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CHIRURGIE
Die Biomechanik als interdisziplinäre Aufgabe zwischen Unfallforschung und Unfallchirurgie

Biomechanik ist definiert als die Identifikation von Verletzungen, Verletzungsquellen und -ursachen. Experten werden hierfür speziell in unterschiedlichen Fakultäten ausgebildet und als „Experten für Biomechanik“ zertifiziert. Sie arbeiten dann in Beratergruppen mit Technikern, Chirurgen und anderen Disziplinen zusammen. Art, Lokalisation und Schwere der Verletzung sind Schlüsselinformationen dafür, den Verletzungsgrad und Verletzungsmechanismen sowie den Bewegungsverlauf zu verstehen, der als Kinematik bezeichnet wird. Die detaillierten Informationen über Verletzungen und bestehende Schmerzen in Verbindung mit den Schwereparametern des Unfalls erlauben es den Experten, die Wahrscheinlichkeit eines Unfallzusammenhangs zu beurteilen. Somit müssen in diesem Gebiet Herausforderungen zwischen Unfallforschung und Unfallchirurgie sowie anderen medizinischen Disziplinen gelöst werden.

Bedeutung der Biomechanik für Verkehrsunfallanalytik

Die Biomechanik ist das Feld zwischen technischem und medizinischem Wissen über Verletzungsmechanik und Verletzungsentstehung. Die Biomechanik erklärt, welche Art von Verletzung bei welchen Unfallereignissen und Belastungen auftreten und gibt Antworten auf die Erträglichkeit des menschlichen Körpers in unterschiedlichen Unfall- und Belastungsbedingungen.

Historisch betrachtet gehören biomechanische Analysen zum Fachgebiet des Rechtsmediziners, wie zum Beispiel die Frakturart am langen Röhrenknochen, der sogenannte „Messererbruch“ 1885 als Hinweis auf die Belastungsrichtung [1]. Erklärungen zu todesursächlichen Verletzungen erforderten schon früh Kenntnisse in Anatomie, Traumaentstehung und Verletzungsmechanik.

Erst in den 60iger-Jahren entwickelte sich in der Fahrzeugsicherheit die Notwendigkeit, sich mit der gleichen Thematik zu beschäftigen, nämlich warum bei bestimmten Unfallsituationen Verletzungen auftreten und wie man diese vermeiden kann. Es bedurfte dazu technischer und medizinischer Kenntnisse. So arbeiteten zuerst in den USA, dann auch in Europa, Ingenieure mit Medizinern zusammen an wissenschaftlichen Studien. Dazu gehören unter anderen Cornell John STAPP, der mittels Eigenversuch 42g auf einem Beschleunigungsschlitten aushielt und Wissenschaftler an der Wayne State University, die Beschleunigungskriterien für die Entstehung tödlicher Kopfverletzungen entwickelten, verbunden mit experimentellen Untersuchungen mit Dummies und auch postmortalen Testprobanden PMT, zum Beispiel an der Universität Heidelberg [2].

Die Biomechanik entwickelte sich somit als Spezialgebiet für die Forensik, Fahrzeugsicherheit und Gutachtenpraxis.

Sehr häufig sind Fragestellungen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten hinsichtlich folgender Punkte zu klären:

  • Sitzposition im Unfallfahrzeug, wer war der Fahrer?
  • Von wo kam der Fußgänger (Klärung der Anprallrichtung und Konfiguration).
  • Wenn Insassen nicht angeschnallt waren: Welche Verletzungen wären bei Gurtnutzung minderbar oder vermeidbar gewesen?
  • Wenn Motorradfahrer und Radfahrer keinen Helm trugen oder ohne Motorradschutzkleidung gefahren sind: Welche Verletzungen wären bei Nutzung der Schutzmöglichkeiten minderbar oder vermeidbar gewesen?
  • Waren die Verletzungen und Beschwerden dem Unfallereignis zuzuordnen (unter anderem HWS-Distorsion, unfallkausale Einzelverletzungen und Langzeitfolgen)?

In all diesen Fällen ist die interdisziplinäre Kenntnis der technischen Fahrzeugspezifikationen und der medizinischen Parameter von Bedeutung.

Besonders hat in der Gutachtenpraxis die Frage nach der Kausalität der geklagten Beschwerden der Betroffenen an Bedeutung gewonnen, häufig nach einem meist geringgradig schweren Unfall, bei dem bewusst Schmerzen verspürt werden, und meist auch in einem nicht selbst verschuldeten Unfall.

