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Was haben Superman Christopher Reeve, Ex-Papst Johannes Paul II. und Schriftstellerin Christa Wolf gemein? Mit einer solchen Frage muss man in der dritten mündlichen Prüfung im Medizinstudium nicht ernsthaft rechnen. Was versteht man im Zusammenhang mit der Blutgasanalyse unter der „Anionenlücke“? Auch eher unwahrscheinlich. Und wenn, dann sind solche „Kolibris“ höchstens Kür, niemals Pflicht. Aber: Wie untersuchen Sie einen 35-jährigen rumänischen Wanderarbeiter, der mit Magenschmerzen zu Ihnen kommt? Welche sicheren Frakturzeichen sind Ihnen bekannt? Auf solche Klassiker sollte man vorbereitet sein.

Dazu haben sich 80 Medizinstudentinnen und -studenten am 18. und 19. März 2022 im Essener Haus der Technik eingefunden. Sie haben das M3-Abschlusstraining „Staatsexamen & Karriere“ des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgie (BDC) und des Berufsverbandes Deutscher Internistinnen und Internisten (BDI) gebucht. Vor ihnen liegen zwei Tage mit 16 Stunden Programm, durchgeführt von 13 renommierten Dozentinnen und Dozenten aus allen Teilen Deutschlands, gefüllt mit Vorträgen, Diskussionen und jeder Menge Fallpräsentationen und Übungen. Professor Dr. Andreas Kirschniak, Spezialist für Allgemein- und Viszeralchirurgie, Chefarzt an den Kliniken Maria Hilf in Mönchengladbach, und Dr. Andreas Jerrentrup, Internist und Chefarzt an der Universitätsklinik Marburg, begrüßen die Teilnehmer. Die erwarten sich von den beiden Tagen vor allem mehr Sicherheit, Struktur und Wissen in der Vorbereitung auf das bevorstehende „Hammerexamen“.

Nach den Studienabschnitten Vorklinik und Klinik beendet die mündliche Prüfung den dritten und letzten Teil des Medizinstudiums, das Praktische Jahr. Tipps zu Prüfungsformalien, -strategien und zur mündlichen Präsentation gibt es gleich zu Beginn von Chirurg Professor Dr. Daniel Vallböhmer, Chefarzt am Evangelischen Klinikum Niederrhein, und Chirurgin Dr. Johanna Miller, Assistenzärztin an den Kliniken Maria Hilf in Mönchengladbach. Am Ende einer erfolgreichen Prüfung steht die Approbation. Bis dahin ist es ein steiniger Weg.

„Eine gute Anamnese ist das A&O“

In Essen wird der Ernstfall simuliert: In einem großen Vortragssaal liegt eine Studentin auf einer Liege. Sie spielt die Patientin. Ein Student gibt den Arzt. Von den beiden Prüfern erhält er Vorabinformation zum Fall. Dann muss er seine Patientin vorstellen, die komplette Anamnese durchgehen. Der erste Prüfer, ein Internist, fragt nach dem weiteren Vorgehen. Prüfling: „Jetzt würde ich das Herz näher untersuchen.“ Dann nimmt er sein Stethoskop, hört die Patientin ab, schildert dabei, was er hört. Der zweite Prüfer, ein Chirurg, hätte gerne eine Demonstration: „Die Patientin hatte eine Gallenblasen-OP. Zeigen Sie uns bitte eine situationsgerechte Gallenblasen-Untersuchung des Bauchs.“ Zeitvorgaben und Schwierigkeitsgrad sind ähnlich wie in der echten Prüfung. „Für die Patienten-Untersuchung haben Sie etwa eine Stunde Zeit. So viel Zeit haben Sie später nie wieder. Schließen Sie dabei einen Pakt mit dem Patienten, damit die Prüfung sicher klappt,“ rät Vallböhmer. Und: „Eine gute Anamnese ist das A & O – sie führt in 90 Prozent aller Fälle zum Ziel.“

Den Ablauf der M3-Prüfung regelt die Ärztliche Approbationsordnung. Nach der Prüfung am Krankenbett sieht sie eine mündlich-praktische Prüfung vor. In Essen sieht das so aus: „Was ist der Hauptindikator für eine Pneumonie?“, „Wie untersuchen Sie eine Patientin, der gerade die Schilddrüse entfernt worden ist?“, „Wie klären Sie einen Patienten auf, der vor einer Cholezystekomie steht?“ Auch mit fachfremden Prüfern muss man unter Umständen rechnen: So stellt in Essen die Nephrologin Dr. Evelyn Martin von der Uniklinik Marburg die Prüfungsfragen zu einem kardiologischen Fall.

