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Die Endokrine Chirurgie ist als einer der Schwerpunkte der Allgemein- und Viszeralchirurgie in den meisten entwickelten Ländern seit langem als Subspezialität etabliert. In vielen Ländern, voran den USA, existiert darüber hinaus eine curriculum-basierte, akademische und praktische Weiterbildung, die den Nachwuchs auch in diesem Schwerpunktbereich sichert und den Chirurginnen und Chirurgen eine berufliche Existenzperspektive bietet. In Deutschland sind vergleichbare Strukturen noch immer nicht ausreichend gegeben, obwohl der Bedarf groß ist, wenn man bedenkt, welchen Stellenwert die Endokrine Chirurgie allein auf dem Gebiet der Schilddrüsenchirurgie als einer der häufigsten Eingriffe in der Allgemein- und Viszeralchirurgie einnimmt. Nicht nur wegen ihrer seit über 150 Jahren bestehenden Bedeutung [7] als Keimzelle der Endokrinen Chirurgie ist die Schilddrüsenchirurgie heute vor allem wegen der weltweit teils enormen Zunahme papillärer Karzinome in den interdisziplinären Fokus der Diskussion gerückt [30].

Endokrine Chirurgie als Subspezialität und Kooperationspartner

Endokrine Chirurgie wird vielfach als „Systemchirurgie“, Chirurgie eines hormonproduzierenden Multiorgansystems charakterisiert und wurde daher anfangs auch oft als „endokrinologische Chirurgie“ oder „chirurgische Endokrinologie“ bezeichnet [21], bevor sich die Bezeichnung Endokrine Chirurgie [22] durchsetzte.

Endokrine Viszeralchirurgie umfasst in ihrer Besonderheit gegenüber den anderen viszeralchirurgischen Schwerpunktbereichen allerdings nicht nur hormonaktive, sondern auch hormoninaktive Tumoren, entzündlich-autoimmune Erkrankungen der Schilddrüse mit Unter- und Überfunktion, benigne und maligne Hyper- und Neoplasien, und darüber hinaus die seltenen hereditären Multiorganerkrankungen. Letztere stellen eine besondere chirurgische Herausforderung dar, weil sie in der Diagnostik und Therapie nicht nur sehr spezifische Kenntnisse und Expertise der molekularen Grundlagen und endokrinen Pathophysiologie voraussetzen, sondern auch Detailerfahrungen sowohl der adulten als auch der pädiatrischen chirurgischen Anatomie erfordern. So gehört zum Beispiel auch das operative Management der prophylaktischen Thyreoidektomie im ersten Lebensjahr, Kindes- und Jugendalter [27] bei der Multiplen Endokrinen Neoplasie (MEN) Typ 2A und 2B, aber auch die Entscheidung zu organerhaltenden Operationen der Nebenniere oder des Pankreas zum Spektrum des spezialisierten endokrinen Chirurgen [3; 6].

Der Herausgeber des ersten „Leitfadens“ zur Endokrinen Chirurgie in Deutschland [22], Hans-Dietrich Röher, nannte ihn im Vorwort des 1987 erschienenen Buches sehr bescheiden eine „praxisorientierte Informationsquelle für die tägliche ärztliche Entscheidung“, obwohl es tatsächlich das erste überhaupt in Deutschland publizierte Lehrbuch zu einem ganz neuen chirurgischen Schwerpunkt darstellte. Es beschrieb in sehr klarer und umfassender Weise bereits das gesamte Aufgabengebiet der Endokrinen Viszeralchirurgie: die Chirurgie gut- und bösartiger Schilddrüsenerkrankungen, des primären und sekundären Hyperparathyreoidismus, der Tumoren der Nebennierenrinde, des Nebennierenmarks und der neuroendokrinen Tumoren des gastroenteropankreatischen Systems, sowie der Multiplen Endokrinen Neoplasie-Syndrome Typ 1 und Typ 2.

