01.06.2021 Fachgebiete
BDC-Praxistest: Zweitmeinungsverfahren Schulterarthroskopie

Vorwort
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Der Anspruch auf das Einholen einer Zweitmeinung ist in der GKV-Versorgung bereits seit 2015 gesetzlich verankert. Gesetzlich versicherte Patient:innen besitzen also einen Rechtsanspruch, vor planbaren Operationen eine zweite, unabhängige ärztliche Meinung einzuholen. Die Indikationen sind noch sehr eingeschränkt (Hysterektomie, Tonsillektomie, Schulterarthroskopie, Knie-TEP, Amputation bei diabetischem Fuß), aber seit dem Start des Verfahrens in 2018 werden sie erweitert und sollen konsequent ausgebaut werden.
Ein Fortschritt, könnte man meinen, um das hohe Lied auf den Patientenschutz zu singen, doch die genauere Betrachtung lässt viele Fragen offen. Dass die Auswahl der zu hinterfragenden Therapien in der anfänglichen Testphase begrenzt bleibt, liegt auf der Hand. Die exakte Auswahl der zu prüfenden Verfahrensvorschläge ist aber zu wenig transparent und imponiert so fast willkürlich. Und warum – wie bei vielen anderen Maßnahmen der bürokratischen Qualitätsprüfung – erneut fast nur operative Eingriffe auf dem Prüfstand stehen sollen, wird auch nicht klar. Müssen konservativ tätige Ärzte nicht geprüft werden? Oder sind Medikationsfehler weniger relevant? Das wohl nicht, aber dafür nicht so teuer. Immerhin plant das IQWiG bei den 15 in 2021 neu vorgeschlagenen Indikationen aber jetzt mit der Myokardszintigraphie auch eine nicht-interventionelle Maßnahme. Das umweht jetzt aber alles wieder der Odem der vermeintlichen operativ-interventionellen Überversorgung. In Zeiten, in denen Teile der doch immer so klammen GKV ohne Skrupel Maßnahmen der Physiatrie und Homöopathie entlohnen, denen es an jeglichem wissenschaftlichen Unterbau mangelt, oder über 200 Millionen Euro ins Marketing stecken (sollte die Deutsche Handballnationalmannschaft wirklich für die AOK werben?), hören viele doch die Nachtigall trapsen. Man will Geld sparen – so weit, so gut. Aber muss man dafür den vermeintlichen Patentenschutz instrumentalisieren, und wieder mal die Ärzte diskreditieren? Kooperative Qualitätssicherung geht anders. Richtig offensichtlich werden die Ziele des Programms bei der Auswahl der Zweitmeinungsexperten, denn die Vorgaben sind so lau, dass sie nicht ganz so weit entfernt an die Zulassung zum Heilpraktiker erinnern. Expert:in für die Zweitmeinung wird man schnell – 800 sind es bundesweit allein für die drei Starter Hysterektomie, Tonsillektomie oder Schulterarthroskopie. Da herrscht also kein Mangel. Und die anderen sind alles Trottel und Betrüger? Armes Deutschland. Und wenn man dann doch keinen Second-Opinion-Expert findet, helfen die Kassen gerne mit Ihren eigenen Spezialisten aus. Denn das sind ja bekanntermaßen, die, die sich in allem am besten auskennen. Eh klar.
Fragt man drei Ärzte zu einem medizinischen Thema erhält man bekanntlich vier Meinungen. Die Überprüfung strittiger Indikationen ist deshalb richtig und notwendig. Die Zweitmeinung ist aber genau deshalb auch schon seit Jahrzehnten Bestandteil des Arzt- und Patientenalltags. Eine Standardisierung des Verfahrens mag notwendig sein, aber dann braucht es veritable Experten und eine generelle Ausdehnung auf alle ärztlichen Maßnahmen. Kostet dann aber mehr. Eine Mengenbegrenzung – und um die geht es doch tatsächlich – erreicht man wissenschaftlich viel fundierter über die Fachgesellschaften. Vielleicht braucht es da mehr Druck, aber sie sind die richtigen Hebel. Noch schneller und klarer geht es nur über Rationierungen, doch dieses böse Wort traut sich kein Funktionär oder Politiker auszusprechen. Da beschimpft man lieber die Ärzte.
Das Thema ist heiß – oder sollte man zurzeit besser sagen „geht viral“? Grund genug für uns, das Zweitmeinungsverfahren am Beispiel der Schultereingriffe genauer zu beleuchten.
Erhellende Lektüre wünschen
Prof. Dr. med. C. J. Krones und Prof. Dr. med. D. Vallböhmer
In der Passion Chirurgie 07/08/2020 erschien ein Artikel zum neu etablierten Zweitmeinungsverfahren Schulterarthroskopie. Die praktische Umsetzung und erste Erfahrungen wurden jetzt durch eine BDC-Umfrage evaluiert. Als Modell-Region wurde die KV Niedersachsen ausgewählt. Dort besaßen zum Zeitpunkt der Umfrage 27 Orthopäden und Unfallchirurgen die Genehmigung als Zweitmeiner und wurden auf der Homepage der KVN aufgeführt. Davon haben 19 den kurzen Fragebogen zu den praktischen Erfahrungen ausgefüllt und anonym zurückgesandt.
Hier die Tendenz der Antworten:
- Die meisten Zweitmeiner hatten noch keine oder sehr wenige Anfragen. Von diesen wurde das Verfahren besonders kritisch beurteilt.
- Dagegen hatten wenige Zweitmeiner in der kurzen Zeit seit der Implementierung des Verfahrens (Anfang 2020) einstellige bis niedrig zweistellige Patientenzahlen.
