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Jeder vierte Mensch weltweit hat keinen Zugang zu einer chirurgischen Basis- oder Notfallversorgung. Diese Zahl hat sich nach 20 Jahren „Entwicklungshilfe“ und millionenschweren Gesundheitsprogrammen kaum verändert. Die chirurgische Versorgung in den Entwicklungsländern ist immer ein Abbild ihrer wirtschaftlichen Situation. Hier liegt langfristig die einzige Lösungsmöglichkeit. Zwischenzeitlich können die Länder bei der Verbesserung der medizinischen Versorgung auch von extern unterstützt werden. Diese Hilfe sollte langfristig angelegt und im Rahmen direkter Kooperationen mit Krankenhäusern oder Ärzten (vorzugsweise in den ländlichen Regionen) realisiert werden. Sie ist vor allem dann wirkungsvoll, wenn sie sowohl materielle Hilfe als auch die Ausbildung des medizinischen Personals berücksichtigt. Diesen Inhalten hat sich die Deutsche Gesellschaft für Tropenchirurgie verschrieben.

Die „Deutsche Gesellschaft für Tropenchirurgie” (DTC) wurde 1990 zunächst als „Vereinigung zur Förderung der Chirurgie in Entwicklungsländern” gegründet und erhielt zwei Jahre später ihren jetzigen Namen, nachdem sich ihr viele Kollegen aus anderen operativen Fächern und der Anästhesie angeschlossen hatten. Sie hat heute etwa 300 Mitglieder; 60 davon kommen aus Afrika, Asien oder Lateinamerika.

Ihr ursprünglicher Name weist auf das Hauptanliegen der DTC hin, dabei mitzuwirken, allen Bevölkerungsschichten in den Ländern der Dritten Welt Zugang zu einer qualitativ akzeptablen chirurgischen Versorgung zu ermöglichen.

Die sogenannten Entwicklungsländer, also die Länder mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen, geben im Jahr durchschnittlich 5 bis 50 Dollar pro Einwohner an Gesundheitsausgaben aus. Innerhalb dieses Budgets geht wiederum nur ein Bruchteil in die operative Medizin bzw. gilt der Bekämpfung operativ zu behandelnder Erkrankungen. Dies hat vier wesentliche Gründe:

  1. Die Chirurgie gilt als teuer, weil sie viele technische Voraussetzungen und speziell ausgebildetes Personal braucht;
  2. ihre erfolgreiche Durchführung setzt ein hohes Maß an Infrastruktur voraus (Strom, Sterilisation, bildgebende Diagnostik, Ambulanzservice u. a.), die schwer dauerhaft aufrecht zu erhalten ist;
  3. Erfolge gelten als schlecht messbar und wenig nachhaltig und
  4. chirurgische Erkrankungen gehören nicht in die Reihe der „killer diseases“. Diese werden von kardiovaskulären und Infektionskrankheiten angeführt, die folglich auch einen Großteil der staatlichen und humanitären Hilfe auf sich ziehen.

Dies hat zur Folge, dass etwa 2 Milliarden Menschen (!) weltweit keinen Zugang zu einer chirurgischen Grundversorgung haben.

Aber was tun?

Der Begriff Chirurgie in Entwicklungsländern steht für eine chirurgische Versorgung der Menschen in den Ländern der Dritten Welt unter Beachtung der lokalen und regionalen Besonderheiten. Dies beinhaltet, dass aus chirurgischer Sicht ein besonderes Spektrum an Krankheiten zu versorgen ist, und schließt ausdrücklich ein, dass bei dieser Behandlung die besonderen sozioökonomischen Rahmenbedingungen und die (oft fehlende) psychosoziale Akzeptanz einer rational geprägten Medizin beachtet werden müssen. Alle Konzepte zur Verbesserung der chirurgischen Grundversorgung in den Entwicklungsländern sollten dies berücksichtigen.

„Entwicklungszusammenarbeit“ auf diesem Gebiet bedeutet nicht den temporären oder permanenten Export der „westlichen“ Medizin, sondern in erster Linie, die Regierungen bei dem kontinuierlichen Aufbau nationaler Gesundheitssysteme zu unterstützen. Neben der operativen Medizin in den Hospitälern müssen die Basisgesundheitsversorgung und die Präventivmedizin ins Auge gefasst werden.

Nach unserer Erfahrung sollten der Beginn und der Schwerpunkt möglicher Projekte trotzdem dezentral und direkt beim Patienten beginnen, als konkrete Partnerschaft zwischen wenigen Personen oder Institutionen fortgesetzt werden, staatliche Gesundheits- und Versorgungsstrukturen einbeziehen und sowohl materielle Unterstützung als auch die Weiterbildung des medizinischen Personals einschließen. Nur so kann der Einsatz für eine bessere chirurgische Grundversorgung nachhaltig sein.

