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Vorwort
Das Geschlecht macht den Unterschied – Gendermedizin

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Genderfragen überschwemmen aktuell den öffentlichen Diskurs. Das mag nicht jedem passen – über Binnen-I, Gendergaps und -stars kann man ja auch trefflich streiten. Fragen der Grammatik sind der volatilen Sprachentwicklung unterworfen und entscheiden sich deshalb in allen Gesellschaften oder Gruppen am Ende normativ: eine Mehrheit entscheidet.

Aber manche geschlechtsspezifischen Unterschiede unterliegen keiner Meinung, Empfindung oder politischen Überzeugung, denn sie sind faktisch und damit kaum verhandelbar. Die Gendermedizin bietet solche Abweichungen.

Frauen und Männer bieten je nach Krankheit abweichende Symptome, und müssen anders behandelt werden. Dafür gibt es viele Hinweise. Die Lebenserwartung der Geschlechter weicht stark ab. Prävention ist weiblich dominiert. Männer besitzen ein geringeres Risiko für bestimmte Sportverletzungen. Frauen erkranken seltener an Krebs, und haben dann eine bessere Prognose. Männer besitzen das schwächere Immunsystem. Frauen klagen dagegen öfter über Allergien, Unverträglichkeiten, medikamentöse Nebenwirkungen und Autoimmunkrankheiten, vor der Menopause aber seltener an der koronaren Herzkrankheit. Und das soziale Rollenverständnis beeinflusst die Verhaltensmuster aller Beteiligten auch massiv.

Wir wissen das alles. Und doch wird das Thema vielfach noch ignoriert. Dabei müssen alle medizinischen Erkenntnisse auf ihre geschlechtsspezifische Gültigkeit geprüft werden. Das beginnt bei den Beschwerden und der Beratung in der Prävention und reicht über die Diagnostik bis zur Steuerung körperlicher Belastungen oder Medikationen. Wer das ignoriert, handelt unwissenschaftlich.

Und zum Schluss: Gendermedizin handelt nicht von Frauen, sondern von Geschlechtsunterschieden. Es ist eine geschlechtsspezifische Medizin und das geht alle an.

Anregende Lektüre wünschen

Prof. Dr. med. C. J. Krones und

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Auf dem Geschlecht basierende Abweichungen in der Epidemiologie von Erkrankungen, ihrer klinischen Manifestation und der Prognose sind ein bisher unterschätzter, aber relevanter Einflussfaktor in der Medizin. Die Grundlage bilden biologische und soziokulturelle Unterschiede zwischen Männern und Frauen, welche die Diagnostik und Therapie wesentlich beeinflussen. Die Geschlechtsspezifische Medizin oder kurz „Gendermedizin“ ist das Querschnittsfach der Medizin, das diesen geschlechtsbasierten Dimorphismus von Erkrankungen berücksichtigt. [1]

Der Wissenschaftsrat beschreibt in einer Stellungnahme im Juli 2023 die Geschlechterforschung als ein „zukunftsträchtiges Forschungsfeld“, bemängelte aber gleichzeitig den im internationalen Vergleich bestehenden Nachholbedarf in der Medizin in Deutschland. Er spricht sich für eine stärkere Integration von Geschlechterperspektiven in Forschung und Lehre aus. [2]

Geschlechtsspezifische Medizin in Forschung und Lehre

Die Lehre von geschlechtsspezifischen Inhalten ist in Deutschland bisher nur unzureichend in die medizinische Ausbildung integriert. Eine Umfrage durch den Deutschen Ärztinnenbund (DÄB) in Deutschland im Jahr 2020 und aller medizinischen Fakultäten zeigte, dass die Mehrheit der medizinischen Fakultäten den Wissenstransfer unzureichend sicherstellt. Nur etwa 70 % der deutschen medizinischen Fakultäten machen die Studierenden gelegentlich auf geschlechterspezifische Unterschiede bei Symptomen, Krankheiten und Therapien aufmerksam. [3] Nach internationalen Standards [4, 5] zeigt lediglich die Charité in Berlin eine ausreichende Integration der Gendermedizin in die medizinische Ausbildung. [6]

