind und die kumulativ applizierte Zugkraft am traction controller/der Federwaage ablesbar ist. Mit quantifizierbarer Zugkraft wird die Bauchwand nach ventral gezogen und so ein kontinuierlicher Zug auf die Bauchwand ausgeübt. Der Zug auf die Bauchwand bzw. Faszie wird so lange aufrechterhalten, bis ein für den Verschluss der Faszie ausreichender Längengewinn (Streckengewinn) der (lateralen) Bauchwand bzw. eine ausreichende Volumenvergrößerung der Bauchhöhle erreicht ist. Der Zug kann sowohl vertikal als auch diagonal-vertikal ausgerichtet sein. In der vorliegenden Untersuchung wurden alle Patienten mit einem diagonal-vertikalen Zug von 12 kg behandelt. Während der Traktionsdauer wurden die Fäden alle zwei Minuten nachgespannt. Die intraoperativen Messungen des weitesten Faszienabstandes sowie die kontinuierliche Verringerung des Faszienabstandes im Verlauf der Traktionsdauer erfolgen mit einem sterilen Maßband unter Vollrelaxation des Patienten. Nach ca. 30-minütiger Faszientraktion folgt der spannungsarme Verschluss der vorderen Blätter der Rektusscheiden in fortlaufender Mini-Stitch-Technik mittels langsam resorbierbarem Faden der Stärke 0 [30].
Das IFT Verfahren wird im Hamburger Hernien Centrum seit August 2019 eingesetzt [30]. Bislang wurden 143 Operationen durchgeführt. Alle Patienten hatten eine komplexe W3 Narbenhernie. Ein primärer Verschluss konnte in Abhängigkeit zur Subgruppeneinteilung in bis zu 95 % der Fälle erreicht werden, siehe Tabelle 3.
Tab. 3
SG 1: 10 –15 cm |
SG 2: 15 –19 cm |
SG 3: > 19 cm |
|
Closure rate [ %] |
95.6 |
78.7 |
32.4 |
Durch die reine Dehnung der Bauchdecke beim Faszienzug bleibt die laterale Bauchwand intakt und es kommt zu keiner lokalisierbaren Schwächung der Faszien. Mechanistisch ist von der zumindest teilweisen Rekonstitution der kontrahierten lateralen Bauchwandmuskulatur auszugehen, die im Rahmen des chronischen Kontinuitätsverlustes der abdominellen Muskelschlinge entstanden ist.
Die IFT ist in Kombination mit der präoperativen Botulinumtoxin A (BTA) Injektion in die laterale Bauchwand ein neuartiges aber bereits klinisch bewährtes Instrument im Werkzeugkasten des Chirurgen. Sie kann in vielen Fällen eine einfachere und weniger invasive Alternative zu anderen verfügbaren Techniken darstellen (s. o.), sollte aber nicht als alleinige Methode zur Behandlung komplexer W3-Hernien angesehen werden [30].
Nabelhernien
Vom 01.02.2022 – 31.03.2024 wurden 43.021 elektive Nabelbruchoperationen im Herniamed Register dokumentiert. Trotz EHS Leitlinie für Nabelhernien, die eine netzbasierte Versorgung bei Defekten ab 1 cm empfehlen, ist der Nahtverschluss mit 50,3 % der häufigste Eingriff. Mit großem Abstand folgen die laparoskopische IPOM Operation (12,1 %), die offene präperitoneale Netzplastik (11,9 %), das offene IPOM Verfahren (8,2 %)und die offen Sublay Operation (8,1 %). Die neuen minimalinvasiven Techniken spielen hier eine untergeordnete Rolle (E/MILOS 1,6 %, eTEP 1,4 %, lapararoskopisches Sublay 0,6 %).
Die Einflussfaktoren auf die elektive Versorgung von Nabelhernien mit Defekten < 2 cm wurden im Rahmen einer multivariablen Herniamedanalyse von 31.965 Patienten 2021 publiziert [27]. Der Anteil der Nahtverfahren war 78,6 % (n = 25.119), offene Netzverfahren 15,2 % (n = 4.853) und der Anteil der laparoskopischen IPOM Operation 6,2 % (n = 1.993). Im Vergleich zur offenen Netzreparation traten nach dem Nahtverschluss hoch signifikant häufiger Rezidive auf (OR = 1,956 [1,463; 2,614]; p < 0,001). Bei Frauen war das Rezidivrisiko signifikant erhöht (OR = 1,644 [1,385; 1,952]; p < 0,001). Nach Nahtverschluss kam es im Vergleich zur offenen Netzreparatur signifikant seltener zu postoperativen Komplikationen (OR = 0,583 [0,484; 0,702]; p < 0,001) und komplikationsbedingten Reoperationen (OR = 0,567 [0,397; 0,810]; p = 0,002). Nach laparoskopischer IPOM war die Rate postoperativer Komplikationen und Reoperationen niedriger, es traten aber häufiger intraoperative Komplikationen, Allgemeinkomplikationen, Rezidive und chronische Schmerzen auf.