„Denken Sie laut und denken Sie strukturiert“

Wie ergeht es den „Prüflingen“ in den Simulationen? Den Dozenten sind Rückmeldungen sehr wichtig. Eine Studentin hat noch Lücken im Lernstoff bemerkt, ein Student hatte eher mit der Situation zu kämpfen. „Ganz banale Antworten fallen einem nicht ein!“, „Es ist nicht einfach, in so einer Lage Informationen strukturiert rüberzubringen!“, „Man muss gleichzeitig reden und nachdenken!“, „Musste immer ganz kurzfristig reagieren, keine Zeit zum Ausruhen!“, „Schwer, wenn es nichts Greifbares gibt!“ Anhand der Rückmeldungen geben die Dozenten Tipps, wie man diese Situation am besten handhabt: „Üben Sie, mindestens drei Minuten flüssig zu sprechen und gleichzeitig strukturiert vorzutragen. Sprechen Sie an, was Ihnen durch den Kopf geht, gerade auch, wenn Sie sich unsicher sind. So lange Sie selbst reden, kann Sie keiner was fragen. Und versuchen Sie nach Möglichkeit, von kritischen Themen fließend auf sicheres Terrain überzuleiten.“

Die Prüfungssimulationen werden eingerahmt von fachlichen Vorträgen. In der Rubrik „Untersuchungstechniken“ beschäftigt man sich vornehmlich mit Körperregionen und Fachbereichen, die von größter Prüfungsrelevanz sind: Das sind Herz-Lunge, Abdomen und die Neurologie. Jerrentrup spielt die Atemgeräusche eines gesunden und eines an Pneumonie erkrankten Menschen ein. Vallböhmer gibt den Tipp, bei der Untersuchung des Abdomens immer gleich vorzugehen: Anamnese, Inspektion, Palpation, Auskultation. „Was ist häufig, was ist typisch, gebrauchen Sie vor allem Ihre Augen, wonach sieht es auf den ersten Blick aus?“ Und Neurologe Dr. Christoph Leinert, Oberarzt an der Agaplesion Bethesda Klinik Ulm, verweist darauf, dass man eine beginnende Hirnstammeinklemmung zum Beispiel an einseitig geweiteten Pupillen erkennen kann. Deshalb leuchte der Notarzt oft in die Augen von Unfallopfern, sagt Leinert.

Mittagspause. In den weiten Fluren um den Vortragssaal herum verteilen sich die Studentinnen und Studenten, verdauen nicht nur das Essen, sondern auch das Gehörte oder schalten einfach nur mal ab. Nach einer Stunde geht es schon weiter. Auf der Agenda steht jetzt die klinische Beurteilung von Befunden. Darunter auch häufige Magen- und Darmbefunde. Bei dem rumänischen Wanderarbeiter mit den Magenschmerzen ergibt eine Untersuchung den Hinweis auf okkultes Blut im Stuhl. Das legt den Verdacht auf eine Blutung im oberen Gastrointestinaltrakt nahe. Warum man nun zur weiteren Abklärung in eine Gastroskopie und keine Koloskopie macht, möchte Dr. Philipp Zimmermann, Internist und Assistenzarzt Anästhesiologie am Marienhaus Klinikum in Neustadt/Weinstraße, wissen: Weil es schneller geht, der Patient nicht abgeführt ist und die Blutung eher weiter oben liegt. Die Gastroskopie ergibt ein Ulcus duodeni. Wahrscheinlichste Ursache sind laut Zimmermann mit Helicobacter Pylori entweder ein Bakterium oder mit NSAR eine bestimmte Medikamentengruppe.

