01.03.2025 Aus-, Weiter- & Fortbildung
Nachwuchsmangel und Geschlechterunterschiede – Wie der Kongress, so das Fach?

Wie der Kongress, so das Fach?
Nachwuchsmangel im ärztlichen Dienst bleibt als Thema ein Dauerbrenner. Im Jahr 2023 waren in Deutschland rund 23 % der Ärztinnen und Ärzte 60 Jahre oder älter. Prognosen besagen, dass bis 2040 zwischen 30.000 bis 50.000 Ärzt:innen in Deutschland fehlen werden (siehe: www.bit.ly/ÄBÄrztestatistik2023). Doch wer ist dieser Nachwuchs? Aktuell sind in Deutschland über 100.000 Studierende im Fach Humanmedizin zugelassen, von denen mehr als zwei Drittel weiblich sind, Tendenz steigend ( siehe: www.bit.ly/GesundheitsdatenKBV).
Zu Beginn des Studiums können sich in der aktuellen Umfrage Berufsmonitoring Medizinstudium immerhin noch rund 35 % der Studierenden vorstellen, später eine chirurgische Weiterbildung zu absolvieren. Nach dem Praktischen Jahr (PJ) fällt dieser Anteil auf 19 % [1]. Erlaubt man den befragten Studierenden nur noch eine mögliche Weiterbildung zur Auswahl, liegt die Chirurgie sogar bei nur noch 8,4 % zum PJ. Sowohl für weibliche als auch männliche Studierenden zählen zu den motivierenden Faktoren, eine spezifische Facharztweiterbildung zu ergreifen, vor allem anderen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (> 90 %). Diese liegt knapp zehn Prozentpunkte vor dem nächst wichtigsten Faktor und unterscheidet sich auch zwischen den Geschlechtern vor allem bezogen auf den Punkt Kinderbetreuung zunehmend weniger (w: 83,6 %, m: 72,3 %).
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zählt auch für die Kolleg:innen in Weiterbildung zu den elementaren Anforderungen an ihren Arbeitsplatz, wird aber ähnlich wie andere wesentliche Faktoren, welche die Rahmenbedingungen unserer Tätigkeit ausmachen, vielerorts nur unzureichend berücksichtigt [2]. In Zusammenschau, ist daher die Herleitung naheliegend, dass die zunehmende Exposition der Studierenden gegenüber der beruflichen Realität in der Chirurgie ein hohes abschreckendes Moment darstellt. Dazu kommt, dass in unserer patriarchalisch geprägten Gesellschaftsstruktur immer noch der Großteil der Care-Arbeit von Frauen und damit auch von Ärztinnen geleistet wird. Daher ist ein geringer Frauenanteil in Fachrichtungen, die sich aufgrund der oftmals bestehenden Rahmenbedingungen nicht für ein familienfreundliches Leben und Arbeiten qualifizieren, nicht verwunderlich.
In chirurgischen Fächern sind nur rund 23 % Ärztinnen tätig, die Frauenquote im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie liegt sogar nur bei 18,6 % [3]. In der akademischen Chirurgie sind Frauen ebenso deutlich unterrepräsentiert, wie regelmäßige Erhebungen des Deutschen Ärztinnenbundes bestätigen. Aufgrund des hohen Frauenanteils im Medizinstudium und des allgemeinen, geschlechtsunabhängigen Mentalitätswandels der Studierenden hin zu mehr Selbstfürsorge und Fokussierung auf private und berufliche Selbstverwirklichung ist ein Umdenken und vor allem ein Überdenken und Anpassen der bestehenden Strukturen dringend erforderlich. Die Gewinnung, Förderung und Bindung von Chirurginnen sowohl in der Klinik als auch in der akademischen Chirurgie sind dabei zentrale Punkte, die dem Nachwuchsmangel entscheidend entgegenwirken können.
