Einleitung
Ökonomische Denkweisen und Prinzipien wie Effizienz, Wettbewerb und Wachstum nehmen immer mehr Einzug in unterschiedliche soziale Bereiche.
Diese Entwicklung macht auch vor unserem Gesundheitssystem nicht halt. Begriffe wie „Gesundheitsmarkt“, „Gesundheitswirtschaft“, „Leistungsanbieter“ „Konsument“ werden inzwischen immer häufiger verwendet. Krankenhäuser geraten in eine finanzielle Schieflage und müssen sich, um bestehen bleiben zu können, an künstlich inszenierten Wettbewerben beteiligen, um Wachstum zu generieren. Die daraus zwangläufig entstehenden Folgen werden aktuell in der Öffentlichkeit diskutiert.
Es gibt mittlerweile große Kongresse. die den Begriff „Gesundheitswirtschaft“ in ihrem Namen tragen und die zukünftige Gestaltung des Gesundheitswesens zu ihrem Thema haben. Neben diesen Kongressen gibt es auch zahlreiche Institute und Einrichtungen, die vor allem aus ökonomischer Sichtweise ebenfalls an der Gestaltung mitwirken möchten.
Die folgenden Zeilen sind der Beginn einer Pressemitteilung zur Ankündigung des „Gesundheitswirtschaftskongress 2013“ mit der Überschrift: „ Medizin ohne Ökonomie gibt es nicht.“
„‘Wer Medizin und Ökonomie zu Gegensätzen erklärt, stiehlt sich aus der Verantwortung.‘ Mit diesen scharfen Worten brandmarkt der Gesundheitsunternehmer Prof. Heinz Lohmann bestimmte Äußerungen in der augenblicklichen Diskussion um die Zukunft des Gesundheitssystems. Wenn etwa von der ‚Kolonialisierung der Medizin durch die Ökonomie‘ gesprochen werde, gelte es ‚hellwach‘ zu sein. Unwirtschaftlichkeit sei und bleibe unethisch. (Fett gedruckt durch Weigel) […] Was nicht in Ordnung sei, sei den Patienten vorzuschieben und sich hinter dessen angeblichen Interessen zu verschanzen. Im Übrigen werde dieser sich das auch in Zukunft nicht mehr bieten lassen. Die wachsende Patientensouveränität auf der Basis zunehmender Transparenz werde die Anbieter auf den Gesundheitsmärkten zu mehr Wettbewerb zwingen.“ [2]
Von den patientenfernen, ökonomisch ausgebildeten Akteuren werden naturgemäß ihrer Ausbildung die Prinzipien der Ökonomie zur Lösung der Probleme angeboten. Hierbei wird häufig auf Instrumente, die aus der Industrie kommen, zurückgegriffen. Krankheitsverläufe sollen als „Behandlungspfade“ oder „Prozess“ dargestellt werden. Dieser Prozess soll dann von einem „Case Manager“ begleitet werden.
Der kranke Mensch soll sich im Internet informieren, um dadurch die transparenten Kennzahlen des jeweiligen Leistungserbringers zu erfahren, damit er dann seine Entscheidung souverän treffen kann, in wessen Hände er sich begibt.
Patientengespräche über Internet werden ebenfalls als Lösung zur Steigerung der Effizienz im Gesundheitswesen angeboten. Jeder der sich schon einmal mit Kommunikation beschäftigt hat, weiß wie eindimensional diese Art der Kommunikation ist. Jeder Arzt weiß, dass niemals ein Telefonat oder eine Internetkonsultation den persönlichen realen Kontakt mit einem Patienten ersetzten darf. Die digitalen Informationen auf dem Bildschirm über den erkrankten Menschen können noch so umfangreich sein, sie werden aber niemals die Realität abbilden können. Gerade in der Medizin ist die Realität zur genauen und schnellen Urteilsfindung unerlässlich.