In der aktuellen Verordnung des Bundesministeriums für Gesundheit zur Neuregelung der ärztlichen Ausbildung steht: „Um Geschlechterwissen und Geschlechter­sensibilität im Medizinstudium zu stärken, wird das Fach Gendermedizin hinzugefügt.“ [7] Die konkreten Lernziele dazu sind im neuen ‚Nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin‘ (NKLM 2.0, Beispiel Tab. 1) festgeschrieben. [8] Bisher gibt es 88 Lernziele zur geschlechtersensiblen Medizin mit Diversitätsaspekten. Weitere geschlechtersensible Lernziele müssen sicherlich ergänzt werden. [9]

Tab. 1: Beispiele für geschlechtersensible Lernziele im NKLM 2,0

ID

Erkrankung

Eingrenzung durch Präzisierung und kompetenzbasierte Querverbindungen

Empfohlene Fächer

VI. Erkrankungen

VI.01-01.7.1

Stabile koronare Herzerkrankung

VII4. Notfallmaßnahmen: eine fokussierte Anamnese bei kritisch kranken Patientinnen und Patienten Situations-, alters- und geschlechtergerecht durchführen Phase 1-P

Allgemeinmedizin, Chirurgie, Innere Medizin, Bildgebende Verfahren,

VI.01-01.7.1

Stabile koronare Herzerkrankung

VIII.4 Gesundheitsberatung,-förderung, Prävention und Rehabilitation: Grundlage gesunder Ernährung unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, kulturellem Hintergrund… Phase 2

Allgemeinmedizin, Chirurgie, Innere Medizin, Bildgebende Verfahren,

VI.01-01.7.2

Akutes Koronarsyndrom

VII4. Notfallmaßnahmen: eine fokussierte Anamnese bei kritisch kranken Patientinnen und Patienten Situations-, alters- und geschlechtergerecht durchführen Phase 1-P

Allgemeinmedizin, Anästhesiologie, Chirurgie, Innere Medizin, klinische Chemie, Pathologie, Rechtsmedizin, Notfallmedizin, Bildgebende Verfahren,

VI.01-01.8.3

Arteriosklerose

VIII.4 Gesundheitsberatung,-förderung, Prävention und Rehabilitation: Grundlage gesunder Ernährung unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht, kulturellem Hintergrund… Phase 2

Biochemie/Molekularbiologie, Allgemeinmedizin, Chirurgie, Innere Medizin, Pathologie

VI.02-01.06.14

Femurfrakturen

VII4. Notfallmaßnahmen: eine fokussierte Anamnese bei kritisch kranken Patientinnen und Patienten Situations-, alters- und geschlechtergerecht durchführen Phase 1-P

Chirurgie, Orthopädie, Rechtsmedizin, Medizin des Alterns und des alten Menschen

VI.02-01.06.14

Femurfrakturen

VIII.4 Gesundheitsberatung,-förderung, Prävention und Rehabilitation: geeignete Maßnahmen in verschiedenen Settings in der Gesundheitsförderung und Prävention erläutern und geschlechts- und altersspezifische Aspekte berücksichtigen (Phase 1 -P)

Chirurgie, Orthopädie, Rechtsmedizin, Medizin des Alterns und des alten Menschen

Vi.02-01.6.20

Akute Funktionsstörung der Wirbelsäule

VII1a. Prinzipien normaler Struktur und Funktion: die Wirkung von Erwartungseffekten und weiteren psychischen, geschlechtsspezifischen…
Faktoren auf Nozizeption und Schmerz erklären

Chirurgie, Orthopädie, Neurochirurgie, Allgemeinmedizin, Notfallmedizin

VI.02-01.9.1

Osteoporose

VII1a. im klinischen Kontext vertiefend die Wirkung von Erwartungseffekten und weiteren psychischen, geschlechtsspezifischen… erklären

Biochemie/Molekularbiologie, Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Orthopädie, Pathologie, Medizin des Alterns und des alten Menschen, Schmerzmedizin

VI.03-01.1.1

Diabetes mellitus Typ 1

VIII.2. Ärztliche Gesprächsführung: psychische, somatische-, soziale-, alters- und geschlechterbezogene Aspekte einer Erkrankung während des Gesprächs simultan berücksichtigen (Phase 2)

Biochemie/Molekularbiologie, Kinderheilkunde, Innere Medizin, klinische Chemie, Infektiologie, Immunologie, Notfallmedizin

In den chirurgischen Fächern sind die geschlechtsspezifischen anatomischen Unterschiede in Verbindung mit relevanten Folgen für die operativen Eingriffe auf den ersten Blick selbstverständlich, aber wenig erforscht. Pathogenese, Diagnostik, Therapie und Prävention von Erkrankungen in der Chirurgie können sich geschlechtsspezifisch deutlich voneinander unterscheiden. Sexualhormone, die unterschiedlichen Genexpressionen auf den X- und Y-Chromosomen sowie die soziokulturellen Aspekte haben nachweislich Einfluss auf Krankheitsmuster und -schwere.

