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Nicht erst seit der Coronakrise hat sich der Vormarsch digitaler Technologien auch in der Chirurgie gezeigt. Schon seit einigen Jahren werden für Kongresse, Messen, Tagungen oder Symposien, innovative Web-Applikationen und Tools eingesetzt.

Für das Training in der Chirurgie wurden bis dato nur wenige digitale Tools oder Konzepte entwickelt, bzw. gibt es unseres Wissens noch keine Anwendung, welche sich nachhaltig in der Community durchsetzen konnte. Die Herausforderung der Fusion digitaler Möglichkeiten mit dem handwerklichen und kognitiven Training bei der Ausbildung der Chirurgie sind nachvollziehbar, jedoch komplex zu lösen.

Diesen Herausforderungen haben sich die Autoren in dem Projekt „Sebastian“, das im Januar 2019 gestartet wurde und durch die österreichische Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) gefördert wird, angenommen.

Forschungsprojekt „Sebastian“ – digitales Training und Expertisemanagement

Seit 20 Jahren forscht Prof. Dr. Werner Korb an der Schnittelle zwischen Mensch und Technik im Operationssaal. Der Mission konsequent folgend, die Chirurgie sicherer zu machen, wurden seitdem einige Projekte ins Leben gerufen, um Chirurgen und Chirurginnen Möglichkeiten zu schaffen, komplexe Prozeduren sicherer zu trainieren. In seiner Forschungsgruppe an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig wurde u. A. die Simulationsanwendung RealSpine, eine hochrealistische Kunststoffsimulation für das Training in der Wirbelsäulenchirurgie, entwickelt. 2019 führten die Forschungsaktivitäten dazu, eine digitale Plattform zu entwickeln welche eine Ergänzung und Erweiterung zum analogen Training sein sollte. Eine Technologie, die sich den ungelösten Fragen im chirurgischen Training annimmt: Kann man Training messen? Wie kann Trainingserfolg in den OP transferiert werden? Wie kann man Training systematisieren?

Aus den Fragen ergibt sich der Titel des Projekts: Sensor based surgical training – integrated system and analytics (= Sebastian).

In der Luftfahrt wurden im Laufe der Zeit Ausbildungsformate entwickelt, die Training ohne echtes Risiko ermöglichen. In der Chirurgie werden demgemäß chirurgische Eingriffe zuerst am Präparat, am Tier, oder am Simulator trainiert, bevor junge Chirurgen und Chirurginnen das erste Mal selbst am Patienten Hand anlegen.

Für die vielen digitalen Trainingskonzepte (Virtual Reality, Augmented Reality, Mixed Reality), welche das Operieren am lebenden Menschen in einer virtuellen Umgebung simulieren, blieb ein nachhaltiger Erfolg aus. Vor allem die fehlende Haptik und ein OP-fremdes Szenario, ausbleibende Transfereffekte und somit ausbleibender Kompetenzzuwachs bzw. hohe Anschaffungskosten sind Gründe dafür.

Auch die Versuche, klassisches, bis spielerisches eLearning für die Chirurgie neu auszurichten, blieben bis dato weitgehend erfolglos.

Training in der Chirurgie kann also durch digitale Möglichkeiten nicht substituiert oder grundlegend verändert werden, sondern eher vereinfacht, ergänzt und systematisiert.

Feldanalyse – Mit chirurgischen Experten und Expertinnen im OP

In der ersten Forschungsphase des Sebastian-Projekts wurde analysiert, wer die Beteiligten im Training sind und wo die Verantwortlichkeiten liegen. Für bessere Qualität und letztendlich Sicherheit der Patienten und Patientinnen ist es notwendig, dass junge auszubildende Chirurgen und Chirurginnen nach wie vor von den älteren und erfahreneren Vorgesetzten lernen können. Wie zuvor erläutert, kann die Chirurgie – ein hochspezialisiertes Handwerk – nur analog, im „Szenario“, vom und mit dem Meister gelernt werden. Das seit Jahrhunderten etablierte Meister-Lehrlings-Prinzip „See One – Do One – Teach One“ kann trotz diverser Kritik (vgl. Rodrigue-Paz et al., 2009) nicht ersetzt werden (vgl. Hupp, 2018) und bildet in erweiterter Form die didaktische Grundlage des Projekts. Im ersten initialen Entwicklungsschritt wurde demgemäß ein Paradigmenwechsel für die Konzeption einer digitalen Lehr-Lern Umgebung vollzogen, um den unveränderlichen Ausbildungsbedingungen der Chirurgie gerecht zu werden.