Während die Rahmenbedingungen der ärztlichen Tätigkeit zunehmend in den Fokus der Fachpresse und auch der allgemeinen Medien rücken, kommt dem Faktor Wissenschaft und Repräsentanz von Chirurginnen auf Fachkongressen bisher allenfalls eine Nebenrolle zu. Wir wollen daher mit der aktuellen Arbeit die Geschlechterdisparitäten in den Abstract Einreichungen zu einem der größten Medizinkongresse Europas, dem Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie, untersuchen und Trends und Lösungsmöglichkeiten diskutieren.
Methodik
Diese retrospektive Studie analysiert die geschlechtsspezifische Verteilung bei der Abstract Einreichungen für den Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) im Zeitraum von 2015 bis 2024. Die anonymisierten Daten wurden von Intercongress bereitgestellt und umfassen alle Einreichungen innerhalb des Untersuchungszeitraums. Zur Analyse wurden die Daten nach Geschlecht, Rolle bei der Abstract Einreichung (einreichende Person, Autor:in, Co-Autor:in), sowie akademischem Titel (cand. med., Master, Promotion, Habilitation, PhD, Professur, Universitätsprofessur, sonstige, kein Titel angegeben) kategorisiert. Die statistische Auswertung umfasst für diesen Artikel lediglich deskriptive Statistik. Da die Daten anonymisiert und frei von personenbezogenen Informationen sind, war keine zusätzliche ethische Genehmigung erforderlich.
Ergebnisse
Zwischen 2015 und 2024 wurden von insgesamt 82.813 Personen Abstracts beim DKOU eingereicht. Der Frauenteil lag hier insgesamt bei 20 % (16.534). Im Beobachtungszeitraum stieg der Anteil von 16,7 % im Jahr 2014 auf 21,7 % im Jahr 2024 (Abb. 1). Auch die Rolle der Einreichung unterschied sich zwischen den Geschlechtern. Während unter allen Männern 71 % als Co-Autoren und je 15 % als Einreichender oder Präsentierender geführt wurden, waren dies bei den Frauen 63 % als Co-Autorinnen, 18 % als Einreichende und 19 % als Präsentierende.
Abb. 1: Das Flächendiagramm zeigt die Entwicklung des Anteils (y-Achse in %) von Frauen (F, blau) und Männern (M, orange) an den Gesamteinreichungen beim DKOU über die Jahre 2015-2024 (x-Achse in Jahren).
Auch in der Verteilung der Titel der Einreichenden gab es signifikante Unterschiede. Während die Geschlechterverteilung bei Anmeldenden mit cand. med. (w: 44,7 % m: 55,3 %), oder Master Titel (w: 48,6 % m: 51,4 %) nahezu ausgeglichen war, lag diese bei allen anderen Titeln zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts (PhD: 35,3 % vs. 64,7 %; Promotion: 20,7 % vs. 79,3 %; Habilitation: 7,4 % vs. 92,6 %; Professur: 7,6 % vs. 92,4 %; Universitätsprofessur: 5,2 % vs. 94,8 %). Dabei zeigte sich sowohl bei den Einreichenden mit abgeschlossener Habilitation oder Professur, wie auch bei allen Einreichenden ohne Habilitation/Professur eine Zunahme weiblicher Einreichender über den Beobachtungszeitraum (Abb. 2).
Abb. 2: Das Liniendiagramm zeigt die Entwicklung des Anteils (y-Achse in %) von Frauen insgesamt (F insgesamt, blau), Frauen mit abgeschlossener Habilitation oder Professur (F mit PD/Prof, orange) und Frauen ohne abgeschlossene Habilitation oder Professur (ohne mit PD/Prof, grün) an den Gesamteinreichungen in den jeweiligen Kategorien beim DKOU über die Jahre 2015-2024 (x-Achse in Jahren).
Diskussion
Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass Frauen bei den Abstract-Einreichungen für den DKOU deutlich unterrepräsentiert sind. Der Anteil von Frauen liegt hier bei 20 % und entspricht damit in etwa dem Frauenanteil in der klinischen Orthopädie und Unfallchirurgie, der 2022 bei 18,6 % lag [3]. Diese Verteilung ist ein direkter Spiegel des generellen Zustandes in der Chirurgie, wo Frauen trotz ihrer hohen Präsenz im Medizinstudium (über 60 %) deutlich seltener vertreten sind.
