01.09.2014 Fachübergreifend
Neoadjuvante Therapiekonzepte und präoperative Ernährungssituation
Erkennung eines metabolischen Risikos
Das krankheitsassoziierte metabolische Risiko kann sehr leicht mit dem “Nutritional Risk Score” erfasst werden. Dieses Screening-Instrument ist auch für chirurgische Patienten in aktuellen Studien validiert worden [1, 2].
In einer großen Kohortenstudie hat sich bei abdominalchirurgischen Patienten eine verminderte Nahrungsaufnahme in der Woche vor der Krankenhausaufnahme auch allein als ein signifikanter Risikoprädiktor gezeigt [3]. Für ältere chirurgische Patienten (>65 Jahre) konnten in einer systematischen Übersicht von 15 Studien aus den Jahren 1998 bis 2008 der Gewichtsverlust und das Serumalbumin als prädiktive Parameter des postoperativen Ergebnisses gefunden werden [4].
Diese Daten sprechen für die praktische Anwendung in der klinischen Praxis [1, 2]:
- Ein Screening auf Mangelernährung (z. B. Nutritional Risk Screening – NRS) bei der stationären Aufnahme oder dem ersten Patientenkontakt
- Die Definition eines krankheitsassoziierten „schweren metabolischen Risikos“ bei chirurgischen Patienten im Falle des Vorliegens eines der folgenden Kriterien:
Gewichtsverlust >10-15 % innerhalb von sechs Monaten |
BMI <18,5 kg/m2 |
SGA Grad C oder NRS >3 |
Serumalbumin <30g/l sofern Ausschluss einer Leber- oder Nierenfunktionsstörung |
- Beobachtung und Dokumentation der oralen Nahrungsaufnahme
- routinemäßige Verlaufskontrolle des Gewichts und des BMI
Indikation zur künstlichen Ernährung
Die allgemeine Indikation zur künstlichen Ernährung in der Chirurgie ist die Prävention und die Behandlung einer krankheitsassoziierten Mangelernährung, wie der Ausgleich eines Ernährungsdefizits vor der Operation und der Erhalt des Ernährungsstatus nach der Operation, insbesondere wenn längere Perioden der Nüchternheit und der schweren Katabolie zu erwarten sind. Morbidität, Krankenhausverweildauer und Letalität sind die wesentlichen Endpunkte für die Evaluation des Nutzens einer Ernährungstherapie im Krankenhaus.
Insgesamt gilt es, nicht erst bis zur Manifestation einer krankheitsassoziierten Mangelernährung zu warten, sondern bei Bestehen eines metabolischen Risikos frühzeitig eine Ernährungstherapie zu beginnen. Orale Trinknahrungen (ONS) und enterale Ernährung (Sondennahrung) wie auch die parenterale Ernährung bieten zusätzlich zur diätetischen Beratung die Möglichkeit im Falle einer unzureichenden oralen Nahrungsaufnahme, eine adäquate Kalorienzufuhr sicher zu stellen.
Ernährungsmedizinisches Vorgehen während einer neoadjuvanten Therapie
Während eine psychoonkologische Betreuung in die Therapie integriert worden ist, wird der ernährungsmedizinischen Verlaufskontrolle, insbesondere wenn Erbrechen und schwere Diarrhoen vermieden werden können, häufig nur wenig Bedeutung zugemessen. Auch beim Fehlen der typischen gastrointestinalen Nebenwirkungen kann allein durch Appetitlosigkeit und Fatigue ein prinzipiell aufhaltbarer schleichender Gewichtsverlust bestehen. Häufig fehlt das „metabolische“ Verständnis für das vorgesehene Operationstrauma nach einer aggressiven Vorbehandlung sowie die damit verbundenen immunologischen Probleme in einem energieabhängigen Heilungsprozess. Zur Vermeidung einer Mangelernährung muss im Rahmen einer Tumorerkrankung während der neoadjuvanten Therapie die Indikation zur oralen/enteralen/parenteralen Supplementierung immer wieder geprüft werden.
Da sehr viele Patienten ihren Energiebedarf durch die normale Ernährung nicht adäquat decken, sollten diese Patienten unabhängig vom Ernährungsstatus bereits während der neoadjuvanten Therapie zur Einnahme oraler Trinknahrung motiviert werden. Mangelernährte Tumorpatienten und solche mit Hochrisiko werden davon besonders profitieren. .