Die „Gender Awareness“ in der medizinischen Forschung gewinnt in den letzten Jahrzehnten langsam aber zunehmend an Aufmerksamkeit. [10] Hier zeigen Studien, dass nicht nur die Forschung zu geschlechtsspezifischen Aspekten bei Krankheitsentstehung, dem Verlauf und Behandlungsergebnissen eine wichtige Rolle für die Gesundheitsversorgung spielen, sondern auch, dass das geschlechtsspezifische Verhalten der Patient:innen und das des medizinischen Personals die Gesundheitsversorgung beeinflusst. [11, 12, 13]

Ein weiterer wichtiger Faktor, um das Bewusstsein dafür zu stärken, dass die Forschung mit einem geschlechter- und diversitätssensiblen Ansatz die Voraussetzung für eine exzellente medizinische Versorgung ist, scheint auch die Beseitigung geschlechtsspezifischer Zugangsbarrieren zur medizinischen Forschung, Lehre, klinischen Praxis und Gesundheitsversorgung zu sein.

Geschlechtsspezifische Medizin in der Orthopädie und Unfallchirurgie

Die Relevanz geschlechtsspezifischer Unterschiede muskuloskelettaler Erkrankungen hinsichtlich einer modernen personalisierten Medizin wurde in der Fachwelt lange Zeit ignoriert. Die Folgen dieser Herangehensweise zeigen sich beispielhaft im Themenbereich der Osteoporose. Gern als „weibliches Problem“ verkannt, schuf das fehlende Bewusstsein im klinischen Alltag eine Versorgungslücke der männlichen Population. Männer erhalten im Vergleich zu Frauen signifikant seltener eine weiterführende Abklärung bei Vorliegen einer typischen Osteoporose-assoziierten Hüftfraktur und auch seltener die notwendige antiresorptive Therapie. [14] Dabei zeigen sie eine um zwei- bis dreimal höhere 1-Jahres-Mortalität. Auch eine höhere Morbidität, die den Verlust der Selbstständigkeit und den Umzug in eine Pflegeeinrichtung bedeuten kann, wird bei männlichen Patienten häufiger beobachtet. [15] Während bei Frauen ab dem 50. Lebensjahr und einem begleitenden Risikofaktor für das Auftreten einer Osteoporose – dies entspricht einem 10-Jahresfrakturrisiko von 20 % – die Einleitung weiterführender Diagnostik empfohlen wird, betrifft diese Empfehlung Männer erst ab dem 60. Lebensjahr. Als apparative Standdarddiagnostik zur Evaluierung der Knochendichte gilt für beide Geschlechter nach wie vor die DXA-Messung (Dual Energy X-Ray Absorptiometry). Sie misst im Bereich der LWS und des proximalen Femurs die Knochenflächedichte. Da Männer durchschnittlich größere Knochen mit einem entsprechend größeren Durchmesser besitzen, wird – bedingt durch die Aufnahmetechnik – bei Männern eine um 10-12 % höhere Knochenflächedichte gemessen. Die tatsächliche volumetrische Knochendichte ist bei Frauen und Männern jedoch gleich. Angegeben wird die Knochendichte als Standardabweichung des Knochendichtewerts im Vergleich zu einer Referenzpopulation. Diese umfasst für beide Geschlechter eine junge, gesunde 30-jährige Frau. Diese geschlechtsspezifischen Abweichungen lassen also relevante Ungenauigkeiten allein in der apparativen Diagnostik und Beurteilung im Rahmen der Osteoporoseabklärung vermuten. [16]

Die FIFA Frauen WM 2023 rückte ein weiteres, bereits seit zwei Jahrzehnten bekanntes geschlechtsspezifisches Thema der Sportorthopädie in den Fokus der Öffentlichkeit. Zahlreiche Spielerinnen erlitten während der Phase der Turniervorbereitung eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes. Epidemiologische Daten zeigen, dass Frauen dabei einem vier- bis achtfach höheren Risiko unterliegen. [17] In der Vergangenheit konzentrierten sich Studien zur Kreuzbandchirurgie jedoch verstärkt auf männliche Patienten oder vermieden eine dichotome Ergebnisdarstellung von Männern und Frauen, sodass nur wenig Evidenz über die Gründe der Geschlechtsdiskrepanz besteht. Ursächlich wird derzeit ein Zusammenspiel von modifizierbaren (Biomechanik, neuromuskuläre Kontrolle) und nichtmodifizierbaren Faktoren (Anatomie, Hormone, Genetik) angenommen, wobei Expertenkonsens darüber besteht, dass letztere einen größeren Einfluss zu haben scheinen. [18]

