Zu den zentralen Aussagen des Sondergutachtens gehören:
Wettbewerbsziele verfehlt
Die Vermeidung von Risikoselektion stellt die zentrale Funktion des Morbi-RSA dar. Sie ist Voraussetzung für einen fairen Wettbewerb der Krankenkassen um Versicherte. Bisher gelang es nur unzureichend, den Wettbewerb als Instrument zur Verbesserung der Versorgungsqualität zu stimulieren; vielmehr dominiere der Wettbewerb um möglichst geringe Zusatzbeiträge. Eine isolierte Reform des RSA könne das notwendige wettbewerbliche Umfeld alleine nicht schaffen. Vielmehr sei hierfür eine ordnungspolitische Rahmenordnung notwendig.
Dabei sei auch zu beachten, dass eine Marktkonzentration die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs um Qualität beeinträchtige. Diese sei jedoch bereits in allen Bundesländern seit Einführung des RSA im Jahr 2009 zu beobachten. Den Markt in Sachsen und Thüringen bewertet der Beirat sogar als “hochkonzentriert”.
Individualansatz richtig
Als zentralen Parameter zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen werten die Autoren die Zielgenauigkeit der Zuweisungen auf Individualebene, d. h. dem Ausgleich von systematischen Ausgaberisiken je Versicherten, je Versichertengruppe und Krankenkasse. Davon abweichenden Reformforderungen, wie z. B. in Richtung pauschaler Verringerung der Unterschiede in den Deckungsquoten nach Kassenarten, erteilt der Beirat eine Absage.
Einheitliche Aufsicht der Kassen notwendig
Für unerlässlich im Sinne der Funktionsweise des RSA beschreibt das Gutachten die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Prüfung der Regelungen zur Dokumentation von Diagnosen. Im Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) hatte der Gesetzgeber zuletzt klargestellt, dass eine zusätzliche Vergütung an Vertragsärzte für die Vergabe und Dokumentation von Diagnosen unzulässig ist. Entsprechende Regelungen innerhalb von Selektivverträgen hatten zuvor den Verdacht auf Manipulationen geschürt (vgl. “Upcoding” – Manipulation von Diagnosen). Auch in anderen Wettbewerbsfeldern (z. B. bei Satzungsgenehmigungen zu Wahltarifen oder in der Finanzaufsicht) könne ein uneinheitliches Aufsichtshandeln zwischen Bund und Ländern, oder auch zwischen einzelnen Bundesländern, zu Wettbewerbsverzerrungen führen.
Haftung nach Kassenarten abschaffen
Da die Krankenkassen mit Ausnahme der Ortskrankenkassen auch innerhalb ihrer Kassenart in einem teils intensiven Wettbewerb zueinander stehen, wird die bisherige “Haftungskaskade” nicht länger als sachgemäß angesehen. Hiernach haftet zunächst die Kassenart für eine Schließung, Auflösung oder Insolvenz einer Krankenkasse und erst sekundär der GKV-Spitzenverband als Repräsentant aller Krankenkassen. Der Wissenschaftliche Beirat schlägt grundsätzlich vor, die Primärhaftung direkt dem GKV-Spitzenverband zu übertragen.
Bewertung des RSA auf Ebene der Einzelkassen
Eine weitere Konsequenz der zunehmenden Heterogenität der Risikostrukturen und Deckungssituationen innerhalb der Kassenarten ist, dass die Messung der Zielgenauigkeit des RSA auf Ebene der einzelnen Krankenkassen und nicht nach Kassenarten erfolgen muss. Die überwiegend auf Basis der Kassenarten von diesen im Vorfeld des Sondergutachtens eingebrachten Reformvorschläge begünstigten daher immer nur Teile der jeweiligen Kassenart, andere Teile würden hingegen belastet.
AOK verbessert Risikostruktur
Ein Kernpunkt der bisherigen Kritik am RSA ist die Begünstigung der Ortskrankenkassen durch höhere Deckungsquoten. Diese, so der Beirat, hätten sich durch eine verbesserte Risikostruktur herausgebildet. AOK und Bundesknappschaft wiesen demnach pro Kopf (auf den GKV-Durchschnitt normierte) Leistungsausgaben auf, die stärker als die ebenfalls (normierten) Zuweisungen gesunken sind. Hieraus resultiere eine Entwicklung steigender positiver Deckungsbeiträge. Bei den BKKn, IKKn und Ersatzkassen seien die (normierten) Leistungsausgaben dagegen stärker als die (normierten) Zuweisungen gestiegen – die relative Krankheitslast habe dadurch zugenommen. Gemessen an den Kassenarten hätten sich Deckungbeiträge und Deckungsquoten auseinander entwickelt.
“Kranke lohnen”-These ist falsch
Der verschiedentlich in diesem Zusammenhang vertretenen These, dass sich aufgrund der Morbiditätsorientierung “Kranke lohnen”, erteilt der Beirat eine Absage. Gemessen an den sieben im Sondergutachten berücksichtigen Ausgleichsjahren habe sich bestätigt, dass der RSA ohne Morbiditätsbezug sowohl auf Kassenebene als auch auf Ebene der Kassenarten weniger präzise ausgefallen wäre. Die Analyse der Entwicklung habe sogar gezeigt, dass Krankenkassen mit seit 2009 zunehmender Morbidität über die Jahre tendenziell leicht unterdeckt, Krankenkassen mit abnehmender Morbidität dagegen kontinuierlich leicht überdeckt sind.
“Upcoding” – Manipulation von Diagnosen
Die Anzahl gesicherter ambulanter Diagnosen je 100.000 Versicherte liegen bei der Bundesknappschaft und den AOKn am höchsten. Das prozentuale Wachstum entsprechender Diagnosen lag zwischen 2008 und 2015 jedoch bei den IKKn am höchsten, gefolgt von den BKKn und Ersatzkassen. Bei einigen Diagnosen zeigten sich zwar nennenswerte Anstiege ab dem Zeitpunkt der Berücksichtigung im RSA, im Vergleich zur bevölkerungsbezogenen Diagnosehäufigkeit aus anderen Quellen (Epidemiologie) fanden sich jedoch keine Auffälligkeiten. Dennoch erscheine die Beeinflussung des Kodierverhaltens zumindest wahrscheinlich. Bei einzelnen Krankenkassen erwartet er Beirat für die Berichtsjahre 2013-2015 spürbare Korrektur- und Strafbeträge.
Trotz des Risikos der Manipulation rät der Beirat vom Verzicht auf die ambulanten Diagnosen im Morbi-RSA ab, da dieser zu einer Verschlechterung des Klassifikationsmodells führen würde. Letztlich würde die Manipulationsgefahr bei der ambulanten Diagnostik auch einem merklichen Anstieg der Überdeckung für gesunde Versicherte weichen, was in Folge die ebenfalls ungewollte Risikoselektion begünstige. Stattdessen empfehlen die Experten zur Abwehr von Manipulationen z. B. die konsequente Berücksichtigung von Arzneimitteln im Aufgreifalgorithmus sowie die Meldung der Operationen- und Prozedurschlüssel im ambulanten und stationären Sektor. Hinzu kommt der Vorschlag, dokumentierte Diagnosen innerhalb von Selektivverträgen von der Vergütung vollständig zu entkoppeln. Zur Schaffung von Transparenz sollten alle Selektivverträge in einem zentralen Register geführt werden. Weitere Maßnahmen wären die Einführung einheitlicher Kodierrichtlinien und eine Zertifizierung der Praxissoftware durch die KBV.