Die enormen Entwicklungen des Schwerpunktes, einschließlich der an die Endokrine Chirurgie angrenzenden Disziplinen der Molekulargenetik und -pathologie, der Endokrinologie, Nuklearmedizin, Radiologie und Onkologie, aber auch der Chirurgie selbst haben vor allem im Ausland, zunehmend aber auch in Deutschland dazu geführt, dass sich Kliniken und Chirurgen auf den zahlenmäßig umfangreichsten Bereich der Endokrinen Hals- und Mediastinalchirurgie konzentrierten. Parallel zu dieser Entwicklung haben in steigender Zahl nicht nur im Ausland auch andere operative Fachgebiete in den universitären und nichtuniversitären Kliniken begonnen, an der Versorgung endokrin-chirurgischer Patienten zu partizipieren, zum Beispiel Urologen an der Nebennierenchirurgie und Hals-Nasen-Ohren-Chirurgen an der Schilddrüsenchirurgie. Dies ist eine Entwicklung, auf die die viszeralchirurgische Endokrine Chirurgie am besten durch strukturierte chirurgische Spezialisierung in unter endokrin-chirurgischer Leitung stehenden Abteilungen und verstärkt enger Kooperation mit den bereits traditionell verbundenen Fachgebieten insbesondere der Endokrinologie, Nuklearmedizin und Pathologie reagiert.

Auch für die Endokrinchirurgie gilt die Formel: „Practice makes perfect“ [1; 2; 5; 17; 18]. Für die konkurrenzaktive Gegenwart und Zukunft in Deutschland ist jedoch über das reine Versorgungsvolumen einzelner Kliniken und Chirurgen hinaus entscheidend, die akademisch-forscherische Sichtbarkeit und Leadership forciert weiterzuentwickeln und zugleich die Grundlagen für eine curricular-basierte Ausbildung in der viszeralchirurgischen Endokrinchirurgie zu legen [14; 19]. Gerade auf dem Gebiet der quantitativ im Vordergrund stehenden Schilddrüsenchirurgie, insbesondere derjenigen der Schilddrüsenkarzinome, ist es in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten zu einer enormen Dynamik gekommen, die nicht nur die Molekulargenetik und -pathologie, sondern auch die endokrinologische und nuklearmedizinische Onkologie tiefgreifend erfasst hat. Dazu kommen neue chirurgische Konzepte, wie zum Beispiel der Hemithyreoidektomie [10] bei der zunehmenden Zahl an differenzierten Niedrigrisikokarzinomen, die chirurgisch geprüft und interdisziplinär wissenschaftlich evaluiert werden müssen.

Die Nuklearmedizin betreffend hat die PET-Technik erheblichen Einfluss auf den Rezidivnachweis insbesondere der differenzierten Schilddrüsenkarzinome, damit ihrer reoperativen Behandlung gewonnen. In der endokrinologischen Onkologie sind infolge neuer Therapiekonzepte bei radiojodrefraktären Schilddrüsenkarzinomrezidiven früher nicht gegebene Therapiemöglichkeiten hinzugekommen, Entwicklungen insgesamt, die heute am besten in zertifiziert spezialisierten Tumorboards eine individualisierte Behandlung möglich machen. „Chirurgie in Partnerschaft“, Motto des 2012 vom Präsidenten Prof. Markus Büchler geleiteten 129. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, bedeutet, dass auch die Endokrine Chirurgie, wie die anderen Schwerpunkte der Chirurgie, nicht allein Dienstleister ist, sondern aktiv gestaltender Kooperationspartner im Konzert der an der Behandlung und Ergebnisevaluation beteiligten Disziplinen.

Reoperationen waren und sind ein besonderes Kerngebiet jedes erfahrenen und spezialisierten Chirurgen. Während Reoperationen in der Endokrinchirurgie früher vornehmlich „Struma“rezidive, in seltenen Fällen auch primär erfolglose Nebenschilddrüsenoperationen betrafen, sind es heute vor allem die Reeingriffe bei Schilddrüsenkarzinomen, die, auf das endokrinchirurgische Gesamtkrankengut bezogen, mittlerweile in spezialisierten Endokrinen Chirurgien einen nicht unerheblichen Anteil der täglichen Versorgung betreffen. Die Ende der 1980er-Jahre erfolgte Einführung der Mikrodissektion [4] und später des routinemäßigen intermittierenden (1997) und kontinuierlichen (2011) Neuromonitorings [9; 20] haben in Verbindung mit der weiteren Spezialisierung zwar wesentlich dazu beigetragen, dass sich zum einen die früher nicht selten hohen Komplikationsraten bei Reoperationen heute denjenigen bei Primäreingriffen angenähert haben [5; 11; 26]. Zum anderen sind dadurch bilaterale Stimmlippenlähmungen erfreulicherweise durch weitgehende Akzeptanz des „unilateral first approaches“ (Beendigung der OP bei Recurrensparese mit Signalausfall im intraoperativen Neuromonitoring auf der erstoperierten Seite) bei benigner Struma [8; 24] eine Rarität geworden. Die anhaltend in spezialisierten Zentren zunehmend zu verzeichnenden Fallzahlen von Operationen wegen zervikaler Rezidive bei Schilddrüsenkarzinomen weisen allerdings gleichermaßen darauf hin, dass nicht nur am Ende des chirurgischen Behandlungspfades ein Benchmarking bei der Qualitätssicherung erforderlich ist, sondern bereits zu Beginn. Mit anderen Worten: Schon bei der Weiterbildung zum endokrinen Viszeralchirurgen sind nachhaltige strukturelle Anstrengungen von Nöten, um die Behandlungsqualität zu verbessern.

