Zurück zur Übersicht
© iStock/KatarzynaBialasiewicz

Die 4. Berliner Hernientage geben ein gutes Beispiel ab.

Wer sich in seinem Verantwortungsbereich Entwicklung wünscht und das Ziel hat, fachliche Kompetenzen und organisatorische Abläufe kontinuierlich zu verbessern, der braucht bei allen  Beteiligten die Bereitschaft, eigene Fehler zu offenbaren und sich mit seinen Partnern konstruktiv darüber auszutauschen: Wie ist die Komplikation entstanden und wie kann sie in Zukunft vermieden werden? Diese Anstrengung setzt eine Kommunikationskultur voraus, in der nicht die Angst das Feld bestimmt, sondern die Zuversicht, dass jedes unerwünschte Ereignis die Chance für eine Verbesserung enthält. Nicht nur in Krankenhausabteilungen oder zwischen verschiedenen Fachdisziplinen oder Berufsgruppen sollte der Versuch gemacht werden, eine solche Kultur des Umgangs mit Fehlern zu etablieren, sondern auch in der Zusammenarbeit zwischen ambulanten und stationären Operateuren.

Auf diesen speziellen Gesichtspunkt konzentriert sich der nachfolgende Artikel und stellt damit eine Ergänzung zur aktuellen Diskussion um Patientensicherheit und Fehlermanagement dar.

Auf den 4. Berliner Hernientagen war live zu erleben, wie erste Schritte auf dem Weg zu einer solchen „Fehlerkultur“ getan werden können.

Das Besondere dieses Kongresses: Ein Klima wechselseitigen Vertrauens

Die Organisatoren und Moderatoren (Dr. Ralph Lorenz, 3Chirurgen und Dr. Bernd Stechemesser, Vivantes) hatten es geschafft: Internationale Vertreter der Hernienchirurgie und erfahrene Repräsentanten aus deutschen Universitäten waren mit Operateuren aus Kliniken und Praxen  über das Thema „Fehler in der medizinischen Praxis“ und die Frage nach Möglichkeiten, mit ihnen konstruktiv umzugehen, in einen ungewöhnlich offenen  Erfahrungsaustausch eingetreten. Die sonstigen Vortragsthemen entsprachen den Erwartungen: Qualitätssicherung in der Hernienchirurgie, Standards, neue Materialien und Vergleiche mit europäischen bzw. internationalen Nachbarn. Außergewöhnlich war  bei diesem Kongress vor allem die Moderation. Den Veranstaltern ist es gelungen, durch die Vorarbeit der letzten Jahre soviel Offenheit und wechselseitiges Vertrauen zwischen den Teilnehmern herzustellen, dass im zweiten Teil des diesjährigen Kongresses über das im Medizinerstand besonders schwierige Thema der Fehler differenziert und konstruktiv geredet werden konnte.

Wesentlich dazu beigetragen hatte die Einleitung zu dieser Sitzung. Einer der Veranstalter berichtete sehr offen über eine eigene Erfahrung mit einer intraoperativen Komplikation. Diese Hernien-Operation – und das konfrontierte alle Anwesenden mit der Realität – war im letzten Jahr live während des Kongresses übertragen worden. Viele der diesjährigen Fachleute hatten jeden einzelnen Operationsschritt verfolgt und intensiv diskutiert. Niemandem war etwas Besonderes aufgefallen. Aber es war leider – zunächst unbemerkt – zu einer Verletzung des Darmes gekommen. Die notwendigen nachträglichen Operationsschritte stellte der Moderator für das Publikum zusammen.

Diese mutige Offenbarung des Veranstalters war für die nachfolgenden Referenten eine Einladung, sich offen über ihren Umgang mit eigenen „Pitfalls“ (so der mittlerweise gebräuchliche internationale Ausdruck für professionelle Fehler, wörtlich: Fallgrube, Irrtum) auszutauschen.

