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Ergebnisse einer Altersadjustierung der Daten zum OECD-Ranking

Die Deutschen bezahlen einen Mercedes, bekommen aber nur einen Volkswagen – diese populistische Metapher basiert auf internationalen Ausgabenvergleichen der OECD für die Gesundheitssysteme und besagt: Die Deutschen bezahlen zu viel für die Medizin, die sie bekommen. Unterfüttert wird dies durch Mengenvergleiche, insbesondere bei operativen Eingriffen. Fehlanreize und Überkapazitäten seien die Ursachen dafür, dass Deutschland bei etlichen Interventionen einen Welt-Spitzenplatz einnehme – auch dies gestützt auf Daten der OECD. Tatsächlich ändert sich das Ranking der OECD beträchtlich, wenn die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung im Vergleich zu der anderer Länder durch eine entsprechende Adjustierung berücksichtigt wird. Zu diesem Ergebnis kommt eine jüngst veröffentlichte Studie des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Krankenversicherung (WIP): „Eine Übertreibung im System oder eine Überversorgung im Vergleich zu anderen Ländern lässt sich mit den altersadjustierten OECD-Daten nicht mehr nachweisen.“

Nach den jüngsten von der OECD für das Jahr 2012 veröffentlichten Daten wendet Deutschland 11,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Gesundheitsausgaben auf und steht damit auf Platz 5 hinter den USA (16,9 Prozent), den Niederlanden (12,1 Prozent), Frankreich (11,6 Prozent) und der Schweiz (11,4 Prozent). Der OECD-Durchschnitt liegt bei 9,2 Prozent und 2,1 Prozentpunkte unter dem deutschen Wert. Die punktuelle Betrachtung verkennt allerdings, dass sich die Position Deutschlands im 2000er Jahrzehnt deutlich verändert hat: Von Platz 2 nach den USA auf den fünften Rang – Folge einer konsequenten Kostendämpfungspolitik ab 2003 nach einer dramatischen Verschuldung des GKV-Systems. Nur im Jahr 2009 wurde die Kostenbremse merklich gelöst.

Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben: 38 Prozent über OECD-Durchschnitt

Auch die Pro-Kopf-Ausgaben erscheinen auf den ersten Blick vergleichsweise hoch: Mit 4811 Dollar (kaufkraftparitätenbereinigt) liegt Deutschland um 38 Prozent über dem OECD-Durchschnitt von 3484 Dollar und steht auf Platz 6 nach den USA (8745 Dollar), Norwegen (6100 Dollar), der Schweiz (6080 Dollar), den Niederlanden (5219 Dollar) und Österreich (4896 Dollar). Die Franzosen erhalten Medizin um elf Prozent günstiger, die Briten sogar um fast 32 Prozent.

Tatsächlich sind diese Werte und Rangfolgen aber nur von begrenzter Aussagekraft, weil sie die unterschiedliche Demografie in den OECD-Ländern nicht berücksichtigen. So weist die deutsche Bevölkerung mit einem Medianwert von 44,3 Jahren nach Japan (44,6 Jahre) den höchsten Wert auf, Großbritannien kommt auf 39,8 Jahre, Frankreich auf 39,7 Jahre, die USA gar auf 36,8 Jahre. Auch die Schweiz und die Niederlande haben mit 41,3 und 40,8 Jahren eine jüngere Bevölkerung als Deutschland. Vor diesem Hintergrund führt der rohe Vergleich von Gesundheitsausgaben-Anteilen am BIP und Gesundheitsausgaben pro Kopf zu fehlerhaften Schlussfolgerungen.

Notwendig ist eine Adjustierung der Ausgaben, wozu die Autoren des WIP die indirekte Altersstandardisierung gewählt haben. Bei dieser Methode werden altersspezifische Fallzahlraten oder Pro-Kopf-Ausgaben als Standard definiert und auf die zu vergleichenden Länder mit gegebenen Altersstrukturen angewendet. Die Datenbasis dazu entstammt dem Risikostrukturausgleich und der Kopfschadenstatistik der PKV, die die altersabhängigen Gesundheitsausgaben pro Kopf in Fünfer-Jahresschritten abbilden. Diese deutschen altersgruppenspezifischen Pro-Kopf-Ausgaben werden sodann für die anderen OECD-Länder auf deren jeweilige Bevölkerungsstruktur umgerechnet und ergeben erwartete Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben. Diese Werte drücken aus, wie hoch die Gesundheitsausgaben in den übrigen OECD-Staaten wären, wenn sie die deutschen Pro-Kopf-Ausgabenprofile hatten. Setzt man nun die beobachteten Pro-Kopf-Ausgaben ins Verhältnis zu den tatsächlichen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben, so zeigt ein Wert von über 1, dass das Land seine Bevölkerung altersbereinigt teurer versorgt als dies in Deutschland der Fall ist.