Die patientenfernen ökonomisch ausgebildeten Akteure fordern in der Medizin immer häufiger ein „Mehr“ an:
Effizienz, Wachstum, Wettbewerb, Transparenz, Qualität, Technisierung (Internet), Patientensouveränität, Eigenverantwortlichkeit
Beispiele aus dem Alltag
Wenn ich mir einen neuen Fernseher kaufen möchte, weil es meine finanzielle Lage zulässt, dann ist das eine frei gewählte Entscheidung. Ich kann mir verschiedene Angebote ansehen, die unterschiedlichen Produkte untereinander vergleichen, mich mit Experten besprechen, mich auf den Kauf freuen, diesen Kauf zu einem frei gewählten Zeitpunkt vollziehen und mich anschließend über das neue große Bild in meinem Wohnzimmer freuen oder auch nicht.
Völlig anders ist die Situation im Falle einer Erkrankung. Was unternimmt der 75-jährige, alleinstehende Mann, der plötzlich nachts Schmerzen im rechten Unterbauch bekommt? Liest er im Internet nach, was er jetzt zu tun hat und welches die Ursache dieser Schmerzen sein könnte? Schaut er auf sein APP des Smartphone unter der Rubrik „Schmerzen“? Ruft er das Call-Center der Krankenkasse an? Schaut er sich die transparenten Qualitätskennzahlen (wie auch immer diese entstanden sind) des Krankenhauses in seiner Nähe an?
Wahrscheinlich lässt er sich mit dem Rettungsdienst in das nächste Krankenhaus bringen. Dort trifft er dann zunächst auf eine Pflegekraft, die ihn beruhigt und sich um ihn kümmert. Anschließend untersucht ihn eine junge Ärztin oder ein Arzt. Falls sie oder er sich nicht sicher sind, rufen sie den diensthabenden Oberarzt. Dieser entscheidet dann über die weitere Therapie und führt möglicherweise die Appendektomie noch in derselben Nacht durch.
Wozu einen Behandlungspfad für rechtsseitige Unterbauchschmerzen? Was muss hier noch strukturiert werden? Wie ist es mit der Effizienz, falls dieser Patient eine Gerinnungsstörung hat und teure Gerinnungsprodukte vor der Operation benötigt? Soll er dann in ein anderes Krankenhaus verlegt werden, weil die Kosten zu hoch sind? Übernimmt die Krankenkasse die Transportkosten in die andere Klinik? Wäre es aus Gründen der Effizienz nicht besser, ihn erst am nächsten Tag zu operieren? Muss jetzt der Case-Manager kommen? Warum die laparoskopische Appendektomie? Hierbei sind die Kosten höher. Veranlasse ich noch eine computertomographische Untersuchung des Abdomens, weil der souveräne Patient, der ja jetzt Konsument ist, dies so wünscht? Oder wäre ein CT in diesem Fall ineffizient? Wie ist es mit der Zeit, die dadurch verlorengeht und währenddessen die Entzündung in seinem Körper fortschreitet? Dadurch, dass noch eine CT-Untersuchung durchgeführt wird, kann die Operation dann erst nach zwei Stunden durchgeführt werden, weil zwischenzeitlich ein Kaiserschnitt in diesem OP-Saal durchgeführt werden musste. Gleichzeitig telefoniere ich als diensthabender Oberarzt mit dem Gynäkologen, ob er die Sectio auch nach der Appendektomie durchführen könne. Er erwidert aber darauf, dass es der Wunsch der souveränen Patientin sei, die ja auch Kundin ist, sofort zu entbinden. Sage ich dem Patienten vor der Operation, dass die Ursache der Schmerzen, besonders in seinem Alter, auch ein perforiertes Zökumkarzinom sein könnte? Teile ich ihm dann die mittlere Überlebenswahrscheinlichkeit mit, weil er auf Augenhöhe sein will und nicht Objekt? Wenn ich aber jetzt den Sohn des Patienten anrufen soll, teile ich dem Patienten mit, dass er aus Gründen der Effizienz für das Krankenhaus die Kosten des Telefonats (Zeit und Telefonkosten) privat zahlen muss? Assistiere ich der jungen Kollegin oder dem Kollegen diese Operation? Ist es ineffizient für das Krankenhaus, wenn dadurch die Operation zehn Minuten länger dauert? Ist es sinnvoll für die Qualität der Ausbildung der jungen Kollegen, wenn ich ihnen diese Operation assistiere? Lässt sich das bemessen?
Dieses einfache und für jeden Chirurgen nachvollziehbare Beispiel zeigt, in welche absurden Situationen die zu Ende gedachte Gedankenwelt der Ökonomisierung der Medizin führt.