Erfahrungen aus der Luftfahrt: Das offene Gespräch über gefährliche Situationen

Ein anderer Referent (Dr. Christian Thomeczek, Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin, Berlin) berichtete über den Umgang mit Fehlern und Beinahe-Fehlern in der Luftfahrt.  Er zeigte auf, was die Verantwortlichen in der Luftfahrt längst deutlich erkannt und in Konsequenzen umgesetzt haben: Die Hauptfehlerquellen liegen nicht in den professionellen Fähigkeiten der Piloten, „Fliegen können die Piloten alle. Diese Kompetenzen werden permanent trainiert.“ Also nicht in den eigentlichen Kernkompetenzen sind die meisten Fehler auszumachen, sondern in den sehr menschlichen Dimensionen des individuellen Verhaltens wie Müdigkeit oder körperlichen Schwächezuständen. Und auch die Kommunikation in den Extremsituationen zwischen Pilot und Co-Piloten führt oft zu Unwägbarkeiten. Die zivile Luftfahrt hat daraus Konsequenzen gezogen: Eine offene Aussprache über Situationen nach jedem Flug zwischen Pilot und Copilot sind Standard. Ähnliches gibt es auch in der Kabine für die Flugbegleiter. Kritische Situationen oder deren Vorstufen werden sofort bearbeitet. In entsprechenden Kommunikationstrainings wird vor allem die Fähigkeit zum sogenannten Feedback-geben in den Mittelpunkt gestellt.  Das sogenannte Crew Resource Management (CRM) konzentriert sich auf das Urteilen und Entscheiden in komplexen risikoreichen Systemen. „Gutes CRM ist keine kochbuchartig anwendbare Methode, sondern das Ergebnis einer ernsthaften inneren Auseinandersetzung mit der eigenen Bereitschaft und den eigenen Möglichkeiten, der wechselnden Dynamik des zwischenmenschlichen Austausches innerhalb einer Besatzung gerecht zu werden.“ (Zitat Cockpit Refresher 2/2006 einer deutschen Fluggesellschaft). Sind solche Maßnahmen auf vergleichbare Situationen im Krankenhaus übertragbar?

Die Situation in den Kliniken: Kulturelle Widerstände gegen ein Offenbaren von Fehlern

Die überwiegende Praxis in den Kliniken bietet noch ein ganz anderes Bild. Klinikärzte erleben bei der Aufarbeitung von Fällen und Komplikationen in Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen, dass sich die Kollegen lieber zurückhalten und nur das Nötigste tun, um den Fehler irgendwie zu korrigieren. Manchmal wird auch der Versuch unternommen, den eigenen Fehler zu vertuschen, gelegentlich, indem er an eine nächste Ebene von Verantwortlichen delegiert wird.

Inspiriert vom Klima der Offenheit des Kongresses äußerten sich mehrere Teilnehmer zu ihren eigenen Erfahrungen mit dem Fehlerthema: Manche berichteten über die Angst, sich zu Fehlern zu bekennen, weil sie Häme oder Sanktionen befürchteten. Andere schilderten anschaulich, wie die übersteigerte Angst, einen Fehler zu begehen, am Ende zu Fehlern geführt hat. Die hohen Erwartungen der Patienten an die Perfektion der Ärzte lassen eine Fehlertoleranz kaum zu. Zudem muss ein Arzt oder eine Klinik heute mit hohen Regressforderungen rechnen, wenn ein ärztlicher „Kunstfehler“ nachgewiesen werden kann. Das Bild der ärztlichen Vollkommenheit muss von daher sowohl von den Krankenhäusern als auch von den Ärzten selbst notwendigerweise aufrechterhalten werden. Es prägt seit Jahrhunderten die Kultur der Medizin.

„Wann werden wir in der Chirurgie soweit sein, dass wir anders miteinander umgehen? Was unterscheidet uns von der Luftfahrt? Ist es wirklich nur die Tatsache, dass der Pilot bei einem Unfall selbst mit ums Leben kommt?“ Das war eine Frage am Ende der Diskussion. Aber ist die Rolle des Piloten wirklich mit der Rolle des Arztes gleichzusetzen?

Die traditionelle Rolle des Arztes ist eine andere als die des Piloten

Es ist eine Frage von Nähe und Distanz: Die Beziehung zwischen dem Fluggast und seinem Piloten ist weit distanzierter als die Beziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten. Der Fluggast erwartet von seinem Piloten, dass er das Fliegen auch in schwierigen Flugsituationen beherrscht. Diesen Gedanken hat er auch nur in solchen Situationen. Eine persönliche Beziehung zum Piloten hat der Fluggast in der Regel nicht. Anders die Beziehung des Patienten zu seinem Arzt. Der existenziell um sich besorgte Patient erwartet von seinem Arzt, dass er als Mediziner und als Mensch vollkommen ist. Es ist oft die ängstliche Erwartung an einen Übermenschen, von dem allein die nötige Hilfe in einer Krankheitssituation zu erwarten ist. Und traditionell beugen sich die Ärzte diesem Erwartungsdruck auch ganz gern, denn mit dem beruflichen Selbstverständnis eines Übermenschen lässt es sich gut leben, selbst wenn es latente eigene Zweifel an dieser Rollenzuschreibung gibt. In dieser  Beziehungsdynamik würde es möglicherweise zu einer Schieflage kommen, wenn der Patient erfährt, dass sein Arzt sich mit anderen Kollegen freimütig über seine Fehler austauscht. Das fürchten viele Ärzte zu Recht und darum gibt es innere Widerstände gegen das Etablieren eines Systems, das dem CRM in der Luftfahrt entspräche.

