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…eine „Neubewertung von Hygienevorgaben angesichts der Klimakrise“ zu unterstützen, mit dieser Bitte trat Dr. Quitterer, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) an die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) sowie den Berufsverband der Deutschen Chirurgie e.V. (BDC) heran. Dies ist einer der ersten Schritte den gleichlautenden Beschluss des 81. Bayerischen Ärztetags [1] im Herbst 2022 umzusetzen.

Die Redaktion „Passion Chirurgie“ las diese Aufforderung und suchte, wer den Antrag federführend anregte und daher weitere Erläuterungen dazu abgeben kann. Die Initiatorin Ursula von Gierke stimmte zu, ein paar Gedanken zu diesem Thema vorzustellen.

Die Errungenschaften der Hygiene sind unstrittig – dies sei bei einer Neubewertung von Hygienevorgaben vorausgeschickt. Eine Neubewertung der praktizierten Vorgaben ist notwendig, um Überregulierungen, Fehlentwicklungen und ein falsches Sicherheitsgefühl zu beenden. Dabei dürfen sinnvolle Hygienemaßnahmen und Klimaschutz auch angesichts der Klimakrise nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Ständige Verbesserungen in Pharmakologie, Anästhesie, Operationstechnik, Impfungen und Hygiene werfen ein strahlendes Licht auf die medizinischen Behandlungsoptionen. Doch dieser Fortschritt [2] hinterlässt auch eine Schattenseite, die bisher nicht ausreichend wahrgenommen, erforscht und beherrscht wird. Es ist eine Art Schmuddelecke aus Unmengen an Abfall von Praxen und vor allem aus Krankenhäusern, die ausgeleuchtet und ausgeräumt werden muss. Abfall ist hässlich, lästig, toxisch bis infektiös, seine Beseitigung aufwändig und teuer. Das allein sind schon genügend Gründe für eine Reduktion. Doch angesichts der Klimakrise gibt es noch weitere, dringende Argumente: Der Verbrauch von Ressourcen wie Energie, Rohstoffe und Wasser ist hoch und bei der Produktion wie auch bei der Vernichtung wird CO2 freigesetzt. Paradox ist, dass unser ärztliches Handeln zwar den einzelnen Kranken hilft, jedoch gleichzeitig und unbeabsichtigt neue Gesundheitsprobleme für alle Menschen hervorruft.

Laut WHO entstanden allein durch die Schutzmaßnahmen während der COVID-19-Pandemie zehntausende von Tonnen Abfall [3]. Das war Extramüll, den alltäglich anfallenden nicht eingerechnet. Bei einer aufwändigen, orthopädischen OP beispielsweise kann dieser bis zu 100 Kilogramm betragen. Einen „Müll-Tsunami“ in deutschen Krankenhäusern nennt dies Prof. Wirtz auf dem Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) [4] in Berlin 2021, der „ökologisch nicht vertretbar ist“.

Noch gibt es keine Blaupause für ein ökologisch vertretbares Konzept, bei dem die Hygienevorgaben die Patientensicherheit wie bisher bestmöglich garantieren. Aber einige spannende Ideen zu medizinischen Abfällen, giftigen Materialien, sichereren Chemikalien, umweltfreundlichem Bauen und Transportwesen, schadstoffärmeren Arzneimitteln, nachhaltiger Materialbeschaffung, klimaschonender Energie- und Wasserversorgung lassen sich bereits finden. Wichtige Denkanstöße zu den Themen geben u. a. Mitteilungen des o. g. DKOU-Kongresses, Vorträge des Helmholtz Instituts [5], „Greenhealthcare“ [6], „KLUG – Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit“ [7] und fundierte Webinare [8] von „Heal without Harm“ [9].

Sofort starten mit drei Punkten

In drei Bereichen kann die Sinn- und Zweckhaftigkeit der bisherigen Hygienevorgaben ohne aufwändige Vorarbeit sofort geprüft werden:

  1. die Verpackung, vor allem von Sterilgut,
  2. die Wiederverwendbarkeit von Materialien, insbesondere der OP-Instrumente und
  3. Vorschriften zur Verwendung unsteriler Einmalhandschuhe.