Unfälle mit Beschwerden, beschrieben als Schleudertrauma, bilden nach Heckanprall besonders häufig Schwerpunkte derartiger biomechanischer Gutachten. Die Verschiedenartigkeit der angegebenen Beschwerden macht die Einbeziehung unterschiedlicher Fachgebiete notwendig: unter anderem das posttraumatische Belastungssyndrom die Psychosomatik und Psychiatrie, ein Tinnitus die HNO-Fachkunde, Bewegungsfunktionsstörungen die Neurologie und knöcherne und ligamentäre Therapiefolgen sowie Bewegungseinschränkungen die Orthopädie/Unfallchirurgie.

Bedeutung der Biomechanik in spezieller Fragestellung

Der Begriff HWS-Distorsion wird ausschließlich im deutschsprachigen Raum als Diagnose einer Beschwerdesymptomatik verwendet und kennzeichnet eine gewisse Schmerz- und Befundcharakteristik, die fälschlicherweise oftmals als Schleudertrauma bezeichnet wird. Diesen Begriff gibt es im englischen und amerikanischen Sprachgebrauch nicht, dort wird der Begriff „Whiplash Disorders“ verwendet, wobei „Disorder“ mit Gesundheitsstörung übersetzt werden kann. Es besteht Einigkeit darüber, dass ohne Nachweis von objektivierbaren Verletzungszeichen, zu denen Verletzungen, Luxationen und Frakturen zählen, der Begriff Distorsion verwendet werden sollte, hier handelt es sich nahezu ausnahmslos um „leichte Verletzungen“ [3, 4, 5]. Bei Distorsionen ist je nach Art und Umfang der klinischen Befunde von leichten, mäßigen und schweren Distorsionen auszugehen.

Die Verletzungsmechanik wurde wissenschaftlich bereits umfassend untersucht. Sie ist gekennzeichnet als pendelartige und wechselseitige Beugebewegung der HWS und Extension/Hyperextension und setzt sich aus einer Kombination von starken translatorischen Bewegungen der Halswirbel mit Hyperextension (übermäßige Beugung nach hinten) und Flexion/Hyperflexion (übermäßige Beugung nach vorn) der Halswirbelsäule zusammen. Das bewirkt axiale Druck- und Zugkomponenten zwischen den Halswirbeln und deren Bandstrukturen, was letztlich zu spezifischen Verletzungen führen kann [6, 7]. Bei leichterer Unfallschwere und oftmals rotatorischer Bewegung des Fahrzeugs kommt es häufig zu ausgeprägten Bewegungen der Halswirbelsäule und damit je nach fahrzeugspezifischen und physiologischen Besonderheiten zu muskulären Dysfunktionen mit der Folge von Beschwerden und schmerzhafter Bewegungseinschränkung im Kopf- und Halsbereich. So können insbesondere schräge Relativbewegungen des Insassen mit Folge einer fronto-lateralen Beugebewegung des Halses bei Patienten die Ursache von HWS-Beschwerden sein [8]. Versuche zum biomechanischen Verhalten der Halswirbelsäule zeigten, dass die Beugebewegung der Halswirbelsäule mit einer sogenannten S-Form der Beugung auftritt, bei der es zur Kompression an den Facettengelenken kommen kann [9].

Eine relevante Facettenkompression tritt in der Regel erst bei Beschleunigungen von 3,5 g und Schädigungen der Gelenkkapsel erst bei einer Beschleunigung oberhalb von 6,5 g auf. Die wirksame Beschleunigung bei Gefahrenbremsungen beträgt etwa 1 g und die bei leichten Heckkollisionen meist weniger als 3 g. Eine ausgeprägte Hyperextension konnte erst bei einer Beschleunigung von oberhalb 5 g beobachtet werden. Ono registrierte bei Probandenversuchen in Japan nur wenige Personen mit geäußerten Missempfindungen nach den Tests und postulierte bei Heckkollisionen ein Delta-v von bis zu 4 km/h als vollständig symptomfrei. Daraus ist zu schlussfolgern, dass die Facettengelenke eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Beschwerden spielen können [10, 11, 12, 13, 14], allerdings erst bei höherer Unfallschwere.

Es ist somit hinreichend bekannt, dass dynamisch auftretende Beugebewegungen der Halswirbelsäule Beschwerden in der angrenzenden Hals- und Schultermuskulatur erzeugen können und auch horizontale Relativbewegungen zwischen den Wirbelkörpern Muskeltraktionen zur Folge haben. Dies verursacht dynamische Aktivierungen der im Hals verlaufenden Muskelstränge und dabei kann es zu einer leichten oder auch schweren Zerrung der streckseitigen Muskeln und Nerven kommen. Dies sind Möglichkeiten für das Vorliegen von unfallbedingten Beschwerden, die im Einzelfall gutachterlich kritisch zu prüfen sind. Auch isolierte Bremsvorgänge sind dabei in vielen forensischen Verfahren Gegenstand der Begutachtung.