Maßnahmen der Qualitätssicherung wie Checklisten vor Operationen oder das inzwischen vielen Orts etablierte „Time-out“ zu Beginn eines operativen Eingriffes machen nicht so grundlegende Schwierigkeiten. Ähnlich wie in der Luftfahrt haben auch anonyme Melderegister (Critical Incident Reporting Systems) Einzug gehalten in den klinischen Alltag. Diese Maßnahmen sind richtig und wichtig. Hier soll es jedoch um einen anderen Aspekt gehen.

Können die Widerstände überwunden werden?

Kulturelle Veränderungen setzen grundsätzliche Entscheidungen voraus. Nicht nur die Führungskräfte einer Abteilung oder eines Medizinischen Versorgungszentrums oder die Partner in einer Kooperation müssen eine Veränderung wollen. Von Ihnen sollte die Initiative zu einer Veränderung ausgehen. Die nachhaltige Wirkung eines solchen Veränderungsprozesses wird verstärkt, wenn von Beginn an die Leitung des Hauses zu den Promotoren gehört. Aber dazu müsste sie erst, ähnlich wie die Leitenden der Fluggesellschaften, erkannt haben, dass ein professioneller Umgang mit Fehlern zu einer erheblichen Entlastung der Kostenseite beitragen kann. Überdies käme es noch darauf an, alle betroffenen Mitarbeiter, nicht nur die Ärzte, sondern beispielsweise auch die Mitarbeiter des Pflegedienstes, in den Veränderungsprozess aktiv einzubinden. Das ist ein langwieriger und komplexer Prozess, der gut geplant und behutsam gesteuert werden muss. Hier ist nicht der Raum, detailliert einen solchen Veränderungsprozess zu beschreiben. Wichtig ist, dass von Beginn an die Ziele klar definiert sind.

Ziele einer „Fehlerkultur“

Was aber wären die Ziele einer neuen Kultur im Umgang mit Fehlern oder Komplikationen in der medizinischen Praxis? Worauf käme es an? Wir meinen, dass von einer etablierten Fehlerkultur, beispielsweise in einem Krankenhaus, dann geredet werden darf, wenn Folgendes erreicht worden ist:

  • Zunächst ganz nüchtern: Die Anzahl folgenschwerer kritischer Ereignisse oder Fehler, die es im Haus gegeben hat, ist im Verlauf einer definierten Beobachtungszeit erkennbar (was auch genauer zu definieren wäre) zurückgegangen. Es gibt ein zuverlässiges Kontrollinstrument, mit dem das festzustellen ist.
  • Es hat sich im Haus ein Arbeitsklima etabliert, in dem angstfrei und ohne Schuldzuschreibungen über aktuell erkannte Fehler geredet werden kann, in dem also unerwünschte Ereignisse sachlich analysiert und zukünftige Vorgehensweisen entwickelt werden können. Es gibt Institutionen, beispielsweise entsprechende Reflexionsrunden im Bereich der Intensivmedizin, in denen das eine deutlich identifizierbare Praxis ist.
  • Es ist etwas überwunden, das wir das „Struwelpeter-Syndrom“ nennen wollen, nämlich die von Kindheit an immer wieder gemachte Erfahrung jedes Angehörigen einer deutschen Normalfamilie, dass auf Fehler oder Regelwidrigkeiten eine Strafe folgt. Vielmehr wird honoriert, wenn Beinahe-Fehler frühzeitig offengelegt und dazu genutzt werden, dass diese und vergleichbare unerwünschte Ereignisse in Zukunft vermieden werden. Die Philosophie heißt: ‚Fehler können immer vorkommen. Wir sind alle nur Menschen. Aber sie dürfen nur einmal passieren.‘