Auch wenn in vielen, insbesondere asiatischen Ländern die Endokrine Chirurgie mittlerweile nicht mehr als Ganzes, das heißt als Endokrine Chirurgie der anatomischen Regionen des Zervikomediastinums, Abdomens und Retroperitoneums vertreten wird, spricht vieles dafür, das ganzheitliche Konzept der in die Viszeralchirurgie eingebetteten Endokrinen Chirurgie nicht aufzugeben [12].

Neben der technischen Expertise erfordert die operative Versorgung der hormonproduzierenden und hormoninaktiven viszeralen endokrinen Tumoren des Pankreas, der Nebenniere und des Darms eine profunde Kenntnis der zugrundeliegenden Erkrankung, ihrer genetischen Ursachen und der diagnostischen wie therapeutischen Maßnahmen, die sich von den Algorithmen bei Malignomen epithelialer Herkunft fundamental unterscheiden. Die Empfehlung der European Neuroendocrine Tumor Society (ENETS), der europäischen Fachgesellschaft, eines offenen operativen Vorgehens bei den Neuroendokrinen Tumoren des Darms und der Resektion des Dünndarmprimarius auch im metastasierten Stadium (Ileus-prophylaktische Operation) ist ein etabliertes Konzept [29]. Auch andere Entwicklungen, wie die organerhaltende Operation der Nebenniere [3] oder die gefäßsparende Resektion der Neuroendokrinen Tumoren des Dünndarms [16], kamen auf Basis einer umfassenden Spezialisierung in der Endokrinen Chirurgie zustande. Ähnlich wurden die operativen Verfahren bei den endokrinen Tumoren des Pankreas, wie beim Zollinger-Ellison Syndrom oder bei den Inselzell-Tumoren, maßgeblich durch endokrine Chirurgen entwickelt, die ihre Kenntnisse von den Besonderheiten endokriner Tumore in operative Strategien umsetzen konnten [13; 28].

Nationale und internationale Fachgesellschaften

Vor genau 40 Jahren, 1982, wurde in Marburg unter der Federführung von Hans-Dietrich Röher die Chirurgische Arbeitsgemeinschaft Endokrinologie (CAEK) als erste deutschsprachige fachgesellschaftlich organisierte Plattform für endokrinchirurgisch tätige und interessierte Chirurgen gegründet. In dem 1983 nach dem Gründungssymposium erschienenen, von Hans-Dietrich Röher und Robert Arnulf Wahl herausgegebenen Kongressbüchlein, wurde im Vorwort die Gründungshistorie folgendermaßen beschrieben [21]:

„Dieses Symposium und die veranstaltende Gruppe haben verschiedene Wurzeln. Kümmerle veranstaltete bereits 1977 und 1980 in Mainz endokrinologisch-chirurgische Symposien und wies im Vorwort zum letzten Sammelband „Fortschritte der endokrinologischen Chirurgie“ (1980) auf die sich damals abzeichnende Entwicklung hin. Nachdem sich 1979 anlässlich des Kongresses der Société Internationale de Chirurgie in San Francisco noch auf Initiative des zu früh verstorbenen schwedischen, aus Deutschland stammenden Kollegen Peter Heimann, und unter dem ersten Präsidenten S. Taylor, London, die International Association of Endocrine Surgeons (IAES) formierte und erstmalig mit einem eigenen Programm hervortrat, hat 1982 auch die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie eine eigene Arbeitsgemeinschaft für dieses zunehmend anspruchsvolle Spezialgebiet ins Leben gerufen.“