Diätberatung
Während in Deutschland eine Diätberatung, wenn überhaupt, zumeist postoperativ vor der Entlassung oder während der Rehabilitationsbehandlung erfolgt, werden in vielen europäischen Ländern die Diätassistentinnen („Dietitians“) in der Chirurgie bereits sehr früh präoperativ eingebunden. So ist ganz aktuell von einer niederländischen Arbeitsgruppe der Einfluss einer intensiven perioperativen Ernährungstherapie (INS) bei Patienten mit Ösophaguskarzinom über ein Jahr prospektiv untersucht worden [5]. Hierbei wurden 37 Patienten (35 mit neoadjuvanter Therapie) in der Interventionsgruppe mit 28 in den drei Jahren zuvor nach Standard wenn auch mit einem geringeren Anteil neoadjuvant behandelter Patienten verglichen.
Die intensive Ernährungstherapie beinhaltete eine durch eine onkologisch spezialisierte Diätassistentin durchgeführte Beratung mit dem Ziel einer Gewichtserhöhung durch Energieaufnahme von 1.3- bis 1.5-mal dem geschätzten Energiebedarf. Die Patienten wurden zu häufigen Mahlzeiten unter Supplementierung mit Trinknahrung angehalten. Während der neoadjuvanten Phase bestanden ein-zweiwöchentliche telefonische Kontakte zur Frage von Ernährungsproblemen und zur Gewichtskontrolle. Bei inadäquater oraler Gewichtsaufnahme wurde eine ergänzende Sondenernährung begonnen. Während der Operation erhielten die Patienten eine Feinnadelkatheterjejunostomie (FKJ), die während des stationären Aufenthalts und auch nach der Entlassung zur Supplementierung bis zum Erreichen einer energiebedarfsdeckenden oralen Nahrungsaufnahme genutzt wurde. Während der stationären Phase wurden die Patienten zweimal wöchentlich von der Diätassistentin visitiert, nach der Entlassung oder während einer adjuvanten Chemo- oder Radiotherapie alle ein bis zwei Wochen für drei Monate, danach monatlich bei Bedarf ggf. häufiger bis zum Ende des erstem Jahres. Die Patienten der Kontrollgruppe erhielten nicht regelhaft präoperativ noch eine Diätberatung, jedoch bei der ersten stationären Aufnahme. Intraoperativ wurde auch bei diesen Patienten eine FKJ angelegt. Die Betreuung nach der Entlassung erfolgte nicht strukturiert sondern vor allem telefonisch.
In der Interventionsgruppe stieg das Körpergewicht zwischen dem ersten Kontakt und der Operation relativ zur Kontrollgruppe um +4.7+ 1.7 % adjustiert für die möglichen Confounder neodadjuvante Vorbehandlung, ASA Score, Rauchen und Alkohol signifikant an (p=0.009).
Die postoperative Rate schwerer Komplikationen (>IIIb) nach Dindo war signifikant niedriger in der Interventionsgruppe (9/28 = 32 % vs. 22/37= 60 %; p=0.045). Keine Komplikation trat bei 7/28=25 % vs. 3/37=8 %; p=0.037 auf. Sowohl die Länge des Intensivaufenthalts als auch die Krankenhausverweildauer (25 vs. 19.5 Tage) waren signifikant kürzer (p=0.039). Die Krankenhausletalität (3/28=11 % vs. 1/37=3 %) war ohne signifikanten Unterschied. Auch diese Ergebnisse sprechen für eine intensive perioperative ernährungsmedizinische Mitbehandlung gerade bei den großen Tumoroperationen.
Die Indikation zur perkutanen endoskopischen Gastrostomie während einer neoadjuvanten Therapie sollte insbesondere bei geplanter Ösophagusresektion und Magenhochzug äußerst kritisch und nur in Rücksprache mit dem verantwortlichen Chirurgen gestellt werden. Dann ist eine Direktpunktion zur Vermeidung einer Verschleppung von Tumorzellen bei Durchzugstechnik anzustreben. Günstiger ist die Anlage einer FKJ z B. laparoskopisch, die auch bei der Resektion belassen werden kann.
Verlaufskontrolle
Eine Verlaufskontrolle des Ernährungsstatus kann mit der Beobachtung des BMI leicht durchgeführt werden. Jedoch ist der BMI nicht sensitiv für Unterschiede in der Körperzusammensetzung. So kann eine krankheitsassoziierte Flüssigkeitseinlagerung eine Stabilität des Ernährungszustands vorspiegeln, die nicht den Abbau der Körperzellmasse erfasst. Mit der Bioelektrische Impedanz Analyse (BIA) steht eine leicht durchführbare nicht-invasive Methode zur Verfügung, welche auch bei ambulanten Patienten ohne Belastung durchgeführt werden kann. Der intraindividuelle Verlauf kann in einem Drei-Kompartiment-Model (Extrazellulärmasse, Körperzellmasse und Fettmasse) dargestellt und beobachtet werden. Von der Körperimpedanz sind das Verhältnis der Extrazellulärmasse zur Körperzellmasse und der Phasenwinkel einfach verfügbare Werte, welche zuverlässige und valide Informationen über den Zellgehalt des Körpers ermöglichen.
