01.05.2013 BDC|Spektrum
Einheit der deutschen Chirurgie
Einheit, ein Wort, das allen wie selbstverständlich von den Lippen geht! Ohne nachzudenken versteht man seine Bedeutung. Dies heißt jedoch keineswegs, dass Einheit für alle den gleichen Sinn besitzt. Je nach Herkunft, Ausbildung und Umfeld wird der Sinn unterschiedlich interpretiert.
Der Wortstamm
Der Wortstamm gründet in grauer Vorzeit. Die zweite Silbe“ heit“ wurzelt im Indogermanischen und meint: fassen, halten, packen. Im Gotischen wird daraus haidus: Art oder Weise und im Altsächsischen schließlich häd: Stand, Würde, Wesen, Gestalt und Rang. „Heit“ im heutigen Sinne bedeutet am ehesten die Art und Weise wie etwas beschaffen ist. Die Ein-„heit“ ist demnach beschaffen aus dem Einen. Die vielfältige Verwendung des Wortes legt nahe, dass die uralte Bedeutung Wesen, Gestalt und Rang noch immer mitschwingt.
Der Begriff
Mythen, Geschichte und Religion sind in unserer Sprache und in unserem Denken jedenfalls weit mehr präsent, als es sich aufgeklärte Menschen vorstellen können. Der Begriff “Einheit” beschreibt so etwas ganz Besonderes! In der Militärsprache, in der Physik, in der Mathematik, in der Philosophie und in der Religion wird dieses Wort verwandt. Es definiert dabei stets eine Wesenseinheit, die auf Zeit oder „auf ewig“ angelegt ist. Hinterfragt man den Begriff Einheit weiter, entwickeln sich zwei Bedeutungsformen: Der Begriff Einheit wird einerseits verwandt, um die Welt besser zu verstehen und zu kategorisieren. Andererseits, weil man der Unwägbarkeit des Lebens zu begegnen sucht. Da verspricht die größere Gruppe Schutz und Schirm. Nicht umsonst sprechen wir von militärischer Einheit, von Einigkeit und Recht und Freiheit, von der Einheit des deutschen Volkes und auch von der Einheit der deutschen Chirurgie.
Aus diesem Zusammenhang erschließt sich der Beweggrund für Einheit. Einheit wird nur dann zum handlungsleitenden Begriff, wenn eine Gruppe in der Vereinigung eine Sinnstiftung erkennt, oder wenn sie sich den Unwägbarkeiten der Zeitläufte bzw. einer äußeren Bedrohung gegenüber sieht. Einheit bietet Geborgenheit . Dabei wird die Einheit nicht allein bestimmt von einer beeindruckenden Zahl ihrer Mitglieder.
Auch kleine Gruppen schließen sich in Einheit zusammen. Auch sie bilden hierarchische Strukturen, die Schutz und Sicherheit bieten. Solange man sich in der Welt, und sei sie auch nur eine Scheinwelt, sicher einzurichten versteht, gibt es keine Notwendigkeit, an eine übergeordnete Gemeinschaft Souveränität abzugeben.
Einheit in der Chirurgie ein handlungsleitender Begriff?
Das Dach der deutschen Chirurgie wird getragen von Säulen sehr unterschiedlicher Tragkraft. Jede besitzt ihre eigene Struktur. Jede ist wichtig für die Statik des Gesamtgebäudes. Manche scheint so mächtig, dass sie sich zutraut das Dach ohne Andere zu tragen.
Was soll da die Einheit der deutschen Chirurgie – vielleicht sogar die Einheit der deutschen Ärzteschaft in bestimmten für das Medizinsystem wichtigen Fragen?
Wo sind im Umfeld die Unwägbarkeiten?
Wo die möglichen Bedrohungen?
Ein kritischer Blick schafft schnell Klarheit!
Die Demographie ist, nach Meinung vieler Ökonomen, die am besten untersuchte Katastrophe nach dem zweiten Weltkrieg. Europa wird von einer gewaltigen Finanzkrise betroffen, deren Ende nicht abzusehen ist. Im günstigsten Falle beschert sie uns eine galoppierende Inflation, im ungünstigste Falle ein Ende der EU, wie wir sie kennen.
Wir erwarten europaweit bis zum Jahre 2020 einen Mangel von 1.000.000 Fachkräften im Medizinsystem. Auf dem Personalmarkt wird ein Kampf um die besten Köpfe entbrennen. Vor allem in der Pflege wird der Mangel dramatische Ausmaße annehmen.
Die Generation Y drängt in den Beruf. Sie besitzt einen gänzlich anderen Wertekompass als die Generation X oder die Babyboomergeneration. Mit zunehmender Lebenserwartung werden die Menschen länger gesund bleiben. Danach aber erwartet man sehr viel mehr Multimorbidität als heute – bis 2020 etwa 30 Prozent mehr Colon- und Rectumcacinome, 25 Prozent mehr Diabetiker und bis zu 90 Prozent mehr Demenzkranke.
Das Finanzvolumen, das die Mehrleistung im Gesundheitssystem und die jährlich deutlich steigenden Personal-, Sach- und sonstigen Kosten abdecken soll, reicht längst nicht mehr aus. In den Kliniken öffnet sich die Schere zwischen Kosten und Erlösen immer weiter. Die gegen das Medizinsystem gerichtete Zinseszinsspirale beginnt das Patientenwohl zu gefährden. 30 Prozent der deutschen Kliniken sind derzeit von Insolvenz bedroht.