Abb. 1 A und B: Chirurgie unter Akzeptanz der afrikanischen Bedingungen

 

Es funktioniert

Wer sich in der chirurgischen „Entwicklungszusammenarbeit“ engagiert, weiß von Rückschlägen und Misserfolgen zu berichten. Die Fehlermöglichkeiten und ihre Ursachen sind vielfältig. Aber es gibt zahlreiche positive und wegweisende Projekte: Weltweit sind mobile augenärztliche Teams unterwegs, die notwendigen Kataraktoperationen durchzuführen. Unter Nutzung lokaler Gesundheitsstrukturen gelingt dies für weniger als 60$ pro Patient. In den ehemaligen Bürgerkriegsländern Mozambique, Kambodscha und El Salvador sind mit Hilfe internationaler Organisationen zahlreiche lokale Prothesenwerkstätten für die Opfer von Landminen entstanden. In Trinidad konnte die Mortalität von Schwerverletzten durch eine kontinuierliche Weiterbildung des medizinischen Personals von 67 % auf 34 % halbiert werden [1]. Durch eine geburtshilfliche und basischirurgische Ausbildung von Assistant Medical Officern (AMO´s) in mehreren Ländern Ostafrikas ist die Anzahl erfolgreicher Sectiones dramatisch erhöht und die perinatale Mütter- und Neugeborenen-Sterblichkeit gesenkt worden [2]. Durch Entwicklung und Verbreitung eines Protokolls zur Behandlung offener Frakturen in Malawi und gleichzeitiger Einführung eines Fixateur externe gelang in 80 % der Behandelten eine volle Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit [3]. Zahlreiche weitere Beispiele wären es wert, hier aufgeführt zu werden.

Aktivitäten der DTC

Die DTC sieht sich – da sie zahlreiche aktive und ehemalige in der Tropenchirurgie bewanderte Chirurgen aus Deutschland und vielen Entwicklungsländern vereint – als Vermittler und Initiator von Projekten rund um die „Chirurgie in Entwicklungsländern“.

Die Aktivitäten ergänzen sich und sind geeignet, Chirurgen und Entwicklungshelfer anderer Fachgebiete auf einen medizinischen Einsatz in Entwicklungsländern vorzubereiten. Wir führen jährlich Symposien und alle zwei Jahre ein internationales Symposium durch, in denen spezielle Themen aller chirurgischen und benachbarter operativer Fachgebiete angesprochen werden. Die Kongresse werden durch regelmäßige Kurse ergänzt, in denen chirurgische Basistechniken „hands on“ demonstriert werden (Nahttechniken, Schädeltrepanation, geburtshilfliche Eingriffe, Ultraschall, Fixateur externe-Anlage, konservative Frakturbehandlung). Diese Workshops haben wir wiederholt auch in den Zielländern selbst durchgeführt. Für die Zeit des Einsatzes steht den Chirurginnen und Chirurgen auf unserer Internetseite ein nach dem Fachgebiet und dem Einsatzland sortierter online-consulting-service zur Verfügung, über den spezielle Fragen auf schnellen und direkten Wegen erörtert werden können. Die DTC hat auch die Lizenz erworben, das sehr geschätzte und praxisnahe Chirurgie-Lehrbuch Primary Surgery von Maurice King und Mitarbeitern zu vertreiben. Das Buch wird derzeit inhaltlich überarbeitet und steht unter www.primary-surgery.org im Internet zur Verfügung und kann auch aus Ländern mit begrenzter Internet-Leistung mühelos abgerufen werden. Der DTC stehen durch die Mitgliedsbeiträge auch in begrenztem Umfang finanzielle Mittel zur Unterstützung spezieller Projekte zur Verfügung.

Wenngleich uns die Aus- und Weiterbildung in ihrer Heimat praktizierender Ärzte und Chirurgen aus Entwicklungsländern besonders wichtig ist, so sind die praktischen Möglichkeiten einer Unterstützung innerhalb unseres Gesundheitssystems (z.B. Facharztausbildung) wegen der Sprachbarriere und der deutschen Gesetzgebung nur sehr eingeschränkt möglich. Es existieren aber zahlreiche Kooperationen und Projekte einzelner DTC-Mitglieder mit ihren Kollegen oder Partnerinstitutionen in verschiedensten Ländern, die auch eine Voraussetzung sind, dass die DTC weiterhin aktiv vor Ort und inhaltlich sowie personell lebendig ist.