Ein bedeutendes und erreichbares Ziel: Die Vertrauensvolle Kommunikation über Fehler

Der Verlauf des Hernienkongresses hat dafür ein gutes Modell abgegeben: Positionsinhaber mit Autorität, in diesem Falle die Veranstalter und Moderatoren, wagen den Schritt, über eigene Fehler zu reden – und in der Folge taten andere es auch. Angeordnet werden kann ein konstruktiver Umgang mit Fehlern jedenfalls nicht. Der Prozess vollzieht sich unter komplexen organisatorischen Rahmenbedingungen, die oft gekennzeichnet sind durch unklare Rollenbeziehungen und Zuständigkeiten. So agieren beispielsweise bei drohenden Komplikationen nach operativen Eingriffen in Kliniken die verschiedenen Dienstgruppen oft unkoordiniert nebeneinander und nicht abgestimmt miteinander. Patienten und die Angehörigen können den Eindruck gewinnen, dass der Eine nicht vom Anderen weiß. Sie verlieren das Vertrauen. Ähnliches gilt jedoch auch, wenn sich ein Patient mit einer postoperativen Komplikation nach einem ambulanten Eingriff anschließend bei einem Kollegen in der Klinik vorstellt. Wie kann dann eine angemessene Rückkopplung an den Erstoperateur erfolgen?

Die Organisatoren der Berliner Hernientage zeigten uns anhand von Beispielen aus ihrem beruflichen Alltag, dass es möglich ist, zwischen ambulanten Operateuren und Chirurgen in den Kliniken eine partnerschaftliche Zusammenarbeit in Netzwerken zu leben, von denen alle Beteiligten profitieren. Die grundlegende Voraussetzung dabei ist eine Haltung, dem Kollegen als fachlichem Partner und nicht als Konkurrenten zu begegnen. Gelingt das, dann können auch kritische Konstellationen reflektiert und Konsequenzen gezogen werden, die zu neuen Lernkurven und Erkenntnissen führen. Davon profitieren dann auch die jeweiligen Praxis- oder Klinikteams.

Als individuelle Voraussetzungen sind spezifische Einstellungen und Fertigkeiten in der Gesprächsführung nötig. Soll über Fehler konstruktiv gesprochen werden, so ist die Voraussetzung dazu ein wirkliches Interesse an den Belangen des anderen und die Bereitschaft, ihm zunächst gut zuzuhören („Aktives Zuhören“) und ihn zu eigenen Lösungen zu führen, bevor man selber Verbesserungsvorschläge äußert. Das erfordert ein gewisses Training. Auch ein differenziertes Feedback erfordert eine gewisse Übung, damit aus dem Feedback nicht eine schlichte und immer Widerstand auslösende Beurteilung wird, sondern wirklich eine Rückmeldung über Wirkungen, die der Feedbackpartner durch sein Handeln ausgelöst hat und vielleicht selbst nicht richtig einschätzen kann.

Ausblick

Hoffnungsvoll stimmt, was Teilnehmer in unseren Fortbildungsworkshops für ärztliche Führungskräfte berichteten: Chefärzten, die es vor ihren ärztlichen Mitarbeitern nach einer Operation wagten, über die Schwierigkeiten zu reden, die sie im Nachhinein erkannt hatten, gewannen an Ansehen und Respekt, im Gegensatz zu Kollegen, die mit zuviel Anstrengung versucht hatten, ihre Fehler zu vertuschen oder anderen zuzuschieben. Das hat dann auch andere in den jeweiligen Mitarbeiterkreisen ermutigt, über ihre Beinahe-Fehler zu reden. Und so war schrittweise die vertrauensvolle, das heißt vor allem angstfreie, Arbeitsatmosphäre entstanden, die alle dazu ermutigte, sich vor der Offenbarung von Fehlern nicht zu fürchten, um so aus Komplikationen für die Zukunft zu lernen.

Autoren des Artikels

Profilbild von Ulrike Schlein

Dr. med. Ulrike Schlein

Organisations- und Personalentwicklung im GesundheitsbereichPostfach 113734521Bad Wildungen kontaktieren
Profilbild von Hager van der Laan

Hager van der Laan

Organisations- und PersonalentwicklungSchillerstr. 1510625Berlin

Weitere Artikel zum Thema

PASSION CHIRURGIE

Der Chirurg BDC 05/2010

Außertarifliche Verträge Hand aufs Herz: wer von uns hätte sich

Passion Chirurgie

Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!

Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.