Die Gründe hierfür sind in erster Linie struktureller, aber auch kultureller Natur, wie die aktuelle nationale und internationale Literatur zeigt [4–6]: Studien zeigen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie dabei sowohl für Frauen als auch für Männer mitunter der wichtigste Faktor bei der Berufswahl ist [1, 2]. Allgemein aber stellt dieser Punkt für Frauen eine größere Herausforderung dar, da sie in der Gesellschaft weiterhin den Großteil der Care-Arbeit übernehmen, was sich auch bedingt in der Medizin fortzusetzen scheint [7, 8]. Darüber hinaus spielen geschlechtsspezifische Vorurteile, stereotype Vorstellungen und eine wahrgenommene „Ellenbogen-Mentalität“ in der Chirurgie eine entscheidende Rolle [2, 9]. Alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass Frauen sich seltener für eine chirurgische Laufbahn entscheiden. Hinzu kommen die allgemeinen Unzufriedenheitsfaktoren für das Ergreifen eines chirurgischen Faches, wie der hohe Anteil prinzipiell delegierbarer Tätigkeiten im Arbeitsalltag und die vielen Stunden, die nicht direkt für die Patientenversorgung genutzt werden [2].
Auf der anderen Seite gibt es motivierende Faktoren, welche die Wahl einer chirurgischen Karriere fördern können. Der Zugang zu Mentor:innen und gezielte Förderprogramme wurden als entscheidend für den Einstieg und den Verbleib in der Chirurgie identifiziert [10, 11]. Strukturelle Maßnahmen, wie flexible Arbeitszeitmodelle, Kinderbetreuung und weitere Maßnahmen, welche die Rahmenbedingungen zur Berufsausübung verbessern, können ebenfalls helfen, den Beruf für beide Geschlechter attraktiver zu gestalten [2]. Es ist davon auszugehen, dass sich die Verbesserung der Rahmenbedingungen, neben der allgemeinen Attraktivitätssteigerung der Chirurgie, auch in der Steigerung der Attraktivität einer akademischen Karriere und damit letztlich auch den Abstract-Einreichungen beim Kongress, insbesondere auch bei Chirurginnen, auswirken wird. Insbesondere die Förderung und Ermutigung von Chirurginnen hin zu einer klinischen und wissenschaftlichen Karriere durch Mentoring und strukturierte Programme ist hier eine wesentliche Stellschraube zur Attraktivitätssteigerung des Faches, wie auch einer akademischen Karriere [11–14].
Die Ergebnisse unserer Trendanalyse zeigen, dass der Anteil von Frauen an den Einreichungen jährlich langsam um etwa 0,5 % zunimmt. Ob diese Tendenz jedoch tatsächlich die Wirkung gezielter Maßnahmen widerspiegelt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Sie könnte auch auf den allgemeinen Anstieg des Frauenanteils im Medizinstudium zurückzuführen sein. Bei steigendem Bedarf an Nachwuchs-Chirurg:innen, auch im Kontext des hohen Frauenanteils im Medizinstudiums, muss sich die Chirurgie auch um die Gewinnung und Bindung von Frauen bemühen, um letztlich auch in Zukunft eine hohe Versorgungs- und Forschungsqualität gewährleisten zu können. Ein jährlicher Zuwachs von lediglich 0,5 % ist dafür schlichtweg zu wenig. Um die Zukunft der Chirurgie nachhaltig zu sichern, sind sowohl die oben genannten allgemeinen strukturellen Veränderungen als auch gezielte Fördermaßnahmen für Frauen in der akademischen Chirurgie unverzichtbar.