1979 wurde während des Kongresses der International Society of Surgeons (ISS, Société Internationale de Chirurgie) nach der IAES (23) auch die erste unabhängige kontinentale Fachgesellschaft für Endokrine Chirurgie gegründet: die American Association of Endocrine Surgeons (AAES), heute eine internationale Fachgesellschaft mit über 600 Mitgliedern aus 30 Ländern. Gründungsväter waren Orlo Clark, Tony Edis, Edward Kaplan, Jack Monchik und Norman Thompson. Dies waren Chirurgen, die basierend auf ihrer persönlichen Expertise und frühen Kooperation mit endokrinologisch tätigen Klinikern und Grundlagenwissenschaftlern in den Folgejahren die fachlichen Voraussetzungen einer klinisch-praktischen, auf den Ergebnissen der translationalen Medizin beruhenden evidenz-basierten Endokrinen Chirurgie schufen.

2004 wurde von Henning Dralle, Bruno Niederle, und Paolo Miccoli die European Society of Endocrine Surgeons (ESES) und 2006 von Henning Dralle und Gregory W. Randolph die International Nerve Monitoring Study Group (INMSG) gegründet. Die ESES veranstaltet zweijährliche internationale Kongresse und in den Zwischenjahren internationale, einem bestimmten Thema der Endokrinen Chirurgie gewidmete Workshops, deren Ergebnisse im Langenbecks Archives of Surgery publiziert werden. Die INMSG hat zuerst 2011 [20], dann in den Folgejahren mehrere Konsensusempfehlungen zur Theorie und Praxis des Neuromonitorings in der Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie veröffentlicht.

Zertifizierung

Seit dem Jahr 2011 ist durch die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) eine jeweils für drei Jahre gültige Zertifizierung als Zentrum für Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie oder für Endokrine Chirurgie möglich. Im Juli 2022 waren 22 Zentren als Kompetenzzentren und neun Zentren als Referenzzentren für Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie zertifiziert. Zertifizierte Zentren für Endokrine Chirurgie, die auch Operationen von Nebennieren und neuroendokrinen Tumoren beinhalten, sind derzeit drei Kliniken. Eine Zertifizierung als Exzellenzzentrum für Endokrine Chirurgie ist möglich, wurde bislang jedoch noch nicht vergeben.

Das Erreichen einer DGAV-Zertifizierung ist für die zu zertifizierenden Kliniken mit einer Vielzahl von in der Zertifizierungsordnung 6.0 (Version vom 01.01.2021) zu erfüllenden Vorgaben verbunden. Diese orientieren sich sowohl an der Ausstattung der Kliniken (zum Beispiel dem Neuromonitoring, dem intraoperativen Gefrierschnitt), der Anzahl und Ausbildung der verantwortlichen Chirurgen, definierten operativen Eingriffszahlen und deren Komplikationsraten, einer Datendokumentation im StuDoQ-Register und eines eintägigen Audits. Um die Expertise der Chirurgen zu dokumentieren, die die endokrin-chirurgischen Eingriffe durchführen, wurde in der aktuellen Zertifizierungsordnung im Gegensatz zu früheren Versionen die Anzahl der erforderlichen Operationen pro Operateur vorgegeben.

Trotz eines Urteils des Bundesgerichtshofs vom 18.01.2012 (Az.: I ZR 104/10), das ausführt, der Begriff „Zentrum“ deute im stationären Bereich auf eine hochspezialisierte Abteilung hin, „deren Fachkompetenz und Erfahrung erheblich über dem Durchschnitt liege“, wird dieser Begriff heute auf zahlreichen Klinikwebseiten in geradezu inflationärer Weise verwendet. Da der Begriff „Zentrum“, entsprechend einer Veröffentlichung der Bundesärztekammer im Jahr 2015 nicht grundsätzlich geschützt ist und viele Kliniken unter einem nicht unerheblichen wirtschaftlichen Druck stehen, finden sich mehr oder weniger fantasievolle Eigenkreationen für Zentrumsnamen, entworfen von Marketingabteilungen, inzwischen auf zahlreichen Klinikwebseiten. Hinzu kommen Anbieter, die eine Beteiligung an Netzwerken zum Beispiel für Schilddrüsenchirurgie und den Begriff eines Zentrums gegen einen höheren vierstelligen Eurobetrag pro Jahr verkaufen.