Eingriff
Rangposition Deutschland
laut OECD-Daten
Rangposition
nach Alters­standardisierung
Veränderung
im OECD-
Ranking

Koronarbypass

3

10

+7

Operation des Leistenbruchs

6

12

+6

Brusterhaltende Chirurgie

4

9

+5

Transurthrale Prostataentfernung

4

8

+4

Offene Prostataentfernung

8

12

+4

Entfernung der Gallenblase

3

6

+3

Einsatz einer Hüftprothese

2

5

+3

Einsatz einer Knieprothese

5

8

+3

Mastektomie

14

17

+3

Koronarangioplastie

1

2

+1

Entfernung der Gebärmutter

1

2

+1

Stammzelltransplantation

3

4

+1

Nierentransplantation

19

19

0

Entfernung der Gaumenmandeln

7

6

-1

Entfernung des Blinddarms

6

3

-3

Nach Adjustierung: Deutschland rutscht auf Platz 9

In der Tat verändert sich das Ranking der Gesundheitsausgaben pro Kopf erheblich: Auf den ersten fünf Plätzen ändert sich in der Reihenfolge nichts – es zeigt sich aber, dass die teuersten Gesundheitssysteme im Vergleich zu Deutschland noch teurer sind als die OECD dies ausweist: So weichen die adjustierten Pro-Kopf-Ausgaben der USA nicht mehr um 82 Prozent, sondern um 107 Prozent von Deutschland ab. Österreich ist nicht mehr nur 1,8 Prozent teurer, sondern 7,1 Prozent. Luxemburg, Kanada und Dänemark rutschen nach oben und verdrängen Deutschland vom sechsten Platz auf den neunten. Es folgen einige Länder wie Irland, Belgien, Australien und Frankreich, die etwas kostengünstiger als das deutsche Gesundheitssystem sind.

Das Fazit der WIP-Studie: „Beim Vergleich der Gesundheitsausgaben führt eine indirekte Altersadjustierung zu einer Verschiebung Deutschlands im OECD-Ranking nach hinten. Deutschland bleibt aber deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Eine Platzierung im Mittelfeld sollte nicht angestrebt werden, da in den OECD-Durchschnitt auch die Ausgaben von OECD-Mitgliedstaaten eingehen, die über weniger leistungsstarke Gesundheitssysteme verfügen, zum Beispiel Mexiko oder Chile.

Deutschland: „Operations-Weltmeister“

Eine besondere Konjunktur hat die von gesetzlichen Krankenkassen befeuerte Diskussion um die tatsächlich oder vermeintlich weit über dem internationalen Durchschnitt liegende Zahl chirurgischer Eingriffe in Deutschland. Die Menge der Operationen, bei denen den Patienten medikamentenbeschichtete Stents eingesetzt worden sind, sei binnen acht Jahren um 227 Prozent gestiegen, beklagt der Krankenhaus-Report der Barmer GEK. Die „Süddeutsche Zeitung“ sieht Deutschland als das „Land der fragwürdigen Operationen“. So betitelt die Zeitung den Bericht über ein Gutachten der Gesundheitsökonomen Schreyögg und Busse im Auftrag der Bundesregierung, das zu dem Ergebnis kommt, dass sich nicht der Nachweis führen lasse, dass die Menge an invasiven Interventionen primär ökonomisch getriggert ist. Steige das DRG-Gewicht um ein Prozent, nehme die Leistungsmenge um 0,2 Prozent zu – die Ökonomen halten das noch für eine „normale Marktreaktion“. Dennoch steht für die „Süddeutsche Zeitung fest: „Klar ist: In Deutschland wird deutlich mehr operiert als in anderen Ländern.“ Auch der „Spiegel“ bläst ins gleiche Horn: In einem Interview mit dem Heidelberger Chirurgen Professor Hans Pässler heißt es: „In den vergangenen Jahren sind die Operationszahlen dramatisch gestiegen.“ Der Grund laut Pässler: „Der Operateur muss schon deshalb viel operieren, um die Kosten für die Miete hereinzubekommen… Das ist ein Teufelskreis: Indikationen für Operationen werden immer großzügiger gestellt.“ Ebenfalls im „Spiegel“ kommt der Orthopäde Marcus Schiltenwolf zu Wort. Er behauptet, die Menge der Operationen korreliere ausschließlich mit der Menge der Operateure.