Idealerweise wird die erste Untersuchung bereits nach der Diagnosestellung durchgeführt und im weiteren Verlauf auch perioperativ wiederholt.
Perioperative Ernährung nach neoadjuvanter Therapie
ERAS und Präoperative ernährungsmedizinische Konditionierung
„Enhanced Recovery after Surgery“ (ERAS)-Programme verfolgen multimodal eine Verbesserung der Rehabilitation nach chirurgischen Eingriffen sowie eine Verkürzung des Krankenhausaufenthalts und haben sich vor allem in der kolorektalen Chirurgie, aber auch für andere große abdominale Operationen bewährt. Auch nach neoadjuvanter Vorbehandlung ist ein ERAS Programm anzustreben. Die ernährungsmedizinische Mitbehandlung schließt dies nicht aus.
So muss es bereits präoperativ das Ziel sein, den Patienten auch metabolisch optimal vorzubereiten. Dies gilt besonders für die Phase zwischen dem Ende der neoadjuvanten Therapie und der stationären Aufnahme zur Operation, die häufig hierfür nicht gezielt genutzt wird.
Metabolische Konditionierung
Die präoperative Einnahme eines Glukosedrinks (CHO) bis zu zwei Stunden vor der Operation geht nicht mit dem Risiko einer erhöhten Aspiration einher. Eine aktuelle Metaanalyse von 21 sehr heterogenen Studien mit 1.685 Patienten hat für abdominalchirurgische Patienten nach präoperativer Einnahme eines Glukosedrinks eine signifikant verkürzte Krankenhausverweildauer gezeigt, die hingegen bei orthopädischen Patienten nicht beobachtet werden konnte [6].
Immunologische Konditionierung
Die präoperative Einnahme von immunmodulierenden oralen bilanzierten Diäten, angereichert mit immunmodulierenden Substraten (Arginin, Omega-3-Fettsäuren und Nukleotide) für fünf bis sieben Tage reduziert die postoperative Morbidität und die Länge der Krankenhauverweildauer nach großen abdominellen Tumoreingriffen. Mangelernährte Patienten scheinen davon besonders zu profitieren [2].
Für mangelernährte onkologische Patienten haben auch die American Society of Parenteral and Enteral Nutrition Guidelines (ASPEN) eine starke Empfehlung gegeben. Eine aktuelle Metaanalyse von sechs prospektiven randomisierten kontrollierten Studien mit Einschluss von 628 Patienten mit Operationen von Oesophagus und Magen konnte jedoch keine Konsistenz in den Unterschieden der klinischer Outcome-Parametern bei enteraler Immunonutrition zeigen [7]. Problem ist die Heterogenität der Studien bei Verwendung verschiedener immunmodulierender Nahrungen sowie die nicht einheitliche peri-, prä- und postoperative Applikation. Nach einer weiteren Analyse der verfügbaren Daten ist eine ausschließlich präoperative Gabe beim optimale „Timing“ einer Immunonutrition wieder in der Diskussion [8]. Dennoch dürfte das Konzept einer präoperativen metabolischen und immunologischen Konditionierung in den nächsten Jahren auch durch die Nutrigenomik weiter an Bedeutung gewinnen. Es sind bereits Drinks verfügbar, die zusätzlich zur Glukose mit Glutamin, Antioxidanzien und Grünem-Tee-Extrakt angereichert worden sind und deren Eignung für Patienten mit voraussichtlich ausgeprägter Entzündungsreaktion zu prüfen ist.
Präoperativer Ausgleich eines Kaloriendefizits
Die Vorteile einer präoperativen parenteralen Ernährung für sieben bis 14 Tage sind nur evident bei Patienten mit schwerer Mangelernährung (Gewichtsverlust >10-15 %, Serumalbumin<30g/l, BMI<18.5 kg/m2) vor großen gastrointestinalen Eingriffen [1, 2]. Nur dann ist die Verschiebung einer Operation gerechtfertigt. Jie et al. [9] haben in einer kontrollierten Studie die Indikation zur präoperativen Ernährung nach dem NRS 512 Patienten waren nach dem NRS Risikopatienten (NRS>3). Diese erhielten auf Grund der Erfahrung des Chirurgen ohne Kenntnisse über den NRS enterale oder parenterale Ernährung für sieben Tage präoperativ. Unterschiede der Infektionsrate und der Krankenhausverweildauer wurden bei Patienten mit einem NRS von drei und vier im Fall einer präoperativen Ernährung nicht gefunden. Von 120 Patienten mit einem NRS von mehr als fünf profitierten diejenigen, welche eine präoperative Ernährung erhielten mit signifikant niedrigerer Komplikationsrate (25,6 vs. 50,6 %, p=0,008) und kürzerer Krankenhausverweildauer (13,7±7.9 vs. 17,9±11,3 Tage, p=0,018).
