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Interview mit Prof. Dr. Stefan Stoll

Medizin 4.0: Robotik, Big Data, E-Health – nur einige Schlagworte, die oft fallen, wenn es um die digitale Chirurgie geht. Aber was genau wird sich für Chirurginnen und Chirurgen ändern? Darüber haben wir beim Bundeskongress Chirurgie in Nürnberg mit Stefan Stoll gesprochen. Er ist Leiter des Studiengangs Wirtschaftsinformatik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Villingen Schwenningen. Auch durch die Zusammenarbeit mit Medizintechnik-Unternehmen beschäftigt Stoll sich schon seit einigen Jahren mit der Digitalisierung in der Chirurgie.

Wie wird die Zukunft der Chirurgie aussehen?

Prof. Stoll: Der OP der Zukunft ist mit dem Internet verbunden. Von allen Geräten und auch vom Patienten wird es einen „Digitalen Zwilling“ geben. Digitale Zwillinge kennen wir aus unserem Alltag. Wenn Sie z. B. die Reise eines Pakets, das Sie bestellt haben, auf Ihrem Laptop verfolgen, dann verfolgen Sie seinen „Digitalen Zwilling“. Das Paket hinterlässt eine Datenspur im Internet. Ebenso generiert jeder medizinische Eingriff unzählige Daten. Diese Daten ermöglichen nun eine bisher nicht vorstellbare „feingranulare“ Sicht auf Patienten und auf das Operationsumfeld. Die Digitalisierung wird Chirurginnen und Chirurgen noch besser machen und keinesfalls überflüssig. In der Chirurgie ist das Thema Robotik natürlich ganz groß – aber auch das ist in erster Linie als eine „Verlängerung“ der chirurgischen Hand zu sehen und nicht als Substitut.

Was wird sich konkret im OP-Saal verändern?

Prof. Stoll: Die digitale Transformation wirft die grundsätzliche Frage auf, wie man Instrumente, Abläufe und Verfahren digitalisieren kann. Das heißt, in Zukunft werden chirurgische Instrumente Sensoren haben, die dem Arzt in Echtzeit Informationen liefern. Die Instrumente sind dann nicht nur lokal innerhalb des Saals miteinander vernetzt, sondern auch weltweit. Das wird beispielsweise schon bei einigen Hüftoperationen durchgeführt. Die Implantate enthalten Sensoren, die schon beim Einsetzen Signale senden. Gleichzeitig wird eine solche Hüfte zu einem Teil des „Internets der Dinge“. Die von dieser einzelnen Hüfte generierten Daten werden mit den Daten anderer, ebenfalls mit Sensoren ausgestatteter Hüften, auf großen Computern (CloudComputing) zusammengeführt und dort analysiert. Ärzte erhalten somit Daten (OP-Verfahren, Komplikationen, Wundheilung, Rehabilitation etc.), die in Quantität und Qualität (empirische Evidenz) weit über den bisher zur Verfügung stehenden Daten liegen.

Bedeuten mehr Informationen auch mehr Kontrolle über Chirurginnen und Chirurgen?

Prof. Stoll: Das wird von Ärzten natürlich kritisch gesehen. „Wir wollen nicht so beobachtet werden“, habe ich vor kurzem erst von ambulanten Chirurgen gehört. Aber letztendlich werden wir neue Daten gewinnen, die Chirurgen helfen werden, sich zu verbessern. Die Geräte und Instrumente werden über eine Cloud miteinander vernetzt sein, sodass eben nicht nur die Erfahrungen und Ergebnisse eines einzelnen Chirurgen betrachten werden, sondern zig tausende Patientendaten ausgewertet werden können. Wir haben dann Daten, die belegen, was gut funktioniert und was nicht.

Ich beschäftige mich jetzt seit mehreren Jahren mit diesem Thema und in erster Linie ist es großes Interesse, was mir bei dem Thema entgegen gebracht wird. Im Kern wollen alle Chirurgen noch bessere Chirurgen werden. Und dabei hilft die Digitalisierung im OP.

Was bedeutet das für die Weiterbildung von Chirurginnen und Chirurgen?

Prof. Stoll: Wir können die Operateure auf eine ganz neue Stufe der Performance heben. Das gilt natürlich vor allem im Bereich der Weiterbildung. Dabei rede ich nicht von absoluten Spezialisten, die auch ohne digitalisierte OP-Säle State oft the Art operieren. Aber die Frage ist doch, wie die Operateure dorthin gelangt sind. Und das können wir durch die Vernetzung der Daten für Chirurgen vereinfachen und die Chirurgie für Patienten wahrscheinlich insgesamt noch sicherer und zuverlässiger gestalten.