Kritische Anmerkungen zu: Qualität, Ökonomisierung, Veränderung der Sprache, Wettbewerb, Transparenz und Aufgabe der Ökonomie
Die so oft eingeforderte Qualität hängt im Wesentlichen vom individuellen Ausbildungsstand, dem persönlichen Engagement, der Motivation und nicht zuletzt von der Anzahl der jeweiligen Pflegenden und Ärzten pro Patient ab.
Die inflationäre Zunahme von zahlreichen Qualitätssicherungsmaßnahmen und Zertifizierungen dienen leider häufig auch dazu, patientenferne Theoretiker zu ernähren. [3]
Herr Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin schreibt in einem Artikel: „Ökonomische und medizinische Kriterien gehören zwei unterschiedlichen Kategorien an. Die Vermengung dieser beiden zerstört die Vertrauensgrundlage des Arzt-Patienten-Verhältnisses, weil das Kriterium medizinischer Verlässlichkeit, die Verlässlichkeit des medizinischen Urteils, nicht mehr erfüllt ist. […] Paradoxerweise führt also die Korruption medizinischer Verlässlichkeit durch ökonomische Rationalität zu ökonomischer Ineffizienz.“ [4]
Pamela Harztband und Jerome Groopmann von der Harvard Medical School in Boston schreiben kritisch in einem Artikel im New England Journal of Medicine über die aktuellen Veränderungen der Sprache innerhalb der Medizin und die daraus resultierenden Konsequenzen. „ Patients are no longer patients, but rather ‘customers’ or ‘consumers’. Doctors and nurses have been transmuted into ‘providers’. These descriptors have been widely adopted in the media, medical journals and even on clinical rounds.[…] To that end, many economists and policy planners have proposed that patient care should be industrialized and standardized.” [5]
Die zunehmende Forderung nach mehr Transparenz hat auch ihre Schattenseiten, wie es der Philosoph Herr Prof. Dr. Byung-Chu Han in einem Artikel in der „Zeit“ vom 12.01.2012 sehr eindrucksvoll darlegt:
„Die Forderung nach Transparenz wird gerade da laut, wo kein Vertrauen mehr vorhanden ist. Die Transparenzgesellschaft ist eine Gesellschaft des Misstrauens, die aufgrund des schwindenden Vertrauens auf Kontrolle setzt. […] Die lautstarke Forderung nach Transparenz weist gerade darauf hin, dass das moralische Fundament der Gesellschaft brüchig geworden ist, dass moralische Werte wie Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit immer mehr an Bedeutung verlieren. An die Stelle der wegbrechenden moralischen Instanz tritt die Transparenz als neuer gesellschaftlicher Imperativ. […] Der Zwang zur Transparenz ist letzten Endes kein ethischer oder politischer, sondern ein ökonomischer Imperativ. Ausleuchtung ist Ausbeutung. Wer ganz ausgeleuchtet ist, ist der Ausbeutung schutzlos ausgeliefert. Die Überbelichtung einer Person maximiert die ökonomische Effizienz. Der transparente Kunde ist der neue Insasse, ja der Homo sacer des ökonomischen Panoptikums.“ [6]
Herr Dr. Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre in der Schweiz, beschreibt in seinem Buch „Sinnlose Wettbewerbe“, dass es Bereiche gibt, in denen künstlich ein Wettbewerb inszeniert wird. „Also versucht man, künstliche Wettbewerbe zu inszenieren, um so auch Bereiche wie Wissenschaft, Bildung oder Gesundheitswesen auf Effizienz zu trimmen“ [7] „[…] Wenn Bauern immer mehr Lebensmittel produzieren, dann sinken bald einmal die Preise, denn die Nachfrage wird durch das Angebot kaum beeinflusst. Bei Arztdienstleistungen geschieht genau das Gegenteil. Wenn Ärzte immer mehr Gesundheitsdienstleistungen ‚produzieren‘ dann ‚konsumieren‘ die Menschen immer mehr aufwendigere Dienstleitungen und die Preise steigen. Denn im Unterschied zu Nahrungsmitteln ist man von medizinischen Angeboten nie übersättigt. Man kann immer noch etwas fitter, noch etwas schöner und noch etwas älter werden.“ [8]