Weniger Verpackung

Zur Reduktion von Verpackungsmaterial braucht es Mut, Abläufe zu ändern, verstärkte Forschungsprojekte der Fachgesellschaften, Erfahrungen und Kenntnisse der Teams vor Ort. Jeder Schritt muss den örtlichen Bedingungen, ja den speziellen Bedürfnissen der Fachabteilungen, angepasst sein. Als Taktgeber für die Entwicklung sind daher die Abteilungsleitungen gefragt, aber aus ihrer Alltagssituation heraus können alle Beschäftigten mit eigenen Vorschlägen beitragen, überflüssige Verpackungen abzuschaffen. Erste Denkanstöße dazu kann der Blick in den Abfalleimer einer chirurgischen Station und der OP-Räume geben.

Hilfreich – wie bei jedem Veränderungsprozess – ist, dass das Ziel quantitativ bestimmt und qualitativ kontrolliert wird. In Kilogramm oder in Kubikmetern gemessen, spornen „gute“ Zahlen an „noch mehr“ Abfall zu vermeiden. Die Hygienekommission kann mit ihren Argusaugen unerwünschte Änderungen der Keim- und Infektionslast rasch aufspüren und besitzt dank des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) jetzt schon geeignete Surveillance-Methoden.

Weniger Einmalmaterial

Die Frage der Wiederverwendbarkeit von Materialien, insbesondere von OP-Instrumenten, ist hoch komplex. Waren bisher in erster Linie die Zweckmäßigkeit und Kosten bei der Produktauswahl ausschlaggebend, müssen jetzt auch deren schädliche Auswirkungen für Umwelt und Klima mitgerechnet werden. Der Aufwand für Sauberkeit, Hygiene, Sterilisation erfordert gut ausgebildetes, zuverlässiges Personal, das wegen Arbeits- bzw. Fachkräftemangel schwer zu organisieren ist.

Rechtliche Vorgaben wie z. B. wiederaufbereitbare Medizinprodukte verwerfen zu müssen, sind zwar hinterfragbar, jedoch bis zu einer Revision zu beachten. Es wird eng für eine Lösung allein zwischen der Fach- und der Hygieneabteilung, hier werden auch Einkauf und Klinikleitung gefordert. Der Spagat zwischen technischen Ansprüchen, Hygieneerfordernissen, grundlegenden Schutzmaßnahmen, ökologischen Notwendigkeiten und ärztlicher Verantwortung wird anspruchsvoller.

Weniger Einmalhandschuhe

Nicht die (glücklicherweise ausreichend vorhandenen) unsterilen Einmalhandschuhe selbst – sondern ihr aktueller Gebrauch zeigt, dass einige Entscheidungen tatsächlich unzeitgemäß, nicht zweckmäßig und sogar gefährlich sein können [10].

Der Verbrauch an Einmalhandschuhen sollte nicht unterschätzt werden. Mit den 1,7 Milliarden Handschuhen, die der britische National Health Service [11] bereits vor der Covid-19-Pandemie pro Jahr verbrauchte, wird die Dimension klar: Als Kette aneinandergereiht, würden sie fast den Mond erreichen.

Noch mehr als die pure Quantität erschreckt dabei, dass zwei Drittel ohne Indikation getragen wurden, d. h. ohne Kontakt mit potenziell infektiösen Körperflüssigkeiten und ohne verletzte Haut [12]. Oft unzweckmäßig eingesetzt oder sinnlos dauerhaft getragen, vermittelt das Handschuhtragen ein trügerisches Sicherheitsgefühl [13]: Alles wird berührt, Händewaschen und Desinfektion gemieden, die natürliche Hautbarriere geschädigt und eine „Keimschleuder“ entsteht. Diese Angewohnheit wächst inzwischen – z. B. in Bäckereien – weit über den ärztlichen und pflegerischen Bereich hinaus. Grundsätzlich gilt, dass das Tragen von medizinischen, unsterilen Einmalhandschuhen nicht die hygienische Händedesinfektion im Gesundheitssektor bzw. ein sorgfältiges Händewaschen beim Brotverkauf ersetzt.

