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Die Münchener Gefäßchirurgin Dr. Kerstin Schick hat mit ‚Venusvenen‘ einen Ratgeber verfasst, der Frauen mit den Besonderheiten ihres Gefäßsystems vertraut machen soll. Der Bedarf an Aufklärung ist groß. Aus ihrer Sicht sollten auch in der Gefäßmedizin geschlechterspezifische Besonderheiten in den Praxisalltag integriert werden.

Dr. Kerstin Schick ist seit fast zehn Jahren in ihrer phlebologischen Praxis in München tätig und behandelt Männer und Frauen mit Gefäßproblemen oder Gefäßfragestellungen. Sie weiß: Frauen haben einen anderen Blickwinkel auf ihren Körper, stellen teilweise ganz andere Fragen, weil ihnen andere Themen wichtig sind. Außerdem spielen hormonelle Veränderungen im Leben von Frauen eine große Rolle und haben auch gravierenden Einfluss auf ihre Gefäße.

Anja Thiel Das Thema ‚Gendermedizin‘ existiert nun schon seit über 30 Jahren. Muss man im Jahr 2023 wirklich noch immer auf diese Aspekte hinweisen oder ist die geschlechterspezifische Behandlung nicht längst Teil unseres medizinischen Alltags?

Kerstin Schick Es stimmt, dass die Gendermedizin tatsächlich schon ein ‚alter Hut‘ ist. Hat doch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits in den 1980er- Jahren damit begonnen, sie zu thematisieren. Sie wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten auch immer populärer. Und eigentlich sollten heute frisch approbierte Ärztin oder Ärzte wissen, dass es unabdingbar ist, den Einfluss des Geschlechts in der Prävention, der Diagnostik und Therapie in jedem Fachbereich zu berücksichtigen.
Der aktuell gelebte Alltag der Medizin sieht allerdings nach wie vor anders aus. Je nach Fachrichtung wird auf die Frage des Geschlechts im Praxisalltag kaum Rücksicht genommen. Und auch Forschungsschwerpunkte berücksichtigen die Aspekte der Gendermedizin selten vorrangig. Dabei spielen bei der Behandlung des Menschen neben biologischen Faktoren des Geschlechts auch unterschiedliche psychosoziale Betrachtungsweisen bezüglich des eigenen Körpers, der Erkrankung und des Genesungsprozesses eine entscheidende Rolle. Obwohl es viele erfreuliche Ausnahmen gibt, ist es weiterhin dringend notwendig, über eine geschlechterspezifische Medizin zu diskutieren und zu forschen.

AT Als einer der entscheidenden Faktoren in der Gendermedizin gelten hormonelle Einflüsse. Wie wirken sich weibliche Hormone auf die Gefäßgesundheit aus?

KS  Weibliche Sexualhormone, allen voran das Östrogen, haben einen großen Einfluss auf unsere Gefäße. Sie wirken zum einen auf die Elastizität der Gefäße: Venen werden erweitert, der Blutfluss verlangsamt, sie können die Entstehung der Varikose beeinflussen, Ödeme provozieren, das Thromboserisiko verstärken. Östrogen hat daneben aber auch einen gefäßprotektiven Effekt, der dazu beiträgt, dass Frauen vor der Menopause deutlich seltener arterielle Durchblutungsstörungen entwickeln.

AT Sind die gefäßchirurgischen Leitlinien und Behandlungsschemata deshalb bei Frauen eigentlich obsolet? Braucht es geschlechtsspezifische Leitlinien?

KS  Das ist eine sehr berechtigte Frage. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass wir eine differenzierte Ausarbeitung unserer medizinischen Leitlinien unter Berücksichtigung geschlechterspezifischer Besonderheiten erarbeiten werden. Nicht nur in der Gefäßchirurgie, sondern in allen Fächern. Die Grundlage hierfür bilden die bisherigen und zukünftigen Forschungsarbeiten. Wir müssen dabei die richtigen Fragen stellen, um auf diesem Weg voranzukommen. Hätte in der Automobilbranche niemals jemand hinterfragt, ob der Airbag eigentlich auch für Frauen perfekt funktioniert oder nur dem männlichen Crashtest-Dummy angepasst wurde, würden noch heute hauptsächlich Männer von der Aufprallschutzvorrichtung profitieren.

AT Bei welchen konkreten Indikationen zeigen sich bei Frauen andere Symptome und Krankheitsverläufe als bei Männern?