Wenn eine parenterale Ernährung für zehn Tage präoperativ durchgeführt und postoperativ neun Tage fortgeführt wird, ist die Komplikationsrate signifikant um 30 % niedriger mit Tendenz zur Reduktion der Letalität. Durch parenterale Ernährung kann eine Erholung der physiologischen Funktion und des Körpergesamtproteins bereits innerhalb von sieben Tagen erwartet werden. Zu einer weiteren signifikanten Verbesserung kommt es jedoch auch noch in der zweiten Woche. Es empfiehlt sich, die orale oder enterale Supplementierung, wann immer möglich, zu bevorzugen.
Fazit
Der Ernährungsstatus ist ein prognostischer Faktor. Gerade der Tumorpatient mit neoadjuvanter Vorbehandlung sollte frühzeitig präoperativ unter Einsatz von Konditionierungskonzepten ernährungsmedizinisch mitbehandelt werden. Eine supplementierende ggf. künstliche Ernährung ist auch bei Patienten ohne offensichtliche Mangelernährung indiziert, wenn vorhersehbar ist, dass der Patient für eine längere Zeitdauer unfähig sein wird, zu essen oder eine adäquate orale Kalorienmenge zu sich zu nehmen.
Literatur
[1] Dommisch K (2014) Aspekte zur präoperativen Ernährung in der Tumorchirurgie. BDC Online 23.06.14
[2] Weimann A, Breitenstein S, Breuer JP, Gabor SE, Holland-Cunz S, Kemen M, Längle F, Rayes N, Reith B, Rittler P, Schwenk W, Senkal M und das DGEM Steering Committee (2014) Klinische Ernährung in der Chirurgie, S3 Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. (DGEM) in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für klinische Ernährung der Schweiz (GESKES), der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für klinische Ernährung (AKE), der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV), der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) und der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH), Chirurg 85; 320-326
[3] Kuppinger D, Hartl WH, Bertok M, Hoffmann JM, Cederbaum J, Küchenhoff H, Jauch KW, Rittler P (2012) Nutritional screening for risk prediction in patients scheduled for abdominal operations Br J Surg 99:728-737
[4] van Stijn MF, Korkic-Halilovic I, Bakker MS, van der Ploeg T, van Leeuwen PA, Houdijk AP (2013) Preoperative nutrition status and postoperative outcome in elderly general surgery patients: a systematic review. JPEN J Parenter Enteral Nutr 37:37-43.
[5] LIgthart-Melis GC, Weijs PJM, te Boveldt ND, Buskermolen S, Earthman CP, Verheul HMW, de Lange-deKlerk ESM, van Weyenberg SJB, van der Peet DL (2013). Dietician-delivered intensive nutritional support is associated with a decrease in severe postoperative complications after surgery in patients with esophageal cancer. Dis Esophagus 26: 587-593
[6] Awad S, Varadhan KK, Ljungqvist O, Lobo DN (2013) A meta-analysis of randomised controlled trials on preoperative oral carbohydrate treatment in elective surgery. Clin Nutr 32:34-44.
[7] Mabvuure NT, Roman I, Khan OA (2013) Enteral immunonutrition versus standard enteral nutrition for patients undergoing oesophagogastric resection for cancer. Int J Surg 11:122-127.
[8] Osland E, Hossain MB, Khan S, Memon MA (2014) Effect of Timing of Pharmaconutrition (Immunonutrition) Administration on Outcomes of Elective Surgery for Gastrointestinal Malignancies: A Systematic Review and Meta-Analysis. JPEN J Parenter Enteral Nutr. 38: 53-69
[9] Jie B, Jiang ZM, Nolan MT, Zhu SN Kondrup j (2012) Impact of preoperative nutrition support on clinical outcome in abdominal surgical patients atr nutritional risk. Nutrition 2012; 28: 1022-1027
Autor des Artikels
Prof. Dr. Arved Weimann
Klinikum St. Georg gGmbH LeipzigKlinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie mit Abteilung Klinische ErnährungDelitzscher Str. 14104129LeipzigWeitere Artikel zum Thema
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