- Das Verfahren wurde allgemein als bürokratisch und aufwändig, jedoch sinnvoll aus Patientensicht beurteilt. Einige Zweitmeiner sind der Auffassung, dass die Patienten auch ohne das Verfahren zu Ihnen gekommen wären.
- Die Indikation zur subakromialen Dekompression als isolierte Maßnahme werde zu häufig gestellt und stelle den häufigsten Kritikpunkt dar. Gelegentlich seien konservative Behandlungsmaßnahmen noch nicht ausgeschöpft gewesen.
- Oft fehle der konservative Therapieversuch.
- Bei der Indikation zur Schulter-TEP würden teilweise unrealistische Erwartungen geweckt.
- Bei Patienten mit einem langen Leidensweg und hohem Leidensdruck wurden im Rahmen der Zweitmeinung keine „unnötigen Indikationen“ für Schulter-Operationen gesehen.
- Die Honorierung für die Zweitmeinung wird als unzureichend beurteilt.
- Einer der Zweitmeiner kritisiert, dass für die Zulassung keine eigenen Erfahrungen mit der zu prüfenden Operationsmethode vorausgesetzt werden.
- Darüber hinaus wurden drei erfahrene und überregional bekannte Schulterchirurgen vom BDC angeschrieben und um ihre Erfahrungen und eine Einschätzung des Verfahrens gebeten. Zwei davon haben geantwortet:
- Die Abgabe einer Zweitmeinung stelle für sie keine Neuerung, sondern Routine dar, allerdings in sehr geringem Umfang im Vergleich zur gesamten Anzahl von Schulterpatienten.
- Die eigene Beteiligung als Zweitmeiner für die KV wurde als nicht notwendig betrachtet, weil die Patienten ohnehin bei ihnen vorgestellt würden. Die niedergelassenen Haus- und Fachärzte der Region wüssten am besten, wer eine kompetente Zweitmeinung abgeben könne.
- Die Zweitmeinung betreffe nicht nur die Indikation zur Arthroskopie, sondern auch andere operative Eingriffe an der Schulter und konservative Maßnahmen.
- Eigene Operationsindikationen seien – soweit bekannt – nie durch Zweitmeinung anderer Kollegen negiert worden.
- Das Zweitmeinungsverfahren im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung (Heilverfahrenskontrolle gemäß Nr. 35 UV-GOÄ) wurde als nützlich bewertet.
- Auch von einem der Schulter-Spezialisten wird kritisiert, dass für die KV-Zulassung als Zweitmeiner keine eigenen Erfahrungen mit der zu prüfenden Operationsmethode vorausgesetzt werden.
Kalbe P: BDC-Praxistest: Zweitmeinungsverfahren Schulterarthroskopie. Passion Chirurgie. 2021 Juni; 11(06): Artikel 05_01.
Autor des Artikels

Dr. med. Peter Kalbe
Vizepräsident des BDCGelenkzentrum SchaumburgStükenstraße 331737Rinteln kontaktierenWeitere aktuelle Artikel
01.09.2022 Kinderchirurgie
Besonderheiten bei Gelenkfrakturen im Kindesalter
Anders als bei Gelenkfrakturen im Erwachsenenalter, bei denen die anatomische Rekonstruktion der Gelenkfläche immer im Vordergrund steht, muss bei Kindern zusätzlich auf eine Verletzung der gelenknahen Wachstumsfugen geachtet werden [1]. Verletzungen der Epiphysenfugen gehen potenziell mit altersabhängigen Einflüssen auf das weitere Wachstum einher und können zu posttraumatischen Fehlstellungen führen [2]. Gelenkfrakturen im Kindesalter betreffen vorrangig den Ellbogen (kondyläre Frakturen des distalen Humerus, Olekranonfraktur) sowie das obere Sprunggelenk (Malleolus-medialis-Fraktur, Übergangsfrakturen) [3].
01.09.2022 Orthopädie/Unfallchirurgie
Osteoporose – Silent Killer
Osteoporose ist eine systemische Skeletterkrankung, die durch eine niedrige Knochenmasse und eine verschlechterte Mikroarchitektur des Knochens definiert ist. Folgen sind eine verminderte Knochenqualität sowie ein vermehrtes Auftreten von Frakturen unabhängig von der einwirkenden Energie [1]. Die Abnahme der Knochenqualität im Alter entsteht durch physiologische Umbauvorgänge im Rahmen des normalen Alterungsprozesses. Die Entwicklung zur Osteoporose ist bei Frauen nach der Menopause akzentuiert.
01.09.2022 BDC|News
Editorial 09-2022: Orthopädie & Unfallchirurgie
Die Fächer Orthopädie und Unfallchirurgie, die über viele Jahrzehnte im wissenschaftlichen Bereich getrennt agierten, haben den Prozess der Vereinigung der Fachgesellschaften im Jahr 2008 durch Gründung der DGOU formal besiegelt und damit nachvollzogen, was mit der Musterweiterbildungsordnung bereits seit 2003 Bestand hatte. Wie in jeder guten Ehe knirscht und knackt es in dieser Beziehung gelegentlich.
25.08.2022 Viszeralchirurgie
Zufriedenheit und Arbeits(zeit)gestaltung von Chirurg:innen in Deutschland – wo stehen wir aktuell?
Mittlerweile sind 14 Jahre vergangen, seitdem die Berufssituation der Chirurg:innen im Rahmen einer Umfrage des BDC zuletzt evaluiert und in der Passion Chirurgie 2009 veröffentlicht wurde [1]. Es ist nicht verwunderlich, dass sich in diesem Zeitraum sowohl die Chirurgie als auch die Rahmenbedingungen weiter verändert haben.
Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!
Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.