Es geht um mehr – Die zunehmende Bedeutung chirurgischer Krankheitsbilder

Durch den Prozess der „epidemiologischen Transition“, also die veränderten Lebensbedingungen und das Zurückdrängen der Infektionen als Hauptursache der weltweiten Mortalität, klettern die chirurgischen Erkrankungen gerade in die Top ten – Listen der Mortalitätsstatistiken. Dies betrifft vor allem die Verletzungen und onkologischen Erkrankungen. Durch Unfälle verlieren jährlich mehr als 5 Millionen Menschen ihr Leben; das ist fast jeder zehnte Tote weltweit. 500.000 Mütter sterben im Verlauf einer komplizierten Schwangerschaft, deren Leben durch eine adäquate gynäkologisch-operative Behandlung hätte gerettet werden können.

Abb. 2a: Die chirurgische Frauenstation am Zomba Central Hospital in Malawi – hohe Bettenauslastung ohne Murren.

Abb. 2b: Antenatal ward am Zomba Central Hospital in Malawi. Was wie Unterversorgung aussieht, ist Zeichen eines gut funktionierenden Vorsorgesystems. Schwangere mit zu erwartenden Risikogeburten werden von den Dorfhebammen „prophylaktisch“ in das Krankenhaus eingewiesen und warten hier auf die Geburt ihres Kindes.

Mortalität kann aber nicht als der einzig wichtige Faktor zur Schwerebeurteilung einer Erkrankung herangezogen werden. Dauerhafte Invalidität und Arbeitsunfähigkeit bedeuten für das Individuum, die Familie und die Volkswirtschaften oft einen noch größeren und vor allem länger währenden Einschnitt. Dies ist auch von der WHO erkannt, die neben Morbiditäts- und Mortalitäts-Statistiken auch die krankheitsbedingte Reduzierung von Lebensqualität und Leistungsfähigkeit beurteilt. Die folgenden Zahlen machen deutlich, dass aufgrund weltweit fehlender operativer Kapazitäten die chirurgisch zu lindernden Erkrankungen hier dominieren: Verkehrsunfälle gelten als die zweithäufigste Todesursache bei Kindern zwischen 5 und 14 Jahren und bei Männern im arbeitsfähigen Alter; 100.000 Kinder werden pro Jahr mit einem Klumpfuß geboren; 80 % davon in Entwicklungsländern, von denen nur ein Bruchteil jemals die notwendige und mögliche operative Behandlung erfährt. Schätzungen zufolge leben (mit zunehmender Alterung der Weltbevölkerung) im Jahr 2020 etwa 40 Millionen Menschen, die wegen eines Katarakts erblindet sind, weil keine adäquate chirurgische Versorgung möglich ist.

Die Rolle der Entwicklungsländer

Dabei haben die Länder längst Programme für den Aufbau bzw. die Verbesserung einer chirurgischen Basisversorgung entwickelt. Nicht nur wegen der ökonomischen und infrastrukturellen Probleme gestaltet sich deren Realisierung aber schwierig; andere Probleme sind kultureller Natur oder auf das starke Traditionsbewusstsein der Menschen zurückzuführen. Programme, die eine Verbesserung der chirurgischen Versorgung zum Ziel haben, müssen dies berücksichtigen.

Abb. 3: Ernährungsberatung und Kochkurs für die Mütter auf der Unterernährten-Station am Zomba Hospital, Malawi

 

Trotzdem gibt es eine Prioritätenliste von Maßnahmen, mit denen die chirurgische Basisversorgung am ehesten verbessert werden kann:

  • Wichtigster Punkt ist die Schaffung eines dezentral organisierten Medizinsystems mit einer flächendeckenden Etablierung von Gesundheitseinrichtungen. Hierzu gehören die Gesundheitsstationen in den ländlichen Gebieten zur Durchführung der ambulanten chirurgischen Versorgung. Die Distriktkrankenhäuser sind die nächst höhere Instanz und damit zentraler Anlaufpunkt für den Großteil der Patienten mit chirurgisch zu behandelnden Erkrankungen. Hier sind ein Operationstrakt und die entsprechenden Strukturen inklusive des Personals vorhanden, um einfache chirurgische und vor allem geburtshilfliche Eingriffe durchführen zu können. Patienten mit komplexeren Krankheitsbildern werden dann in ein Zentralkrankenhaus verlegt, wo sie erstmals die Möglichkeit haben, von einem Arzt oder Facharzt behandelt zu werden. Die Verbindung zwischen diesen Strukturen kann nur durch ein intaktes Überweisungssystem gewährleistet werden.
  • Es muss ausreichend medizinisches Personal ausgebildet sein, um die Gesundheitseinrichtungen entsprechend besetzen zu können. Eine Voraussetzung hierfür sind eine adäquate Bezahlung und sowohl finanzielle als auch medizinische Aufstiegsmöglichkeiten. Da in den meisten Entwicklungsländern mittelfristig nicht genügend Medizinstudenten ausgebildet werden bzw. die Jungärzte sofort ins Ausland abwandern, sollte die Ausbildung sogenannter Medical Officer oder Distriktchirurgen weitergeführt werden, die bei der Patientenversorgung im chirurgischen Bereich vergleichbare Ergebnisse erzielen [4,5].
  • Eine „Priorisierung“ der chirurgischen Erkrankungen auf politischer und finanzieller Ebene ist notwendig. Die Aufmerksamkeit gegenüber diesen Krankheitsbildern entspricht nicht deren menschlicher und volkswirtschaftlicher Bedeutung. Dies betrifft vor allem die unfallbedingten und onkologischen Erkrankungen. Dabei lässt sich die Inzidenz dieser Krankheitsbilder und ihrer Folgen durch gezielte Präventionsprogramme oft billiger und effizienter zurückdrängen. Deren Etablierung bedeutet aber einen kräftezehrenden Gang durch verschiedenste medizinische und politische Institutionen – mit ungewissem Ausgang. Seit dem vorletzten Jahr hat die WHO zusammen mit den Entwicklungsländern ein solches Projekt gestartet: die Global Initiative for Emergency and Essential Surgical Care (GIEESC). Lesen Sie hierzu den Beitrag von Matthias Richter-Turtur in diesem Heft.