Frauen zeigen nach operativer Versorgung des rupturierten vorderen Kreuzbands auch schlechtere subjektive Ergebnisscores. [19] Die Wahl des Transplantats scheint hierauf keinen Einfluss zu haben. Stattdessen wird ein verstärkter Einsatz zusätzlicher extraartikulärer stabilisierender Eingriffe derzeit diskutiert. [20]

Geschlechtsspezifische Medizin in der Gefäßchirurgie

Wie machen sich nun die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bemerkbar, wenn es um Gefäßerkrankungen geht? Die Studienlage zu dieser Fragestellung ist leider insgesamt noch immer ausgesprochen gering und Frauen sind bei randomisierten kontrollierten Studien zu Gefäßkrankheiten deutlich unterrepräsentiert. Und doch kennen wir auch heute schon einige geschlechtsspezifische Unterschiede in der arteriellen und venösen Gefäßmedizin, die bislang leider zu wenig Berücksichtigung im klinischen Alltag oder gar Eingang in vorhandene Leitlinien gefunden haben.

Die periphere arterielle Verschlusskrankheit (PAVK) wurde bislang kaum unter dem Aspekt geschlechterspezifischer Besonderheiten betrachtet. Wenn man sich jedoch näher mit den frauenspezifischen Aspekten der arteriellen Durchblutungsstörung beschäftigt, findet man spannende und teilweise große Unterschiede, deren Ursachen oftmals nicht abschließend geklärt sind.

Frauen sind im Durchschnitt bei Diagnosestellung einer PAVK deutlich älter als die männlichen Patienten. Eine entscheidende Rolle bei diesen altersabhängigen Effekten spielt wohl die östrogene Vasoprotektion. Zumindest leiden Frauen in den Lebensjahren vor der Menopause deutlich seltener an PAVK-Erkrankungen als gleichaltrige Männer. Im Alter zwischen 50 und 70 Jahren überwiegt dann der Anteil an Frauen mit arterieller Hypertonie. Jenseits des 7. Lebensjahrzehnts erkranken Frauen und Männer schließlich etwa gleich häufig. [21, 22] Neben dieser abweichenden Altersverteilung wird für Frauen auch eine Unterdiagnostik der PAVK beschrieben. Dieser Mangel wird eventuell auch dadurch verursacht, dass die PAVK in frühen Stadien bei Frauen im Vergleich zu Männern häufiger asymptomatisch abläuft. Das führende Symptom bei Frauen ist meist nicht die klassische Wadenclaudicatio, sondern ein eher diffuser Beinschmerz, der dann primär nicht der PAVK zugeschrieben wird [23]. Bei Frauen wird die PAVK daher nicht selten erst im vorangeschrittenen Stadium diagnostiziert und behandelt [24]. Ein weiterer großer Unterschied besteht schon lange vor Ausbruch der Krankheit: Der Einfluss der bekannten Risikofaktoren auf die Entstehung der PAVK scheint bei Frauen größer zu sein als bei Männern. Die traditionellen kardiovaskulären Risikofaktoren, wie Hypertonie, Diabetes, Rauchen und hohe Cholesterinwerte wirken sich bei Männern und Frauen möglicherweise unterschiedlich aus. Die Inhaltsstoffe des Tabaks gefährden die Gefäße der Frauen mehr als die der Männer. Außerdem tun sich Frauen generell schwerer, mit dem Rauchen aufzuhören. Auch beim Risikofaktor Diabetes trifft es die Frauen härter: Bei zuckererkrankten Männern verdoppelt sich das Risiko für Gefäßveränderungen im Vergleich zu gesunden Männern. Bei erkrankten Frauen steigt das Risiko hingegen auf das Vier- bis Sechsfache an. Hoher Blutdruck und hohe Cholesterinwerte spielen für Frauen jenseits der Menopause eine deutlich größere Rolle für die Entstehung einer PAVK als bei gleichaltrigen Männern [25]. Gerade deshalb ist es so entscheidend, dass Frauen bezogen auf die bekannten Risikofaktoren durch die betreuenden Ärztinnen und Ärzte eine besondere Aufklärung und Versorgung erfahren. Aber leider scheint das genaue Gegenteil der Fall zu sein, denn offenbar ist die medizinische Versorgungssituation der Frauen deutlich schlechter als die der Männer: Die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahr 2010 zeigten, dass mehr Männer als Frauen eine leitliniengerechte Verordnung von Cholesterinsenkern und Blutverdünnern erhielten [26]. Warum Frauen eine schlechtere Medikamentenversorgung als Männer erhielten, ist nicht abschließend geklärt. Es bleibt zu hoffen, dass diese Versorgungsunterschiede zukünftig ausgeglichen werden.