Um die fehlerhafte Verwendung durch Einzelpersonen, Krankenhäuser und sogar von Regierungsseite zu beenden, gab das Royal College of Nursing 2021 einen überarbeiteten Leitfaden heraus [14]. Diese Kampagne ist in zweierlei Hinsicht beachtlich: mit Schulungen zur Händedesinfektion verbessert sie die Hygiene und zugleich präventiv den Hautschutz. Die Reduktion der Handschuhmenge zum einen, der Anstieg des Verbrauchs an Desinfektionsmitteln zum anderen, sind validierte, einfache Methoden, den Erfolg auf einzelnen Stationen zu messen.

Langfristiges Format für Entscheidungsträger und Verantwortliche gesucht

Mit der Corona-19-Pandemie stieg der Verbrauch von persönlichen Schutzausrüstungen. Nachdem der aerogene Übertragungsweg erkannt war, blieb der Mund-Nasen-Schutz unstrittig. In den bayerischen Impfzentren wurde jedoch die „volle Montur“ mit Plastikschürze und Handschuhen beibehalten. Beim Impfen ist das nach der „Empfehlung an die Hygiene bei Punktionen und Injektionen“ der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) von 2021 nicht erforderlich [15].

Die Verschwendung dieser Millionen von Handschuhen mahnt der Artikel „Der Handschuhberg – ein Detail beim Impfen“ [16] im Juli 2022 an. Die Reaktion der Ärztinnen und Ärzte verschiedenster Arbeitsbereiche, Impfzentren eingeschlossen, war ausnahmslos positiv. Auch die verantwortlichen Institutionen wie das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, das Gesundheitsreferat der Stadt München, das Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umwelt u. a. zeigten durchwegs Verständnis für das Anliegen. Der Vorschlag, gemeinsam an einem Tisch die „Handschuhfrage“ zu lösen, wurde von den beteiligten Institutionen nicht aufgegriffen. Und im Alleingang konnte, wollte oder durfte wohl keiner entscheiden. So wurde an den Vorgaben bis zur Schließung der Impfzentren am Jahresende 2022 nichts geändert.

Im Oktober 2022 forderte der Bayerische Ärztetag eine zeitnahe Revision der bisher geltenden hygienischen und arbeitsschutzrelevanten Vorschriften und Bestimmungen. Die Aufforderung richtet sich an „die für eine Entscheidung notwendigen und befugten Fachgremien, die politisch verantwortlichen und zuständigen Institutionen bzw. Gremien“. Für die Neubewertung sind neben den Gesundheitsministerien, Gesundheitsämtern der Kommunen, Arbeitsmedizinischen Einrichtungen/Fakultäten und Hygieneabteilungen, auch Berufsgenossenschaften und Arbeitnehmervertretungen [17], nicht nur wegen des Rechts auf Mitbestimmung, sondern wegen ihrer praxisnahen Kenntnisse wichtige Partner.

„Nur“ auf die Handschuhe beim Impfen zu verzichten, wäre eine einfache „Übung“ gewesen. Jedenfalls im Vergleich zur jetzt angesagten, umfassenden „Neubewertung von Hygienevorgaben angesichts der Klimakrise“. Die medizinischen Fachgesellschaften und die ärztliche Selbstverwaltung müssen ihren Einfluss nutzen, ein neues Format für die Balance von guter Medizin, Hygiene, Arbeits-, Eigen- und Fremdschutz mit ökologischen Notwendigkeiten zu schaffen.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].

Dr. med. Ursula von Gierke

Fachärztin für Innere Medizin, Tropenmedizin und Infektiologie

Beraterin, Koordinatorin, Trainerin für Ethik in der Medizin (AEM) [email protected]

Chirurgie

von Gierke U: Kommentar – Neubewertung von Hygienevorgaben angesichts der Klimakrise. Passion Chirurgie. 2023 April; 13(04): Artikel 03_06.

Weitere Artikel zum Thema „Nachhaltigkeit“ finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama | Nachhaltigkeit.

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