Schlussfolgerung: Während die Nahtreparatur einen günstigen Einfluss auf die Raten postoperativer Komplikationen und komplikationsbedingte Reoperationen hat, besteht ein höheres Risiko für Rezidive. Warum Rezidive bei Frauen häufiger auftreten, bleibt unklar. Laparoskopisches IPOM scheint nur bei Fettleibigkeit (BMI ≥ 30) indiziert zu sein [27].
Epigastrische Hernien
Nach dem Update des Herniamed Registers wurden vom 1.2.2022 bis 31.3.2024 7.784 Operationen dokumentiert. Der Nahtverschluss ist mit 35,6 % immer noch die häufigste Technik. Es folgen die laparoskopische IPOM Operation (17,7 %), die offene Sublay Operation (15,6 %) und das offene präperitoneale Netz (10,8 %). Die neuen minimalinvasiven Techniken mit extraperitonealen Netzen wurden in nur 7,5 % der Fälle angewandt. E/MILOS stellt hier mit 4,2 % die größte Gruppe.
Die Herniamed Propensity Score Matching Analyse an 15.925 Patienten und 6.350 Paaren mit 1-Jahres-Follow-up ergab für Frauen ein signifikant höheres Risiko für chronische Schmerzen bei Anstrengung (12,1 % vs. 7,6 %; p < 0,001) im Vergleich zu Männern. Der gleiche Effekt wurde für chronische Schmerzen in Ruhe (6,2 % Frauen vs. 4,1 % Männer; p < 0,001) und behandlungsbedürftige chronische Schmerzen (4,6 % bei weiblichen Patienten vs. 3,1 % bei männlichen Patienten; p < 0,001) gezeigt [25]. Alle anderen Outcome-Parameter zeigten keinen signifikanten Unterschied zwischen den Geschlechtern. Diese Ergebnisse bestätigen die Ergebnisse früherer Studien bei Leisten-, Nabel- und Narbenbruchoperationen [23].
Operationstechniken bei Rektusdiastase ± Bauchwandhernien im Herniamed Register
Vom 01.02.2022 bis 31.03.2024 wurden 7.179 Operationen im Herniamed Register dokumentiert. Die Anzahl der Operationen und deren jeweiliger prozentualer Anteil sind Tabelle 4 zu entnehmen.
Tab. 4: Operationsprinzipien bei Rektusdiastase ± Bauchwandhernien im Herniamed Register (1.2.2022 bis 31.3.2024; n = 7.179)
Operationsprinzip |
Anzahl OPs |
% |
Nur Rekonstruktion der Linea Alba durch direkte Naht |
187 |
2.6 |
Operationsmethoden mit Abdominoplastik |
366 |
5.1 |
Offene Techniken |
2.200 |
30.6 |
Mini-less-open und endoskopische Sublay-Techniken |
3.489 |
48.6 |
Mini-less-open und endoskopische subcutane/präaporeutische Techniken |
185 |
2.6 |
Laparoskopische Techniken |
752 |
10.5 |
Die Mini-less-open und endoskopische Sublay Techniken stellen mit 3.489 (48,6 %) das häufigste Operationsprinzip dar. Die häufigste minimalinvasive Sublay Technik zur Operation von Rektusdiastase ± Bauchwandhernien ist das E/MILOS Verfahren. Es erfolgten 1.562 Operationen (44,8 %) in MILOS Technik, 1061 (30,4 %) in EMILOS Technik, 749 (21,5 %) in eTEP Technik und 105 (3,0 %) in Stapling Technik.
Bei der bei Rektusdiastase ± Bauchwandhernien haben die neuen minimalinvasiven Sublay Techniken bereits die Führungsposition erreicht: Die häufigste Operationstechnik ist das E/MILOS Verfahren mit 2.623 (36,5 %) Operationen. Die neuen minimalinvasiven Techniken mit extraperitonealer (Sublay und Onlay) Kunststoffnetzeinlage ermöglichen im Vergleich zur laparoskopischen IPOM Operation und den offenen Techniken eine schonendere und kosmetisch ansprechendere Versorgung der Rektusdiastase. Hiervon profitieren besonders Frauen mit postpartaler Rektusdiastase ohne ausgeprägte Hautlaxizität.