Aber gilt dieser Mainstream von gesetzlichen Krankenkassen und führenden Medien in Deutschland tatsächlich und unter Berücksichtigung der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung im Vergleich zu anderen OECD-Ländern? Dazu haben die Autoren der WIP-Studie eine Altersstandardisierung der chirurgischen Fallzahlen für die OECD-Länder durchgeführt.

Aus der deutschen DRG-Statistik lässt sich die Zahl der Fälle je Altersgruppe (die jeweils fünf Jahrgänge umfasst) ableiten. Die altersgruppenspezifischen Fallzahlen werden ins Verhältnis gesetzt zur Anzahl der Versicherten in der jeweiligen Altersgruppe, wobei diese Daten dem Risikostrukturausgleich sowie den Statistiken der privaten Krankenkassen entnommen werden können. Der Quotient gibt die altersspezifische Fallzahlrate für Deutschland wieder. Für die indirekte Altersstandardisierung werden die deutschen Profile auf die übrigen OECD-Länder übertragen. Daraus ergeben sich hypothetische Fallzahlen, die bei der Anwendung deutscher Profile in den einzelnen Ländern zu erwarten wären. Ferner werden die Bevölkerungszahlen der einzelnen OECD-Länder differenziert nach Altersklasse (mit je fünf Jahrgängen) und Geschlecht herangezogen. Sodann werden die aus den deutschen Daten ermittelten Fallzahlraten jeder Altersgruppe mit der Personenzahl derselben Altersgruppe im jeweiligen OECD-Land gewichtet. Daraus kann eine erwartete Fallzahl für das jeweilige Land errechnet werden, wenn es die gleiche Altersstruktur wie Deutschland hätte.

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Hüftgelenk-Ersatz: Deutschland verliert den 2. Platz

Ausführlich beschreibt die WIP-Studie dies für die Zahl der Hüftgelenks-Ersatzoperationen. Auf Platz 1 mit 307 Eingriffen je 100.000 Einwohner steht die Schweiz, gefolgt von Deutschland mit 287,4 Fällen. Die Fallzahl der Schweiz liegt um 6,8 Prozent über dem deutschen Wert. Auf den Plätzen 3 und 4 folgen Österreich und Norwegen mit 272 und 250 Fällen und einer Abweichung vom deutschen Wert von minus 5,4 und 13 Prozent. Die Niederlande und die USA (Platz 11 und 12) weisen 215,7 und 203,5 Fälle auf, 25 und 29 Prozent weniger als in Deutschland. Nach einer Altersstandardisierung ändern sich Rangfolge und Abweichungen vom deutschen Wert erheblich: Die Schweiz bleibt auf dem ersten Platz; hätte sie aber die deutsche Altersstruktur, so wären nach den dortigen Operationsgepflogenheiten nicht 6,8, sondern 24,2 Prozent mehr Interventionen zu erwarten. Deutschland fällt vom zweiten Platz zurück auf den fünften. Hingegen rückt Norwegen vom vierten auf den zweiten Rang, die Operationshäufigkeit liegt nicht mehr 13 Prozent unter der deutschen, sondern um zwölf Prozent darüber. Österreich bleibt auf Platz 3, aber bei deutscher Altersstruktur läge die Operationshäufigkeit um 7,5 Prozent über der deutschen und nicht mehr 5,4 Prozent darunter. Luxemburg, in der OECD.-Statistik auf Platz 10, rückt auf Platz 4 Platz und hätte 2,8 Prozent mehr Eingriffe anstatt eine Abweichung um fast 25 Prozent nach unten.

Adjustierung für 15 chirurgische Interventionen

Eine solche Altersstandardisierung hat das WIP für insgesamt 15 chirurgische Interventionen durchgeführt. Die Schlussfolgerung daraus lautet: Mit der Umrechnung der deutschen Altersstruktur auf andere OECD-Länder ändert bei fast jeder Operationsart – mit Ausnahme der Nierentransplantation – die Rangfolge der Länder (siehe Tabelle). „Deutschland rutscht bei allen Eingriffen, die ihren Schwerpunkt im Alter haben, im Länderranking nach hinten. Bei den Eingriffen, die vorwiegend in der Jugend durchgeführt werden (Entfernung der Gaumenmandeln und Blinddarmoperationen), ist es dagegen umgekehrt, und Deutschland liegt altersadjustiert im Ranking weiter vorne, als es die rohen OECD-Daten vermuten lassen. Beim Koronarbypass liegt Deutschland nach Adjustierung nicht mehr auf Platz 3, sondern auf Platz 10, bei der Knieprothese rutscht Deutschland vom fünften auf den achten Platz, bei der Koronarangioplastie und der Entfernung der Gebärmutter verliert Deutschland seinen „Weltmeister-Titel“ und rutscht auf Platz 2.