Wie kann die Qualität genau gesteigert werden?

Prof. Stoll: Eine Analogie, die ich gerne als Beispiel erzähle – die vor allem auch Kritiker der Digitalisierung zum Nachdenken bringt: Gemeinsam mit einem Werkzeughersteller haben wir überlegt wie Handwerker auf internationalen Baustellen schnellen Zugriff auf die jeweiligen Richtlinien (vergleichbar mit DIN-Normen) bekommen. Im ersten Versuch haben wir Tablets mit den Richtlinien auf den Baustellen verteilt – sie wurden nicht genutzt. Am Ende war die praktikabelste Lösung, dass die Werkzeuge direkt über eine Software die passende Richtlinie abrufen konnte. So kann man sich das Prinzip auch für den OP vorstellen: Die aktuellen AWMF-Leitlinien werden durch Software direkt auf Instrumente und Geräte übertragen – nach dem Motto: Software is eating the world. Die Leitlinie als Service integrieren, darin sehe ich unsere Aufgabe.

Wie weit sind wir in Deutschland?

Prof. Stoll: Dabei muss man ganz klar zwischen zwei „Geschwindigkeiten“ unterscheiden. Die Digitalisierung innerhalb der Medien, des Handels oder auch innerhalb der Industrie ist schon weit fortgeschritten und bereits Teil des Alltags geworden. In diesen Branchen musste schnell gehandelt werden, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Bereiche wie die Verwaltung und eben auch der Gesundheitssektor „ticken“ dagegen etwas langsamer. Meines Erachtens hemmen gerade im Gesundheitswesen die vielen Player und politische Reglementierung den Fortschritt. In den USA wird beispielsweise nicht gewartet bis sich Gesetze ändern. Ein kleines Unternehmen (Start-Up) entwickelt eine Software und fordert damit über Nacht eine ganze Branche heraus. So hat das Unternehmen „Netflix“ nie gefragt, wie der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk in Deutschland funktioniert. Sie haben über Vernetzung durch das Internet, Software und Algorithmen eine neue Möglichkeit für Film- und Videokonsum geschaffen. Und wir Deutschen lieben es, wie auch der Rest der Welt. Ebenso fragte Google nie, wie Werbung funktioniert. Man setzte auf Vernetzung, Software und Algorithmen und wurde damit zum größten Werbeunternehmen der Welt. Es stehen zahlreiche Unternehmen bereit, um auch den Gesundheitsmarkt in Deutschland zu „disrupten“. Wir müssen also handeln!

Was müssen wir in Bezug auf Datenschutz in Deutschland lernen?

Prof. Stoll: Dabei muss uns klar sein, wohin wir eigentlich wollen – der Patient muss im Fokus stehen. Wenn wir dem Wunsch von Patienten nachgehen und Gesundheitsinformationen intersektoral zwischen den Ärzten ausgetauscht werden sollen, kommen wir nicht umhin, Daten digital zu übermitteln. Der Digitale Zwilling der Patientenakte wandert somit mit dem Patienten und ist damit auch überall vollständig und in Echtzeit verfügbar. Was für ein Vorteil. Für Patienten, wie auch für Ärzte! Sicher muss der Datenschutz, gerade bei sensiblen Patientendaten, eingehalten werden. Aber in anderen Bereichen z. B. beim Steuerberater oder bei der Benutzung unserer Smartphones denken viele gar nicht darüber nach, welche Daten wo gespeichert werden. Im Gesundheitswesen muss jeder Bürger die Möglichkeit bekommen, zu bestimmen wie viele Daten er oder sie preisgeben möchte. Gleichzeitig muss aber endlich auch deutlich gemacht werden, welche Vorteile jeder Einzelne davon haben wird.

Zur Person: Prof. Dr. Stefan Stoll

Diplom-VolkswirtInstitut für Digitale Technologien und Innovationen, Freiburg
Leiter des Studiengangs Wirtschaftsinformatik
Business Engineering, Digital Management, Technologie & Innovationsmanagement
Fakultät für WirtschaftDualen Hochschule Baden-Württemberg
Karlstraße 2978054 Villingen-Schwenningen
07720 3906-161
01[email protected]

Weilbach J: Ein Blick in die Zukunft des OP-Saals. Passion Chirurgie. 2018 März, 8(03): Artikel 03_02.

Autor des Artikels

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Julia Weilbach

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