In dem Artikel „Heilen als Management? Zum Verlust einer Kultur der verstehenden Sorge in Zeiten der Ökonomie“ schreibt Prof. Dr. Maio, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Freiburg: „Da medizinische Güter grundsätzlich knapp sind, ist das ökonomische Denken Voraussetzung dafür, dass möglichst vielen geholfen werden kann. Daher gehört das ökonomische Denken zu einer guten Medizin unabdingbar dazu. Aber eine sinnvolle Rangfolge der Ziele der Medizin und der Ökonomie kann doch nur so aussehen, dass die Ziele der Ökonomie in den Dienst der Medizin gestellt werden müssen. Die Ökonomie hätte demnach eine der Medizin dienende Funktion. Nur diese lediglich dienende Funktion der Ökonomie würde es der Medizin ermöglichen, ihre eigenen Ziele zu bewahren. In der Realität aber, ist es gerade umgekehrt. So hat sich in den modernen Strukturen vieler Praxen und Kliniken eine bedenkliche Entwicklung eingeschlichen, weil mancherorts der Markt nicht mehr der Medizin, sondern zunehmend die Medizin dem Markt dient.“ [9] (Fett gedruckt durch Weigel)
Zusammenfassung
Nach meiner Einschätzung führen die zunehmenden Forderungen der patientenfernen, ökonomisch ausgebildeten Akteure zu einem Verlust der Verlässlichkeit in unserem Gesundheitssystem und damit zu einem Verlust des Vertrauens in unsere ärztliche Arbeit.
Dieses Vertrauen soll dann durch Transparenz, vor allem aus Sicht der Ökonomen, wieder hergestellt werden. Was aber wahrscheinlich nicht gelingen kann. Damit sind wir dann einfache Gesundheitsdienstleister und Teil des „ökonomischen Panoptikums“.
Gerade diese Forderungen nach mehr Ökonomie führen am Ende des Tages zu einer Ineffizienz des so neu regulierten Gesundheitssystems und damit zu einer Steigerung der Ausgaben.
„Daher dürfen Ärzte die Realisierung der Medizin nicht der Ökonomie überlassen, sondern sie müssen darum kämpfen und werben, dass Medizin nicht zum Gewerbe herabgestuft wird, sondern eine soziale Form der Zuwendung bleibt.“ [9]
Nicht zuletzt müssen wir gerade auch wegen unserer Patienten, für die wir die Verantwortung haben, immer wieder darauf hinweisen, dass Gesundheit nicht zur „Ware“ werden darf.
Literatur
[1] Mitteilung des Radio Vatikan vom 17.11.2012 (http://de.radiovaticana.va) anlässlich der 27. Internationalen Konferenz des Päpstlichen Rates mit dem Thema „Das Krankenhaus als Ort der Neuevangelisierung“ (600 Teilnehmer: Ärzte, Pflege, Juristen, und anderen Berufsgruppen aus der ganzen Welt, die im Gesundheitswesen tätig sind)
[2] Pressemitteilung„ Medizin ohne Ökonomie gibt es nicht“ vom 9.11.2012, www.gesundheitswirtschaftskongress.de
[3] Thomas F. Weigel, Mathias Kamm: Bürokratie: Auskommen für Theoretiker; Dtsch Arztebl 2012; 109(22-23): A-1187 / B-1022 / C-1014 (Leserbrief)
[4] Julian Nida-Rümelin: Verlässlichkeit-Eine Grundlage humaner Ökonomie, 2012, (www.julian.nida-ruemelin.de, unter Downloads)
[5] Pamela Hartzband, Jerome Groopmann: The New Language of Medicine; NEJM, 2011, 365; 15, 1372-1373
[6] Byung-Chul Han: Transparent ist nur das Tote; „Die Zeit“ vom 12.1. 2012
[7] Mathias Binswanger: Sinnlose Wettbewerbe.- Herder Verlag 2010, Seite 46
[8] Mathias Binswanger: Sinnlose Wettbewerbe.- Herder Verlag 2010, Seite 182
[9] Giovanni Maio: Heilen als Management? Zum Verlust der Kultur der verstehenden Sorge in Zeiten der Ökonomie; Z Allg Med; 2011; 87 (12), 36-41