Diskussion
Das Herniamed Register ermöglicht eine umfassende Analyse der Trends und Entwicklungen der Ventral- und Narbenhernienchirurgie in Deutschland.
Es lassen sich wichtige neue Trends identifizieren: Es ist nicht nur in Deutschland eine zunehmende Skepsis gegenüber Kunststoffnetzen in der Bauchhöhle zu verzeichnen. Die Operationszahlen der laparoskopischen IPOM-Operation sind signifikant rückläufig. Jüngste Publikationen aus Frankreich [21] und den USA [22] bestätigen diesen Trend. Vielversprechende Publikationen der neuen Techniken einschließlich ihrer robotischen Varianten mit teilweise sehr guten Ergebnissen haben gezeigt, dass der minimalinvasen extraperitonealen Netzimplantation wohl die Zukunft gehört. Bislang gibt es aber nur sehr wenige Langzeitergebnisse der neuen Techniken. Die neuen MIC-Verfahren sind technisch anspruchsvoll, haben ihre Lernkurve und sollten spezialisierten Zentren vorbehalten sein. Bei der Versorgung von Rektusdiastasen mit und ohne Ventralhernien sind die neuen MIC-Techniken konkurrenzlos
In Deutschland steht 2025 eine entscheidende und richtungsweisende Änderung der Vergütung von Ventral- und Narbenhernien an. Viele primäre Ventralhernien und möglicherweise auch Narbenhernien sollen dann als Hybrid-DRG vergütet werden.
Aufwendige Ventralhernienoperationen mit großer Kunststoffnetzimplantation sollten spezialisierten Zentren vorbehalten sein. Diese technisch anspruchsvollen Eingriffe bergen unabhängig vom operativen Zugang besonders in den ersten 48 Stunden das Risiko schwerer Komplikationen (z. B. Nachblutungen in ca. 2 % der Fälle) und sollten keinesfalls ambulant und nur in Ausnahmefällen ein-Tages-stationär versorgt werden. Eine adäquate Vergütung einer qualitativ hochwertigen Chirurgie ist bei den Ventralhernien ebenso unverzichtbar wie bei den Leistenhernien.
Fazit
Das 2022 erfolgte Update des Herniamed Registers stellte einen Meilenstein zur weiteren Qualitätsverbesserung der Ventralhernienchirurgie dar. Es ist nun eine wesentlich differenziertere Dokumentation und Analyse etablierter und neuer Techniken der Ventralhernienchirurgie möglich. Es ist von großer Bedeutung, die Zahl der am Herniamed Register teilnehmenden Zentren weiter zu steigern.
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Reinpold W, Niebuhr H, Köckerling F: Neue Trends der Ventral- und Narbenhernienchirurgie aus dem Herniamed Register. Passion Chirurgie. 2025 Januar/Februar; 15(01/02): Artikel 03_04.
Autoren des Artikels

Dr. med. Wolfgang Reinpold
Hamburger HernienzentrumAbteilung für Hernien- und BauchwandchirurgieHelios Mariahilf Klinik kontaktieren
Prof. Dr. med. Henning Niebuhr
BauchwandchirurgieHamburger Hernien CentrumStandort Facharztklinik Hamburg
Prof. Dr. med. Ferdinand Köckerling
ChefarztZentrum für HernienchirurgieVivantes Humboldt-Klinikum kontaktierenWeitere aktuelle Artikel
01.10.2022 Viszeralchirurgie
Neue Therapiekonzepte in der endokrinen Chirurgie am Beispiel des anaplastischen Schilddrüsenkarzinoms
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25.08.2022 Viszeralchirurgie
Zufriedenheit und Arbeits(zeit)gestaltung von Chirurg:innen in Deutschland – wo stehen wir aktuell?
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01.08.2022 BDC|News
Editorial 07/08-2022: UpDate Viszeralchirurgie
In der aktuellen Ausgabe der Passion Chirurgie werden in drei Artikeln die neuesten Entwicklungen bei der Behandlung von Krebserkrankungen des Rektums, der Leber und des Pankreas dargestellt. Neben den operativ-technischen Weiterentwicklungen haben sich vor allem auch die onkologischen Behandlungskonzepte bei den soliden viszeralen Tumoren in den letzten Jahren verändert.
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