Selbst angesehene Chirurgen haben im Jahr 2022 keine Bedenken, ihre Kliniken als Zentren für Endokrine Chirurgie, Schilddrüsenchirurgie oder Schilddrüsenkarzinome auf einer Webseite zu bezeichnen, selbst wenn dort pro Jahr weniger als 20 Schilddrüsenoperation stattfinden. Patienten, die sich zunehmend online über Behandlungsmöglichkeiten informieren und den Begriff eines Zentrums mit Kompetenz, Vertrauenswürdigkeit und der Hoffnung auf eine erfolgreiche Behandlung in Verbindung bringen, werden dadurch bewusst getäuscht. Engagierte Chirurgen, die ihre Möglichkeiten kennen und ihre Patienten bestmöglich behandeln wollen, sollten einen Behandlungsauftrag und das Vertrauen, das ihnen Menschen in einer für sie nur schwer einzuordnenden Situation entgegenbringen, nicht auf dem Boden des Tatbestands der irreführenden Werbung verspielen.

Register

Mit dem Ziel einer multizentrischen Dokumentation und Auswertung der Ergebnisse der Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie wurde im Jahr 2004 das Scandinavian Quality Registry for Thyroid, Parathyroid and Adrenal Surgery (SQRTPA) gegründet, in dem in Schweden seit 2008 aktuell 85 bis 90 Prozent der Eingriffe der genannten Organe erfasst werden. Weitere Register wurden in Großbritannien (UKRETS), in den USA (CESQIP) und in Deutschland (StuDoQ) etabliert (Tab. 1). Im StuDoQ-Register Schilddrüse und Nebenschilddrüse wurden von 2017 bis 2020 55.300 Patienten dokumentiert. Dies entspricht 19 Prozent aller in diesem Zeitraum erfolgten 294.534 Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenoperationen in Deutschland (www.destatis.de).

Tab. 1: Multizentrische Register zur Erfassung endokrin-chirurgischer Operationen

Name

Länder

Start

Kliniken (n)

Zeitraum

Fälle (n)

Erkrankungen

SQRTPA

Schweden

2008

37

2008-2021

21.500

SD, NSD, NN

UKRETS

Großbritannien

2010

292*

2016-2020

46.690

SD, NSD, NN

CESQIP

USA

2014

56

2014-07/2022

63.847

SD, NSD, NN

EUROCRINE

18 europ. Länder und UAE**

2015

111

2015-07/2022

117.989

SD, NSD, NN, NET

StuDoQ

Deutschland, Österreich

2017

>80

2017-10/2021

76.434

SD, NSD

* Chirurgen (consultants), ** Vereinigte Arabische Emirate; Stand 05.08.2022

Im Vergleich zu den bisherigen Datenerfassungen der Krebsregister oder auch des wissenschaftlichen Instituts der AOK [17; 18], bieten die nun vorliegenden Qualitätsregister die Möglichkeit der Dokumentation einer Vielzahl von Items, die vor allem prä-, intra- und postoperativ chirurgische Aspekte und Fragestellungen detailliert beantworten können. Dies ermöglicht einerseits multizentrische Analysen großer Fallserien in einem umschrieben kurzen Zeitraum, zum Beispiel zur Bewertung diagnostischer Maßnahmen wie der präoperativen Kalzitoninbestimmung vor Schilddrüsenoperationen bei 29.590 Patienten [31] oder der Lokalisation von hyperfunktionellen Nebenschilddrüsen mittels 4D-CT bei 1.630 Patienten mit primärem Hyperparathyreoidismus [15]. Anderseits können bei entsprechend langer Verlaufsbeobachtung auch Erkenntnisse über die Effektivität einer Therapie, wie zum Beispiel der Lymphknotendissektion beim papillären oder medullären Schilddrüsenkarzinom gewonnen werden, während Krebsregister nur Geschlecht, Alter und Überleben, in manchen Bundesländern sogar unabhängig von der Entität der Schilddrüsenkrebserkrankung, beschreiben.

Gleichermaßen gilt für alle Register, dass die Datenqualität von der Sorgfalt der Eingabe und der Bereitschaft zu einer schonungslos offenen Dokumentation, auch im Falle von Komplikationen, abhängt. Ein regelmäßiges Monitoring zur Überprüfung der Qualität der Daten im Sinne einer Vermeidung zufälliger oder auch systematischer Fehler ist daher unerlässlich. Ob diese Überprüfung nur anhand der erhobenen Daten ausreichend ist oder eine Auditierung exaktere Ergebnisse liefert, ist derzeit zumindest für das StuDoQ-Register noch nicht abschließend geklärt.