Abb. 4: Dorfleben in Malawi – Der Brunnen als Quelle von Wasser und Informationen

Die Rolle der DTC

Diese Programme sind nur auf höchster politischer Ebene zu realisieren und werden eher durch Gesundheitsmanager als durch Chirurgen in die Tat umgesetzt. Trotzdem sind es die Kliniker, die die politischen Entscheidungsträger auf die Bedeutung und die Möglichkeiten einer Optimierung der Situation hinweisen müssen.

Es wäre den Entwicklungsländern erst einmal viel geholfen, wenn wir nicht einheimische Krankenschwestern und Ärzte mit guten Gehältern in unsere Länder locken würden. In diesem Zusammenhang ist auch die innere Abwanderung zu sehen, die beschreibt, dass internationale Organisationen Personal aus dem staatlichen Gesundheitssektor abziehen, um sie in speziellen Gesundheitsprojekten (z.B. Malaria, HIV) einsetzen zu können.

Für die DTC bleibt es eine Hauptaufgabe, potentiell interessierte Chirurginnen und Chirurgen für die Thematik der Arbeit in Entwicklungsländern zu motivieren und zu schulen und sie während ihres Einsatzes zu begleiten. Zahlenmäßig betrifft dies häufiger die Kurzeinsätze in Katastrophensituationen. Darüber hinaus bewegt uns aber die langfristige Verbesserung der chirurgischen Versorgung weltweit, die auch nur durch langfristig angelegte Kooperationen zu erreichen ist.

Aber das genügt nicht! Die Entwicklungszusammenarbeit im medizinischen und speziell chirurgischen Bereich ist oft spontan und an individuelles Engagement geknüpft. Es gibt kaum professionelle Strukturen, Standards oder definierte Anforderungsprofile. Das betrifft sowohl die einzelnen Projekte, als auch die Eignung der „Expats“. Auch wenn die Einsätze immer in großem Umfang individuell und unvorhersehbar sein werden, so helfen klare Zielvorgaben und Absprachen mit den Kooperationspartnern vor Ort, die Projekte erfolgreich und zum Nutzen der Patienten umzusetzen.

Literatur

[1] Ali J et al. Trauma outcome improves following the advanced trauma life support program in a developing country. J Trauma. 1993;34:890-898

[2] Bach O et al. Disability can be avoided after open fractures in Africa – results from Malawi. Injury. 2004;35:846-851

[3] Disease Control Priorities Project, June 2008; www.dcp2.org

[4] Wilhelm TJ et al. Efficacy of major general surgery performed by non-physician clinicians at a central hospital in Malawi. Trop Doct. 2011 Apr;41(2):71-5.

[5] Wilhelm TJ et al. Gastrointestinal endoscopy in a low budget context: delegating EGD to non-physician clinicians in Malawi can be feasible and safe. Endoscopy. 2012 Feb;44(2):174-6.

Mothes H. Die Deutsche Gesellschaft für Tropenchirurgie. Passion Chirurgie. 2012 April; 2(04): Artikel 02_07.

Autor des Artikels

Profilbild von Henning Mothes

PD Dr. med. Henning Mothes

Deutsche Gesellschaft für Tropenchirurgie e.V.Klinik für Allgemein-, Viszeral- und GefäßchirurgieSophien und Hufeland Klinikum WeimarHenry-van-de-Velde-Straße 29942Weimar kontaktieren

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