„Treat first that kills first“

Der Chirurg Dr. Benedikt Braun ist geschäftsführender Oberarzt an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen. Er entführt die Studentinnen und Studenten nun in seinen Fachbereich. Auch er denkt in Klassikern und Kolibris. Zu den Klassikern in der Chirurgie gehören neben den sicheren Frakturzeichen die AO-Klassifikation, also eine einfache Einordnung von Brüchen, die Garden-Klassifikation für Schenkelhalsfakturen und die „Trauma Big Five“, zu der auch die proximale Humerusfraktur zählt. Eine Sternchenfrage dazu wäre allerdings die nach einer inversen Schulterprothese, genau wie die Frage nach dem Böhler-Winkel im Rahmen der Therapie einer distalen Radiusfraktur. Braun ist im Rahmen der Prüfungsvorbereitung auch für die Lektion zum Schockraummanagement bei Polytrauma zuständig. Nach der Devise „Treat first that kills first!“ gilt es, Patienten zunächst nach der ABCDE-Regel auf gefährdete Vitalparameter zu untersuchen und dann eine strukturierte Anamnese folgen zu lassen.

Den Abschluss des ersten Trainingstags bildet das sogenannte „Clinical Reasoning“: Dabei prüfen sich die Dozenten gegenseitig in verschiedenen Rollen: Einer als Prüfer, der andere als Prüfling. Der „Prüfer“ schildert einen Patientenfall, der „Prüfling“ erfragt weitere Informationen, die er zusätzlich braucht. Dann legt er seine Gedanken offen. Der Fall entwickelt sich nach und nach und nimmt so manche überraschende Wendung. Wie ein Kriminalfall, den man bei einem gegebenen Setting durch Nachfragen selbst lösen muss. Dabei bleiben die Dozenten immer in Kontakt mit dem Auditorium: Wer möchte, kann gerne eigene Ideen und Lösungsansätze zur Diskussion stellen. Gegen 19.30 Uhr ist der erste Trainingstag beendet.

„Untersuchen Sie, wie sie es gewohnt sind, ziehen Sie Ihren Stiefel durch“

Exemplarische Fallstudien sind der Schwerpunkt am zweiten Tag, einem Samstag. Im internistischen Bereich sind Niereninsuffizienz, Brustschmerz, Abgeschlagenheit und Luftnot die Themen. Die Dozentinnen und Dozenten versuchen immer auch, Muster und Schemata an die Hand zu geben zum generellen Ablauf bei bestimmten Indikationen. So gilt beim Thoraxschmerz die Reihenfolge: Ersteinschätzung zu Vitalparametern, Anamnese, körperliche Untersuchung, Bildgebung, Labor, Verdachtsdiagnose, Differenzialdiagnosen, Therapieempfehlung. „Untersuchen Sie immer, wie Sie es gewohnt sind, ziehen Sie einfach Ihren Stiefel durch“, sagt Vallböhmer. Wer ein gewisses Schema, eine Struktur im Kopf hat, kann sicherer agieren und geht in der Prüfung nicht so leicht verloren.

Das lässt sich hervorragend auch im chirurgischen Bereich üben. Kirschniak schildert den Fall einer 76-jährigen Frau, die seit 14 Tagen Schmerzen im Unterbauch hat, keinen Appetit verspürt, nicht einmal Wärmeflasche und Melissengeist helfen. Was ist zu tun? Also: Vitalparameter? Vorerkrankungen, Medikation, letzte Koloskopie? „Wenn Sie das Abdomen untersuchen, muss der Patient immer liegen, untersuchen Sie ihn nie im Stehen!“, warnt Kirschniak. Und: „Kommen Sie dann zu einer Verdachtsdiagnose und schließen Sie Differenzialdiagnosen aus!“ Im Fall ergibt die weitere Diagnostik den Verdacht auf ein Kolonkarzinom. Weniger wahrscheinlich ist eine Colitis Ulcerosa oder Morbus Crohn. Es folgen Staging und Therapiewahl.

Im Anschluss referiert Assistenzärztin Miller über häufige Krankheitsbilder in der Viszeralchirurgie und unterteilt sie nach elektiven/benignen (zum Beispiel Hernien, Schilddrüse, Beckenboden), onkologischen/malignen und Notfällen (unter anderem eingeklemmte Hernien, Passagestörungen oder freie Luft). Gerade die Schilddrüse und ihre Untersuchung sei immer wieder Gegenstand von Prüfungen, so Miller.