Uneinheitlich ist auch die Finanzierung der verschiedenen Register, die teils – wie in den USA – über die teilnehmenden Chirurgen/Kliniken, wie in Deutschland oder Schweden über chirurgische oder staatliche Institutionen, oder wie in Großbritannien über die Industrie erfolgt. Das europäische EUROCRINE-Register wurde initial über Forschungsmittel der EU finanziert.

Für alle teilnehmenden Kliniken ist ein verantwortungsvoller Umgang mit den erhobenen Daten unter Einhaltung aller Bestimmungen des jeweils gültigen Datenschutzes unbedingt zu gewährleisten.

Ausblick

Die Endokrine Viszeralchirurgie blickt auf eine jetzt über 40-jährige Geschichte zurück: Mit der 1979 erfolgten Gründung der International Association of Endocrine Surgeons (IAES) avancierte das Gebiet von einer seit Beginn der klassischen Chirurgie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reichenden Chirurgie einzelner endokriner Organe zu einem klar umrissenen Schwerpunkt innerhalb der Allgemein-/Viszeralchirurgie.

Bezogen auf die anderen viszeralchirurgischen Schwerpunktbereiche, deren chirurgisch-anatomischer Fokus ausschließlich im Abdomen liegt, ist die Endokrine Viszeralchirurgie aus Gründen der Erkrankungshäufigkeit je nach Spezialisierungskonzept zu 90 bis 100 Prozent im Halsbereich lokalisiert. Die Chirurgie dieses Bereiches erfordert besondere anatomische und erkrankungsbezogene Kenntnisse. Auch ihre Qualitätskontrolle unterscheidet sich grundlegend von derjenigen des Abdomens. So lassen zum Beispiel die beiden Hauptkomplikationen von Operationen im zentralen Halsbereich, Stimmlippenparese und Hypoparathyreoidismus, postoperativ hinsichtlich ihrer Reversibilität oder ihres Fortbestehens erst nach frühestens sechs Monaten [25] eine definitive Aussage zu. Studien einschließlich Register, die diese Mindestvoraussetzung nicht erfüllen, sind aufgrund der relativ hohen Frequenz passagerer Funktionsstörungen daher für eine „real live“-Beurteilung wenig geeignet.

Die sich für die praktische und akademische Endokrine Viszeralchirurgie heute und für die nächste Zukunft ergebenden Ziele können in folgenden Thesen zusammengefasst werden:

1. Etablierung eines endokrinchirurgischen Curriculums

Die von Patienten ebenso wie nichtoperativen Kooperationspartnern an den endokrinen Viszeralchirurgen gestellten Erwartungen und Anforderungen gehen heute erheblich über das hinaus, was durch die Weiterbildungsordnungen an Rüstzeug auf chirurgisch-technischem, (patho-)physiologischem, pathologisch-anatomischem, nuklearmedizinischem und endokrinologischem Gebiet zur qualifizierten Patientenversorgung erforderlich ist. Zur Behebung des Ausbildungsdefizits ist nicht ausreichend, die Operationszahlen in den Weiterbildungskatalogen zu erhöhen, da diesen ohnehin schon enge Grenzen gesetzt sind. Notwendig ist die Etablierung eines strukturierten Curriculums, das wie auch in anderen Ländern am besten im Rahmen einer Subspezialisierung, zum Beispiel nach dem Konzept der Division of Endocrine Surgery der UEMS umzusetzen ist.

2. Verbesserung der Weiterbildung in der komplexen Zervikomediastinalchirurgie

Wie sich anhand der in endokrinchirurgischen Abteilungen gestiegenen Operationszahlen onkologischer Reeingriffe zeigt, besteht ein signifikantes Defizit in der viszeralendokrinen Kompartmenttechnik des zentralen und lateralen Halsbereiches sowie Mediastinums. Die Hinzuziehung anderer operativer Disziplinen kann im Einzelfall berechtigt sein, lässt aber gleichzeitig auch deren Interesse an einer „freundlichen Übernahme“ wachsen.