Ein viel zu träges, in manchen Bereichen ungerechtes, ja geradezu unsinniges DRG-System tut ein Übriges. Es setzt in vielen Fällen falsche Leistungsanreize – ganz abgesehen vom längst wissenschaftlich bewiesenen Unsinn der Boni und der Zielvereinbarungen. Sie zielen, im Sinne der reinen ökonomischen Lehre, noch immer auf Masse nicht auf Klasse.
Ein stetig enger werdendes Korsett von Gesetzen und Vorschriften, primär zum Schutze der Patienten erdacht, bindet Arbeitskraft und Personal, ohne dass dem in den Personalplänen Rechnung getragen werden könnte.
Ein steigender Anteil der Kliniken muss dennoch nicht allein die eigenen Kosten erwirtschaften. Vielmehr sind aus dem Sozialsystem auch Investitionskosten und ein nicht selten saftiger Shareholdervalue herauszupressen – in Gänze gegen die Bestimmungen des Krankenhausfinazierungsgesetzes.
Die Kapitalknappheit zwingt die Kliniken sich in Einkaufsgemeinschaften zusammenzuschließen, um Marktmacht zu entwickeln und die Einkaufspreise zu drücken. Dies begrenzt die Gewinnmargen der Industrie und der Lieferanten.
Die Investitionen in Fort-und Weiterbildung schrumpfen schmerzhaft. Eine alternative Finanzierung ist kaum in Sicht. Die sektorübergreifende Versorgung wird mehr und mehr bislang klinische Leistungen in den ambulanten Sektor verlagern. Eine Reform der Musterweiterbildungsordnung steht an. Die Weiterbildung muss sektorübergreifend geplant, ambulante und klinische Versorgungsformen sinnvoll einbeziehen.
Aber wie bereitet sich die Politik auf die absehbaren Turbulenzen vor?
Man lehnt sich zurück und beobachtet das Treiben, empfiehlt mehr Wettbewerb und hofft, dass sich das Chaos lichte – hat man doch mit dem GemBA , dem IQUIG und dem AQUA Institutionen mit quasi gesetzgeberischer Funktion geschaffen. Diesen fehlt zwar die demokratische Legitimation, man überträgt ihnen aber gerne die ungeliebte Aufgabe, das Medizinsystem zu lenken.
Einmal mehr drängt sich der Eindruck auf, dass die politischen Entscheider, wie es heute so treffend heißt, nicht unbedingt das Wohl der Schutzbefohlenen im Auge haben. Dies ist jedoch unschädlich, da man die Ärzteverbände, fest im Griff hat.
In der trügerischen Hoffnung ein größeres Stück vom schrumpfenden Kuchen abzubekommen, bringen sie sich nicht selten gegeneinander in Stellung.
Man könnte so fortfahren!
Jedoch: ist die Problem – und Bedrohungslage nicht so ernst, um endlich eine Einheit der deutschen Chirurgie zum handlungsleitenden Begriff zu erheben?
Haben wir noch die richtigen Organisationsformen?
Sind die Aufgaben unter den Fachärzten so verteilt, dass dem Patientenwohl in bester Weise gedient wird?
Sind unsere Indikationen nach dem Stand der Wissenschaft immer noch korrekt?
Werden teure Geräte und Einrichtungen in idealer und wirtschaftlicher Weise genutzt?
Wohl kaum.
Gibt es eine Alternative?
Frei nach Ferdinand Piaech sei gesagt:
„Das Gesundheitssystem gehört wieder in die Hände der Ärzte. Sie haben Medizin im Blute. Sie sind die Besten ihrer Jahrgänge. Sie können mindestens genauso gut rechnen wie die Ökonomen oder die sogenannten Entscheider. Umgekehrt gilt dies nicht!“
Wer aber an den demokratischen Entscheidungsprozessen wirklich beteiligt sein will, wer das neue Medizinsystem vernünftig mit gestalten will, muss die Spielregeln der Demokratie verinnerlichen. Ohne die Souveränität der einzelnen Gruppen zu tangieren, ist Einigkeit notwendig – zumindest in den für das Medizinsystem wichtigen Fragen. Die Chirurgengemeinschaft muss die Meinungsmacht wiedergewinnen. Es muss gelingen die Einheit der Verbände und Gesellschaften in wichtigen Fragen zu erlangen. Der Einfluss einer großen Zahl von Meinungsbildnern eröffnet die Möglichkeit, die Probleme zielführend angehen zu können.
Ludwig Erhard hat es in Bezug auf Europa so formuliert:
„Wehe dem, der glaubt, man könne Europa etwa zentralstaatlich zusammenfassen, oder man könne es unter eine mehr oder minder ausgeprägte zentrale Gewalt stellen.
Nein – dieses Europa hat seinen Wert, auch für die übrige Welt, gerade in seiner Buntheit, in der Mannigfaltigkeit und Differenziertheit des Lebens.“
Dies gilt ganz sicher auch für die Fachgesellschaften und Verbände.
Es geht nicht um eine Fusion – vielmehr um die Kooperation dort, wo Ressourcen besser genutzt werden können und um die Einigkeit in den wirklich wichtigen Fragen. Fragen, die, vor allem in der Politik, in gemeinsamer Stärke vorgetragen und einer Lösung zugeführt werden müssen.
Es geht allerdings auch um Mut zur Veränderung.
Denn: Was wäre die Alternative zur Einheit der deutschen Chirurgie?
Bruch H.P. Einheit der deutschen Chirurgie. Passion Chirurgie. 2013 Mai, 3(05): Artikel 07_01.
Autor des Artikels
Prof. Dr. med. Hans-Peter Bruch
ehem. PräsidentBerufsverband der Deutschen Chirurgen e.V.Luisenstr. 58/5910117BerlinWeitere Artikel zum Thema
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