Die Schlussfolgerung der WIP-Autoren daraus ist: „Ein Ländervergleich auf der Basis der unbereinigten OECD-Daten ist damit nicht als Beleg für eine ausgeprägte Überversorgung in Deutschland geeignet.“ Neben der Verschiebung in der Rangfolge zeigten die altersadjustierten Rankings der Eingriffe vielfach eine Annäherung, insbesondere der westlichen und nördlichen Nachbarländer Deutschlands. Gleichwohl seien die deutschen Fallzahlen auch nach der Altersstandardisierung in der Regel im vorderen Feld zu finden. Und dies halten die Studienautoren auch für gerechtfertigt: „Dass hierzulande relativ viele Eingriffe durchgeführt werden, ist zum einen ein Ausweis für ein leistungsfähiges Gesundheitssystem, insbesondere da es sich bei den Eingriffen um größtenteils aufwendige Behandlungen mit hohen Ansprüchen an die Leistungserbringer handelt (zum Beispiel Herzoperationen, Endoprothetik). Zum anderen wird durch die Analyse auch deutlich, dass die vordere Platzierung Deutschlands auch aus seiner relativ alten Bevölkerung und den daraus entstehenden Bedürfnissen resultiert.

Die WIP-Studie leugnet nicht weitere Einflussfaktoren für die Häufigkeit chirurgischer Interventionen und nennt dabei vorhandene Klinik-Kapazitäten, Rationierung in manchen Gesundheitssystemen, monetäre Anreize, Unterschiede auf der Nachfrageseite, etwa durch unterschiedliche Morbiditäten und Risikofaktoren, kulturelle und Mentalitätsunterschiede bei Patienten und auch bei Ärzten, schließlich auch unterschiedliche Codierungssysteme, die die Daten nicht vollständig vergleichbar machen.

Fazit

Die insbesondere von den gesetzlichen Krankenkassen auf der Basis von Rohdaten-Vergleichen der OECD initiierte Kampagne über den Operations-Weltmeister Europa ist interessengeleitet. Daraus wird die These abgeleitet, Deutschland verfüge über Überkapazitäten, die abgebaut werden müssten. Vor dem Hintergrund der anstehenden Krankenhausreform gewinnt dies an Brisanz. Denn die Krankenkassen verstehen unter dem von ihnen geforderten strukturellen Wandel vor allem Kapazitätsabbau, verbunden mit einer wachsenden Zentralisierung vor allem komplexerer medizinischer Interventionen. Das Ziel ist klar: Besonders teure Interventionen sollen für Versicherte und Patienten schwerer zugänglich gemacht werden. Die Autoren der WIP-Studie kommen dabei aufgrund der Altersadjustierung sowohl von Gesundheitsausgaben wie auch von Operations-Fallzahlen zu einer anderen Schlussfolgerung: „Zusammenfassend zeigt die Untersuchung, dass das deutsche Gesundheitssystem ein hohes Maß an Versorgung durch chirurgische Eingriffe zu moderaten Kosten bereitstellt. Eine Übertreibung im System oder eine Überversorgung im Vergleich zu anderen Ländern lässt sich mit den altersadjustierten OECD-Daten nicht mehr nachweisen. Dies ändert jedoch nichts an der Wichtigkeit, jeden einzelnen Eingriff – nicht zuletzt wegen immer vorhandener Risiken – intensiv auf seine Notwendigkeit zu prüfen.“

Dieser Artikel ist erschienen in IMPLICON – Gesundheitspolitische Analysen, Ausgabe 03/2015.

Laschet H. Die Mär vom Operations-„Weltmeister“. Passion Chirurgie. 2015 September, 5(09): Artikel 02_01

Autor des Artikels

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Helmut Laschet

Ressortleiter/Stellv. ChefredakteurRessort Gesundheitspolitik/GesellschaftSpringer Medizin kontaktieren

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