3. Sicherung der retroperitonealen und abdominell endokrinen Viszeralchirurgie als unverzichtbarer Bestandteil der Endokrinen Chirurgie

Die Endokrine Chirurgie nicht nur der minimalinvasiven Chirurgie benigner Nebennie­rentumoren, sondern auch der abdominell-retroperitonealen Paragangliome, und insbesondere die Chirurgie der sporadischen und hereditären gastroenteropankreatischen neuroendokrinen Tumoren liegt im Zentrum unseres viszeralonkologischen Fachgebietes und ist damit unverzichtbarer Bestandteil der endokrinen Chirurgie.

4. Schaffung eigenständig-unabhängiger Abteilungsstrukturen als notwendige Voraussetzung zur Weiterentwicklung der Endokrinen Viszeralchirurgie

Die Endokrine Chirurgie hat sich in den zurückliegenden 40 Jahren weltweit als eigenständiges Gebiet der Viszeralchirurgie entwickelt. Nationale und internationale Fachgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften vertreten das Gebiet nach innen und außen. Die meisten vergleichbaren Länder verfügen innerhalb der Chirurgischen Departments seit langem über entsprechende Abteilungsstrukturen, die in der Lage sind, nachhaltige Ausbildungsvoraussetzungen in der Endokrinen Viszeralchirurgie zu schaffen, und dem chirurgischen Nachwuchs Perspektiven zu bieten. Nationale Zertifizierungen und Register können zur Verbesserung der Behandlungsqualität beitragen, jedoch nicht eine von Beginn an spezialisierte Weiterbildung ersetzen.

5. Forcierte Bildung akademisch-universitärer Zentren für Endokrine Viszeralmedizin

Nicht nur für den endokrinchirurgischen Nachwuchs, auch für die gebietsbezogene Forschung als Keimzelle und Kristallisationspunkt der Entwicklung neuer Methoden und Techniken sind die universitären Zentren eine unabdingbare Voraussetzung. Gerade auf dem Gebiet der endokrinonkologischen Viszeralmedizin vollzieht sich derzeit ein gravierender dynamischer Wandel, in dem der Chirurgie eine zentrale Rolle und Bedeutung zukommt. Nur durch praxisrelevante Forschung können die chirurgischen Konzepte in Behandlungsempfehlungen und Leitlinien überzeugend eingebracht werden. Die Universitätskliniken in Deutschland sollten daher zur Schaffung eines qualifizierten Nachwuchses und besseren Sichtbarkeit ihre Möglichkeiten zur Schaffung profilbildender Strukturen noch wesentlich forcierter nutzen als bislang.

Literatur

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BDC|Akademie

Facharztseminar Allgemein- und Viszeralchirurgie

Dieses traditionelle Berliner BDC-Seminar zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung ist das älteste seiner Art in Deutschland und findet seit 1990 statt. Ziel war es und ist es, ein komprimiertes und intensives Repetitorium anzubieten, das umfassend die Inhalte der Weiterbildungsordnung Viszeralchirurgie und Allgemeinchirurgie in Form eines „Crash-Kurses“ darstellt. Es soll aber auch als „Update“ dienen und einen aktuellen und fundierten Überblick über das Gebiet der Allgemein- und Viszeralchirurgie geben. So ist das Seminar zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung geeignet, gleichermaßen aber auch als „Refresherkurs“ für gestandene Fachärzte.

Facharztseminar Allgemein- und Viszeralchirurgie in Berlin
Prof. Dr. med. Thomas Steinmüller
13.03. bis 17.03.2023

Informationen & Anmeldung…

Korrespondierender Autor:

Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Henning Dralle, FRCS, FACS, FEBS

Leiter Sektion Endokrine Chirurgie

Klinik für Allgemein,- Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin Essen

[email protected]

Prof. Dr. med. Theresia Weber, FEBS

Chefärztin

Klinik für Endokrine Chirurgie

Referenzzentrum für Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenchirurgie

Marienhaus Klinikum

[email protected]

Prof. Dr. med. Frank Weber

Stellvertretender Leiter Sektion Endokrine Chirurgie

Klinik für Allgemein,- Viszeral- und Transplantationschirurgie

Universitätsmedizin Essen

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Chirurgie

Henning Dralle; Theresia Weber; Frank Weber Endokrine Viszeralchirurgie. Passion Chirurgie. 2020 Oktober; 12(10): Artikel 03_01.

Diesen Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Viszeralchirurgie.

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