KS  In der Gefäßmedizin gibt es einige interessante Fragestellungen, die sich bei Frauen und Männern unterscheiden, wie zum Beispiel die Thematik der Thrombose. Bei Frauen spielt der Einfluss der Hormone ja eine viel größere Rolle, sei es unter hormoneller Kontrazeption, peripartal oder unter Hormonersatztherapie zur Behandlung ihrer Wechseljahrebeschwerden: In all diesen hormonell beeinflussten Lebensphasen durchläuft die Frau ein deutlich erhöhtes Risiko für ein thrombembolisches Ereignis. Keines davon erlebt der männliche Patient.
Ein weiteres interessantes Gebiet stellt außerdem die periphere arterielle Verschlusskrankheit (paVK) dar. Insgesamt entwickeln signifikant mehr Männer als Frauen eine paVK. Wenn man aber die Alterseinteilungen differenziert betrachtet, dann gibt es Altersgruppen, in denen die Frauen die Männer zahlenmäßig sogar überholen. Vor den Wechseljahren profitieren Frauen von der gefäßprotektiven Wirkung des Östrogens. Nach Durchlaufen des Klimakteriums hat sich der Hormonstatus der Frau verändert und der Effekt des Gefäßwandschutzes lässt nach. Wenn Frauen dann noch Raucherinnen sind oder mit Hypertonie, Diabetes oder Hypercholesterinämie leben, wird es auf einmal sehr wahrscheinlich, dass sich eine Arteriosklerose bzw. eine Verschlusskrankheit entwickelt. Gerade diese Patientinnen benötigen daher eine optimale medikamentöse Betreuung und Aufklärung.

AT  Wie geht es Ihren Patientinnen damit, dass sie anders behandelt werden als männliche Patienten?

KS  Das Ziel einer geschlechterspezifischen Medizin sollte nicht sein, Frauen bewusst zu machen, dass sie unterschiedlich behandelt werden. Entscheidend ist grundsätzlich immer die individuelle Behandlung und den einzelnen Menschen wahrzunehmen, egal ob Patient oder Patientin.

AT Wie steht es um die Akzeptanz gendermedizinischer Aspekte bei den (gefäß)chirurgischen Kolleginnen und Kollegen?

KS  Erfahrungsgemäß können meine weiblichen Kolleginnen mit dem Thema geschlechterspezifische Medizin deutlich mehr anfangen als meine männlichen Kollegen. Vielleicht verstehen Ärztinnen diese Aspekte deshalb besser, weil sie sich selbst als Patientinnen auch mal in der gleichen Situation wiederfinden.
Ich treffe aber auch auf viele Männer, die das Thema Gendermedizin aufgreifen wollen und sich für die Aspekte interessieren. Wichtig ist zu betonen, dass es nicht darum geht, Frauen zu bevorteilen. Gendermedizin heißt, für alle – also auch für die Männer – eine individuell passende Medizin zu betreiben, die auch geschlechterspezifische Gesichtspunkte beinhalten sollte – bei Männern genauso wie bei Frauen.

AT Was hat Sie bewogen, ein Ratgeberbuch zum Thema zu schreiben?

KS  Viele Patientinnen kommen mit großer Unsicherheit und Fehlinformationen in die Praxis. Da gibt es übermäßige Ängste genauso wie das Ignorieren ernstzunehmender Symptome. Schuld ist nicht selten ‚Doktor Google‘, der die Frauen in die Irre führt. Ich hatte vor einem Jahr daher den Wunsch, die Erfahrungen aus meiner täglichen Patientinnenbetreuung in einem Buch niederzulegen und damit auch jene Frauen zu erreichen, die sich nicht in meiner Praxis vorstellen. Es geht dabei darum, Ängste im Zusammenhang mit Gefäßerkrankungen abzubauen, aber auch, die Leserin zu informieren und zu sensibilisieren für die eigenen Beinprobleme, Tipps und Tricks aus dem Alltag zu vermitteln und die Frauen in ihren Bedürfnissen zu erkennen.

Für viele Frauen sind ihre Beine eine Problemzone. Krampfadern, Besenreiser, kalte Füße, Schweregefühl oder Schmerzen belasten sie. Gleichzeitig gelten für Beine besondere Schönheitsideale, die nicht alle Frauen erfüllen. In ihrem Ratgeberbuch nimmt die Autorin ihre Leserinnen mit auf eine Reise durch das Gefäßsystem und schildert an konkreten Beispielen, warum Frauenbeine anders sind als Männerbeine – und welche Diagnostik und Therapie sie benötigen..

‚Venusvenen‘ erschien im Februar 2023 im Bastei Lübbe Verlag und kostet als Taschenbuch 18 Euro. 

Zur Person

Dr. Kerstin Schick ist Fachärztin für Gefäßchirurgie und Phlebologie und engagiert sich berufspolitisch u. a. als Vorsitzende des Berufsverbands der Phlebologen, in der Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Gefäßchirurgen und Gefäßmediziner, der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie. Sie ist auch Präsidiumsmitglied im Bundesverband Ambulantes Operieren (BAO). Im Berufsverband der Deutschen Chirurgie verstärkt sie das Themenreferat „Presse- und Öffentlichkeitsarbeit“ und ist stellvertretende Leiterin des Landeverbandes in München.

Erstveröffentlich im CHIRURGENMAGAZIN BAO DEPESCHE, dem Organ des Berufsverbands Niedergelassener Chirurgen (BNC) und des Bundesverbands Ambulantes Operieren (BAO), Heft 107 | Jahrgang 21 | Ausgabe 1 – Februar 2023 | www.bncev.de | www.operieren.de.
 

Das Interview führte

Antje Thiel

Redaktionsleitung

CHIRURGENMAGAZIN

[email protected]

Chirurgie+

Thiel A: Individuelle Therapie berücksichtigt auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Passion Chirurgie. 2023 Juli/August; 13(07/08): Artikel 04_03.

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