Abb. 1: Training am Simulator, ein Ergebnis der Forschungsgruppe rund um Prof. Korb

Der Experte bzw. die Expertin wird ins Zentrum gerückt, weil gute Lehre letztendlich von der Ambition der Lehrenden bestimmt ist. In dieser Annahme sollten intelligente Tools den Herausforderungen der Lehrenden entgegentreten. Einzigartig ist, dass es in der Chirurgie, anders als in anderen Risikodomänen, keine speziell ausgewiesenen Lehrenden gibt. Die Chirurgen und Chirurginnen stehen viel eher pausenlos im OP. Für fachlich und pädagogisch qualitätsvolle Ausbildung des Nachwuchses muss nebenher gesorgt werden.

Abb. 2: Paradigmenwechsel: Fokus vom Trainee hin zum Experten

Unsere Studie Surgical Training in a World of limited Resources (Korb & Gernerth Mautner Markhof, 2019) hat neben dem Zeitproblem noch andere Herausforderungen des chirurgischen Trainings aus Experten- und Expertinnensicht aufgeschlüsselt. In der internationalen Studie wurden acht erfahrene Lehrende befragt und die Interviews mittels der Kognitiven Taskanalyse (vgl. Militello & Hutton, 1998), ausgewertet und interpretiert. Es konnte festgestellt werden, dass die fehlende Zeit bzw. strukturelle und finanzielle Probleme die Hauptprobleme im Training sind. Trotzdem muss die Ausbildung von den Experten und Expertinnen ausgehen. (siehe Abb. 3, Zeile: Pro „Do one, See one, Teach one“).

Abb. 3: Probleme im chirurgischen Training (Korb & Gernerth Mautner Markhof, 2019)

Daher muss die vordergründige Aufgabe sein, ein Konzept zu entwickeln, mit dem chirurgisches Good practise sharing zum hintergründigen, integrierten und systematisierten Bestandteil des OP-Alltags der Experten und Expertinnen wird.

MYSEBASTIAN: Eine Plattform für das Lehren und Lernen in der Chirurgie

Gemäß der oben genannten initialen Forschungsarbeiten wurde die intelligente und unabhängige Web-Plattform MYSEBASTIAN entwickelt. Die Browser-basierte Lösung ist responsive gestaltet und für jedes mobile Endgerät verfügbar.

Im Zentrum stehen die erfahrenen Chirurgen und Chirurginnen, welche über große Expertise verfügen, diese im OP anwenden, und dabei ständig noch mehr Wissen & Daten live im OP „produzieren“. Moderne Videotechnik ist untrennbar mit den wichtigen jüngeren Entwicklungen der Chirurgie (Endoskopie, Robotik etc.) verbunden. Es werden ununterbrochen große Datenmengen produziert, die größten Teils ungenutzt bleiben und in den unzugänglichen IT-Netzwerken der Krankenhäuser verhaftet bleiben.

Mit MYSEBASTIAN werden lernrelevante Case-Daten wie Videos, Bilder und Lernziele direkt aus dem OP mit vorgefertigten klinischen Prozeduren (Workflows) verknüpft. Die Workflows sind in einzelne Schritte und Unterschritte untergliedert und mit zugehörigen Inhalten befüllt. Ein einfach zu bedienendes UX-Konzept erlaubt den Usern, eigenen Lehrcontent mit nur wenigen Klicks den eigenen Bedürfnissen anzupassen.

Sowohl Trainees als auch die MedTech nutzen die aufbereiteten Daten für die Ausbildung bzw. die MedTech zudem für Content Management, Produktschulungen und Produktinnovationen. Aufgrund der Mobilität der Plattform wird MYSEBASTIAN für Hands-on-Kurse, Kongresse, Symposien und andere Events als Applikation genutzt. Es ist außerdem vorgesehen, dass sich die Nutzer bald mit verschiedenartigen Networking Tools direkt in MYSEBASTIAN vernetzen und austauschen können.

Für die Plattform wurde eine intelligente Ontologie, speziell angepasst an die Verhältnisse in der Chirurgie, entwickelt. Wissen wird nicht überschrieben, sondern kann nebeneinanderstehen. Konkret bedeutet das, dass sich klinische Workflows voneinander ableiten lassen, diese individuell angepasst werden können, jedoch die Vergleichbarkeit untereinander nicht verloren geht. Der mühsamen Suche nach einem einzigen Standard wird Einhalt geboten. Nunmehr entscheidet die Community im klassischen Review-Verfahren, welche Workflows als Best Practise gehandelt werden. Ein komplexes Rechte- und Rollenmanagement erlaubt einen Austausch ausschließlich unter Healthcare Professionals, nichtsdestotrotz ist der Einstieg niederschwellig und kostengünstig gehalten.

