01.07.2020 Politik
Editorial: Katharsis nach der (beinahe)-Katastrophe?
„Wann sind wir da? Dauert es noch lange?“ Eltern, die mit Kindern unterwegs sind, kennen die Nörgelei und reagieren meist genervt und unwirsch, statt positiv einzuwirken wie: „Schaut mal draußen, was es alles zu sehen gibt!“, oder: „Freut euch auf den schönen Strand am Ziel der Reise!“. Wie überhaupt viele Menschen eher das Haar in der Suppe als die Suppe um das Haar herum sehen.
Ähnlich verhält es sich mit der Corona-Krise, die zwar offenbar abgeschwächt und im Griff zu sein scheint, aber noch nicht zu Ende ist, weil es bis dato weder einen Impfstoff noch eine evaluiert wirksame Therapie gibt. Dennoch kann man sich so langsam mit einer Bilanz des bisher Geschehenen und der möglichen Konsequenzen befassen.
Wie immer gibt es Licht und Schatten. Ganz ohne Frage sind viele Bürger weniger wegen der Erkrankung selbst, sondern vielmehr wegen der staatlich verfügten Sperrmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in ihrer wirtschaftlichen Existenz trotz Schutzschirmen massiv geschädigt worden. Auch die psychischen Schäden durch soziale Isolation, fehlende Kinderbetreuung, Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sowie plötzlich auswegloser innerfamiliärer Nähe sind nicht außer Acht zu lassen. Die Zahl der COVID-Opfer ist dagegen eher gering und hat nur sehr kurzfristig zu einer geringen Übersterblichkeit geführt.
Es wird die Frage zu beantworten sein, ob Corona oder die Abwehr gegen Corona die größeren Opfer gefordert hat. Man darf das sicher diskutieren, aber die Debatte bleibt spekulativ, denn wir wissen nicht, wie viele Opfer es ohne die Maßnahmen gegeben hätte. Allenfalls kann man es bei der Betrachtung der Situation in anderen Ländern erahnen. Ganz im Kern geht es um die Abwägung von elementaren Gütern in ihrer Wertigkeit zueinander: Gesundheit oder Freiheit?
Zu den positiven Erfahrungen aus der Krise gehört die für uns Deutsche bisher eher untypische spontane Solidarität. Dass ein Volk, das Regeln befolgt wie kein zweites, sich sehr vorbildlich an die Abstandswahrungen, Maskenpflicht und Verzicht auf öffentliche Veranstaltungen gehalten hat, ist dennoch in dieser Ausprägung bemerkenswert. Nicht zuletzt hat das Gesundheitssystem – viel gescholten als zu teuer und ineffizient – die Krise exzellent gemeistert und ganz wesentlich zu der im internationalen Vergleich sehr niedrigen Opferzahl beigetragen und dafür gesorgt, dass es bisher jedenfalls nicht zu einer Katastrophe wie z.B. in den USA gekommen ist.
Sicher wird es im Nachhinein heftige, vermutlich auch gerichtliche, Auseinandersetzungen geben, ob die im Prinzip grundgesetzwidrigen Einschränkungen überzogen und ausreichend gerechtfertigt waren. Viel interessanter ist aber die Frage, ob und wenn ja was wir aus der Krise gelernt haben, die sich für die Gesundheit der Bürger offenbar nicht zu einer Katastrophe ausgeweitet hat, aber das Sozialgefüge an den Rand des Abgrunds gebracht hat.
Bedienen wir uns an dieser Stelle einmal der Begrifflichkeiten der antiken Tragödie. Danach ist die Katastrophe die entscheidende Wendung [zum Schlimmen] als Schlusshandlung im [antiken] Drama. Haben wir überhaupt eine Wendung zum Schlimmen gesehen? Individuell für Einzelne ganz sicher, für die Mehrheit aber nicht und schon gar nicht im Gesundheitswesen. Dagegen definiert die Literaturwissenschaft die Katharsis in der aristotelischen Poetik als die Reinigung als Effekt der Tragödie. Mithin kann eine Katastrophe oder zumindest eine Tragödie durchaus auch positive Aspekte besitzen, wenn man bereit ist, aus dem Geschehenen zu lernen.