Bremsvorgänge beinhalten jedoch Verzögerungen mit zeitlich lang andauernder und relativ konstanter Verzögerungsbelastung von weniger als 1 g (Erdbeschleunigung) und zeigen in einer eigenen Studie [15] keine Relevanz für daraus resultierende HWS-Beschwerden.

Für einen forensischen unfallkausalen Nachweis stattgehabter Verletzungen gilt es somit, zunächst den Unfallablauf zu rekonstruieren und die aufgetretene Relativbewegung des Insassen zu ermitteln, um dessen Unfallbelastungen zu erkennen. Hierzu ist es erforderlich, eine Mehrkörpersimulation durchzuführen, um die Belastungen der Halswirbelsäule mit deren Kennwerten in x-, y- und z-Richtung sowie der Halsmomente zu kennen. Die geklagten Beschwerden müssen dazu in Beziehung gesetzt und fachmedizinisch und biomechanisch bewertet werden.

Mittlerweile besteht die Ansicht, dass die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung zwar ein wesentlicher Indikator für die Eintretenswahrscheinlichkeit einer HWS-Distorsion ist. Doch ist dieser Parameter nicht allein von Bedeutung. Vielmehr prägen der zeitliche Verlauf der Stoßbelastung und vor allem die physiologische Ist-Situation des Insassen mit seiner Bewegungsfähigkeit der HWS und eventuell vorliegenden degenerativ geprägten Veränderungen sowie die fahrzeugspezifischen Gegebenheiten, wie Sitzgestaltung, Kopfstützenanordnung, aber auch personenspezifische psychologische Parameter, das Beschwerdebild.

Aus biomechanischer und unfallkinematischer Sicht können sodann Eintretenswahrscheinlichkeiten auf der Basis existierender wissenschaftlicher Ergebnisse angegeben werden, die auf den vorliegenden Einzelfall bezogen sind und die vor allem unter medizinischer Wertung der Beschwerden und Gegebenheiten stehen müssen.

Schlussfolgerung

Biomechanik nutzt in der Hauptsache Grundlagen der Mechanik und der Traumatologie und ganz wesentlich auch der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Verletzungshäufigkeit und statistischen Ergebnissen.

Notwendig dazu ist die fachgerechte Bewertung aufgrund des umfassenden Erfahrungsschatzes von Experten, die über unfallanalytische Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Unfallforschung, aber auch über anatomische und verletzungsmechanische Erkenntnisse verfügen müssen. Oftmals werden zur Beantwortung derartiger Fragestellungen fachisolierte Gutachten eingeholt, unter anderem zunächst ein unfallanalytisches und dann separat ein medizinisches Fachgutachten. Der Vorteil eines interdisziplinären technisch-medizinischen Zusammenhangsgutachtens liegt jedoch in der gemeinsamen Aufarbeitung durch Sachverständige unterschiedlicher Fachgebiete, die möglichst den Fall gemeinsam diskutieren. Nur so können Verletzungen in Art und Ausmaß unfallkonform bewertet und auch geklagte Beschwerden wie Beschwerdedauer und unfallbedingter Arbeitsausfall sachgerecht erkannt werden.

Deshalb ist die technisch-medizinische Zusammenarbeit bei der Gutachtenerstellung vorteilhaft.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].

Prof. Dipl.-Ing. Dietmar Otte

Direktor BIOMED-TEC, Hannover

Institut für Biomechanisch-Medizinische und Technische Unfallbegutachtung und wissenschaftliche Expertisen, Hannover

Gastwissenschaftler an der Medizinischen Hochschule
Hannover und

Öffentlich vereidigter Sachverständiger für Unfallrekonstruktion und Biomechanik der IHK Hannover

Honorarprofessor für Biomechanik und Unfallforschung

Hochschule für Technik und Verkehr HTW Berlin

[email protected]

Dipl.-Ing. Thorsten Facius

Sachverständigenbüro für interdisziplinäre Gutachten BIOMED-TEC, Hannover

Bereich Unfallaufnahme, Unfallanalyse, Unfallrekonstruktion

Chirurgie

Otte D, Facius T: Die Biomechanik als interdisziplinäre Aufgabe zwischen Unfallforschung und Unfallchirurgie. Passion Chirurgie. 2022 September; 12(09): Artikel 03_05.

Diesen Artikel finden Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Fachgebiete | Unfallchirurgie/Orthopädie.

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