„Train The Brain“ – in den letzten Fallpräsentationen der Veranstaltung können nun alle überprüfen, was aus den Übungen hängengeblieben ist und herausfinden, wie flexibel sie mit verschiedenen Patientensettings und Problemkonstellationen umgehen können: So gilt es bei einer 64-jährigen Patientin mit osteoplastischer Trepanation und Aneurysma-Clipping, die Kontroll-Computertomografie des Schädels und das Röntgenbild des Thorax zu begutachten und die weitere Diagnostik vorzuschlagen. Bei einem anderen Patienten mit einer seit längerem andauernden Belastungsdyspnoe ist eine umfassende Anamnese zu erheben, einschließlich Berufs- und Sozialanamnese und Altersabfrage, denn eine Reihe von Erkrankungen sind stark altersabhängig. Und für einen 62-jährigen Patienten mit starken thorakalen Schmerzen bekommen die Prüflinge ein EKG zur Befundung.

„Wie war das damals bei mir selbst?“

Am Ende der Veranstaltung erzählen die Referentinnen und Referenten aus ihrem eigenen beruflichen Leben. Was ist gut gelaufen? Was würden sie heute anders machen? Was war wichtig, was weniger? Die Fragen aus dem Auditorium beziehen sich meist auf die Situation nach bestandener Prüfung.

So möchte eine Studentin wissen, welche Rolle heute Examensnoten für die spätere Bewerbung spielen. Sie erfährt von einer Dozentin, dass Examensnoten zwar wichtig seien, aber eben nicht alles. Wichtig sei auch, was daneben so gelaufen sei, also Tutorien oder Praktika zum Beispiel. Gerade für Unikliniken, die auch in der Forschung aktiv seien, spiele das eine große Rolle. Zwei andere Dozenten verweisen auf die Bedeutung von Angebot und Nachfrage und dass der ärztliche Markt derzeit leer sei und daher gute berufliche Chancen biete.

Ein Student fragt, ob man sich am Anfang eher in einem großen oder kleinen Haus bewerben solle. In einem größeren Haus – so eine Antwort – erhalte man unter Umständen mehr Unterstützung von anderen Ärzten. In einem kleineren Haus sei man in einer Nachtschicht schon mal alleine. Dafür könne man in kleineren Häusern unter Umständen auf eine intensivere Ausbildung setzen, meint eine andere Dozentin. Auf jeden Fall solle man sich jeden Wechsel zwischen einzelnen Häusern gut überlegen, weil man in jedem Haus in gewisser Hinsicht wieder von vorne anfange, so ein weiterer Dozent.

Als die Studentinnen und Studenten dann wie schon zu Beginn nochmals elektronisch abstimmen, dieses Mal zu den Ergebnissen der Veranstaltung, zeigt sich, dass die Erwartungen erfüllt wurden: „Sicherheit“, „Struktur“ und „Überblick“ erscheinen auf der Videoleinwand im Zentrum, viele nennen aber auch „Spaß“ und „Zuversicht“. Es hat sich also gelohnt.

Und was ist nun mit der Kolibri-Frage vom Anfang? Was haben Superman Christopher Reeve, Ex-Papst Johannes Paul II. und Schriftstellerin Christa Wolf gemein? Alle drei sind mit einer Sepsis verstorben. Kann man wissen, muss man aber nicht.

Was aber muss man wissen und was sollte man beherzigen?

  1. Was häufig ist, wird auch häufig abgefragt.
  2. Systematik ist der Schlüssel zum Erfolg.
  3. Prüfungssituationen kann man trainieren.

Viel Erfolg bei der Prüfung!

STAATSEXAMEN & KARRIERE

Der nächste Kongress „Staatsexamen & Karriere“ findet am 16./17.9.2022 in Berlin statt. Hier geht’s zum Programm und zur Anmeldung.

Alle Aktivitäten des BDC im Bereich Nachwuchsförderung.

Ansprechpartnerin beim BDC:
Dr. phil. Natalia Kandinskaja
Nachwuchs & Karriere
Tel.: 030/28004-123
E-Mail: [email protected]

Wannenwetsch H: Die Klassiker, nicht die Kolibris! Passion Chirurgie. 2022 Juli/August; 12(07/08): Artikel 04_03.

Autor des Artikels

Profilbild von

Holger Wannenwetsch

Presse- und ÖffentlichkeitsarbeitBerufsverband der Deutschen Chirurgie e.V. (BDC) kontaktieren

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