Das setzt zunächst eine Analyse voraus, die zweifellos je nach Sichtweise und Interessenslage unterschiedlich ausfallen dürfte. Für uns Ärzte bleibt festzustellen (und das wird auch von niemandem bestritten), dass die Kliniken mit hohem Einsatz die Versorgung schwer Erkrankter bewältigt haben, während der ambulante Bereich in seiner Funktionalität als Schutzwall die Krankenhäuser entlasten konnte, damit diese ihre Kernaufgabe wahrnehmen konnten. Es ist aber zu kurz gesprungen, nur die in Deutschland ziemlich einzigartige Arbeitsteilung zwischen ambulant und stationär als wirkungsvolles Instrument zu thematisieren. Auch in den jeweiligen Sektoren gab und gibt es Corona-induzierte Veränderungen, die offenkundig zu dieser optimalen Versorgung und den geringen Opferzahlen beigetragen haben.
An erster Stelle ist dabei zu nennen die Abkehr von wirtschaftlich indizierten Prozeduren, der zumindest zeitweise Verzicht auf das Primat der Ökonomie zugunsten einer hochwertigen, am Patienten orientierten Medizin. Auch der reduzierte Aufwand der Ärzte für rein administrative Tätigkeiten hat sicher zu den Spitzenergebnissen beigetragen. Nebenbei ist die Pflege dankbar, dass als Folge von Besuchsverboten wieder mehr Hinwendung zum Patienten möglich war. Letzteres wird man bei Wahrung der Patientenrechte nicht unbedingt vollumfänglich beibehalten können, aber gerade die beiden ersten Punkte müssen im Sinne der Katharsis, also einer positiven Erkenntnis, mit aller Macht in die öffentliche Diskussion um eine Neustrukturierung des Gesundheitssystems eingebracht werden. Ähnliches gilt für die ambulante Versorgungsebene. Auch hier bringt der früh ausgerufene „Rettungsschirm“ Planungssicherheit, um auch bei geringerem Patientenaufkommen trotzdem wirtschaftliche Sicherheit zu haben. Wäre das nicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken, wie dauerhaft mehr Zeit für die Behandlung wirklich Kranker unter Verzicht auf das berühmte Hamsterrad gewonnen werden kann?
Wenn tatsächlich die Krise zu einer Katharsis des Gesundheitssystems führen kann oder soll, dann muss der Fokus in Zukunft wieder eindeutig auf die ärztlich indizierte Behandlung, frei von ökonomischen Vorgaben resp. Zwängen, gelegt werden.
Ich fürchte nur, dass viele Beteiligte im System nicht genug Katastrophe (Wendung zum Schlimmen) erlitten haben, um die Vorteile einer Katharsis zu sehen. Es gibt leider wie in jeder Krise eine Menge von Gewinnern, wie die privaten Krankenkassen und manche Berufsgenossenschaften, die sich aus verschiedenen Gründen nur unzureichend am Rettungsschirm beteiligen, dafür aber deutlich geringere Ausgaben bei stabilen Einnahmen hatten. Aber auch Krankenhausverwaltungen haben erkannt, dass die Ausgleichszahlungen für leerstehende Betten teilweise bessere Erlöse bringen als unrentable DRGs. Niedergelassene konnten ihre Ausgaben reduzieren bei garantiert gleichbleibenden Honorarzahlungen. Grund zur Klage gibt es bis auf Einzelfälle eher nicht.
Auch wenn ich niemandem eine existenzbedrohende Situation wünsche, bleibt ein Restzweifel, ob es uns gelingen wird, trotzdem nicht einfach so weiter zu machen, als sei nichts gewesen. Wir müssen die Pandemie und deren Folgen als Chance begreifen, neue Strukturen zu fordern. Das haben wir schon immer gemacht. Jetzt aber ist ein Zeitpunkt gekommen, an dem wir mit Verweis auf unsere Erfolge in der Krise vielleicht etwas mehr Gehör finden. Insofern hat für mich die Pandemie mehr Licht als Schatten an den Tag gebracht.
Rüggeberg J: Editorial Katharsis nach der (beinahe) Katastrophe? Passion Chirurgie. 2020, 10(7/8): Artikel 01.
Autor des Artikels
Dr. med. Jörg-Andreas Rüggeberg
Vizepräsident des BDCReferat Presse- & Öffentlichkeitsarbeit/Zuständigkeit PASSION CHIRURGIEPraxisverbund Chirurgie/Orthopädie/Unfallchirurgie Dres. Rüggeberg, Grellmann, HenkeZermatter Str. 21/2328325Bremen kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
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