Natürlich ist die im Rahmen dieser Arbeit vorgestellte Analyse letztlich ungenau. Nur anhand der Titel auf den Weiterbildungsstand oder auch nur auf einen ärztlichen Beruf zu schließen kann Ungenauigkeiten nicht ausschließen. So kann es sich zum einen bei den Professuren, Promotionen und insbesondere bei den PhD-Titel-Träger:innen auch um andere naturwissenschaftliche Professionen handeln und damit den Frauenanteil als zu hoch einschätzen. Gleichzeitig ist ein vermeintlich höherer Titel nur ein indirekter Hinweis auf die bisherige Berufsausübungsdauer. Trotzdem kann gerade für die Einreichenden mit Titel cand. med. eine angestrebte Approbation angenommen werden und gleichzeitig für Einreichende mit Habilitation eine gewisse höhere Berufserfahrung, wie in den einzelnen Landeshochschulgesetzen vorgesehen. Alleine die hier bestehenden Differenzen mit nahezu vollständiger Parität beim angehenden chirurgischen Nachwuchs, bis hin zur großen Differenz bei den Professor:innen unterstreichen die Ergebnisse der Arbeit in ihrer grundsätzlichen Tendenz.
Schlussfolgerung
Ob es einer exakten Parität bedarf, bleibt letztlich ein offener Diskussionspunkt. Klar ist aber, dass wir unser Fach für alle Ärzt:innen attraktiver gestalten müssen, wenn wir dem Nachwuchsmangel effektiv begegnen wollen. Der Interessensverlust der Medizinstudierenden an der Chirurgie über den Fortgang des Studiums hinweg spiegelt sich auch in den Einreichungszahlen beim DKOU, wenn man die wissenschaftlichen Titel als Maßstab nimmt. Ist initial das Geschlechterverhältnis der Studierenden bei der Abstract-Einreichung (cand. med.) noch ausgeglichen, so fällt diese bis auf unter 10 % bei den habilitierten Einreichenden. Wenngleich die Verteilung bei den Einreichungen über die vergangenen Jahre einen ausgleichenden Trend aufzeigt, so ist dieser extrem langsam und es würde bei dieser Geschwindigkeit mehr als 50 Jahre dauern, bis eine Parität erreicht ist. Die Umsetzung von Diversitätsstrategien unter gleichzeitiger Verbesserung der Rahmenbedingungen für unsere allgemeine Berufsausübung stellen dabei Maßnahmen dar, die dazu beitragen können, nicht nur eine Geschlechterparität herzustellen, sondern insgesamt die Attraktivität unseres Faches beim Nachwuchs zu steigern. Ziele und Zufriedenheitsfaktoren sind ungeachtet des Geschlechts oftmals sehr ähnlich. Wir können von diesen Maßnahmen alle profitieren.
Weitere detaillierte Auswertungen zur Umfrage werden noch veröffentlicht, wir werden Sie über den Zeitpunkt und die PASSION CHIRURGIE informieren.
Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via passion_chirurgie@bdc.de.
Korrespondierender Autor:
apl. Prof. Dr. med. Benedikt Braun, MBA
Stellv. Leiter Themen-Referat Nachwuchs im BDC
Mitglied im BDC-Themen-Referat Digitalisierung und technische Innovation
Beauftragter für die Nachwuchsförderung in der Gemeinsamen Weiterbildungskommission Chirurgie
Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
Eberhard Karls Universität Tübingen
BG Klinik Tübingen
Vera Bertsch
Assistenzärztin
Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
BG Klinik Tübingen
PD Dr. med. MIPH Mika Rollmann
Stv. Ärztliche Leitung des klinischen Studienzentrums
BG Klinik Tübingen
Prof. Dr. med. Tina Histing
Ärztliche Direktorin
Klinik für Unfall-, Hand-und Wiederherstellungschirurgie
Eberhard Karls Universität Tübingen
BG Klinik Tübingen
Dr. med. Carolina Vogel
Assistenzärztin
Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
BG Klinik Tübingen
Chirurgie
Braun BJ, Bertsch V, Rollmann MF, Histing T, Vogel C: Nachwuchsmangel und Geschlechterunterschiede – Wie der Kongress, so das Fach? Passion Chirurgie. 2025 März; 15(03/QI): Artikel 03_02.
Mehr zum Thema „Nachwuchs und Karrieregestaltung“ lesen Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Aus- und Weiterbildung.
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