Abb. 4: MYSEBASTIAN – Eine intelligente und unabhängige Web-Plattform für das chirurgische Training

Der seit März 2020 laufende Beta-Test mit 44 aktiven Early-Adopter-Nutzern wurde im Januar 2021 evaluiert [1].

Dazu haben 21 Nutzer einen standardisierten Fragebogen online ausgefüllt.Unter den befragten Teilnehmern befanden sich fünf Chirurgen, 14 Medizintechnik-Vertreter, ein Student und ein Wissenschaftler.

85 % der Teilnehmer würden die Plattform an Chirurgen und Chirurginnen weiterempfehlen (42.9 % strongly agree; 42.9 % agree; 9.5 % neither agree nor disagree; 4.8 % disagree; 0 % do not agree at all).

90 % würden die Plattform an die Medizintechnik- und Pharmaindustrie für Produktschulungen weiterempfehlen (61.9 % strongly agree; 28.6 % agree; 9.5 % neither agree nor disagree; 0 % disagree; 0 % do not agree at all).

71.4 % der Teilnehmer meinen, MYSEBASTIAN kann für chirurgisches Training von den Lehrenden genutzt werden, 66.7 % sehen den Nutzen vor allem für die Lernenden, 57.1 % für Produktschulungen & Content-Management. Jeweils über 30 % der Befragten wünschen sich verbesserte Suchfunktionen (38.1 %) und online-Werkzeuge für „Benchmarking“ (33.3 %) im Training.

Insgesamt befindet sich das Forschungsprojekt somit auf dem richtigen Weg. Der neuartige Ansatz, Workflows und Trainings-Cases für das eLearning in der Chirurgie zu adaptieren, wird gut angenommen und sollte weiter ausgebaut werden.

Abb. 5: Funktionsmodell MYSEBASTIAN

Ausblick

Es braucht ein Umdenken im chirurgischen Training für mehr Qualität und Sicherheit. Mit MYSEBASTIAN wir der Ansatz verfolgt, dass digitale Möglichkeiten die ursächliche Konzeption von Ausbildung in der Chirurgie nicht umstoßen können und sollten. Die Zukunft der Chirurgie wird dennoch unweigerlich digital geprägt sein – sowohl im Operationssaal selbst, als auch im chirurgischen Training. Jedoch nicht per unreflektiertem Einsatz von „Digitalem“. Das Digitale sollte als Applikation zu bestehenden Konzepten verwendet werden.

Es benötigt simple Tools, die vor allem für die klinischen Experten und Expertinnen angepasst werden und im gestressten Berufsalltag funktionieren. Das kann schlussendlich Lehrende, Auszubildende und die forschende Industrie näher zusammenbringen.

Literatur

[1]   Gernerth Mautner Markhof, P., Korb, W., Miller, K., et al. (2021). Entwicklung und Validierung einer Online-Plattform für das chirurgische Training. Abstract wurde akzeptiert für den ÖCK2021, Salzburg, Österreich
[2]   Hupp, J. R. (2017). Strengthening feedback in surgical education. Journal of Oral and Maxillofacial Surgery, 75(2), 229-231.
[3]   Korb, W., Gernerth Mautner Markhof, P. et al., (2019). Surgical Training in a world of limited resources. White Paper. Self-publishing.
[4]   Militello, L. G., & Hutton, R. J. (1998). Applied cognitive task analysis (ACTA): a practitioner’s toolkit for understanding cognitive task demands. Ergonomics, 41(11), 1618-1641.
[5]   Rodriguez-Paz, J., Kennedy, M., Salas, E., Wu, A. W., Sexton, J. B., Hunt, E. A., & Pronovost, P. J. (2009). Beyond “see one, do one, teach one”: toward a different training paradigm. BMJ Quality & Safety, 18(1), 63-68.

Gernerth Mautner Markhof P, Frank K, Korb W: Die Zukunft des Digitalen im chirurgischen Training – Good Practise Sharing. Passion Chirurgie. 2021 Mai; 11(05): Artikel 03_02.

MYSEBASTIAN, Plattform für Management von chirurgischem Fachwissen

Autoren des Artikels

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Prof. Dr. Werner Korb

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Philipp Gernerth Mautner Markhof

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Dr. Karl Frank

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