Auch im Bereich der Phlebologie gilt es, bekannte geschlechterspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen. Venenerkrankungen sind ein weit verbreitetes Gesundheitsproblem, das Menschen weltweit betrifft. Obwohl sie bei beiden Geschlechtern auftreten können, gibt es bestimmte Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Bezug auf die Prävalenz, Symptome und Risikofaktoren von Venenerkrankungen. Die Bonner Venenstudie zeigte, dass Frauen häufiger von bestimmten Venenerkrankungen betroffen sind als Männer [29]. Eine der häufigsten Venenerkrankungen, die Frauen betrifft, ist die chronisch venöse Insuffizienz (CVI). Dies könnte auf verschiedene Faktoren zurückzuführen sein, darunter hormonelle Veränderungen, Schwangerschaft und die Verwendung hormoneller Verhütungsmittel. Männer hingegen neigen eher zu Krampfadern, die aus einer genetischen Veranlagung, Berufsbelastungen und Fragen des Lebensstils resultieren. Die Symptome von Venenerkrankungen können ebenfalls geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausfallen. Frauen berichten oft über Schwellungen, Schmerzen und einem Schweregefühl in den Beinen, besonders während der Schwangerschaft oder in Folge hormoneller Veränderungen. Männer neigen dazu, Krampfadern zu entwickeln, die als häufigstes Symptom schmerzhaft sein können. Obwohl der Anteil der Patient:innen mit einer Varikose signifikant höher ist, stellen sich Männer in der Regel mit einer schwereren Ausprägung der Erkrankung vor. Dabei könnten am ehesten psychologische und soziologische Faktoren eine Rolle spielen, die dazu führen, dass Männer die Varikose erst später bemerken oder unterschätzen.

Auch die Thrombose unterliegt geschlechtsspezifischen Besonderheiten. Frauen besitzen durch den Einfluss des Östrogens generell ein anderes Thromboserisiko als Männer. Das Risiko schwankt in den verschiedenen Lebensphasen mit dem Hormonspiegel, durch die Einnahme einer hormonellen Kontrazeption, während Schwangerschaft und Wochenbett und durch die Anwendung einer Hormonersatztherapie. Diese speziellen Risikosituationen müssen Berücksichtigung bei der Diagnosestellung bzw. bei der Verordnung der medikamentösen Therapien finden.

Herausforderungen und Chancen der Geschlechtsspezifischen Medizin

Zusammenfassend ist es unerlässlich, geschlechtsspezifische Unterschiede bei Erkrankungen zu verstehen, um die individuelle Gesundheitsversorgung zu optimieren. Aktuell werden die Abweichungen zwischen Frauen und Männern in Anatomie, Physiologie, Erkrankungsrisiken und Therapieverläufen jedoch noch deutlich unterschätzt. Eine geschlechtsangepasste Gesundheitsversorgung erfordert eine umfassendere Forschung, die Sensibilisierung der medizinischen Gemeinschaft und die Integration geschlechtsspezifischer Überlegungen in Prävention, Diagnose und Therapie. Indem wir geschlechtsspezifische Faktoren berücksichtigen, können wir die Gesundheit von Menschen effektiver schützen und verbessern.

Die Literaturliste erhalten Sie auf Anfrage via [email protected].

Katsari E, Sänger R, Schick K: BDC-Praxistest: Geschlechtsspezifische Medizin – Ein aufstrebendes Querschnittsfach aller chirurgischen Disziplinen. Passion Chirurgie. 2024 März; 14(03/QI): Artikel 05_01.

Autoren des Artikels

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Dr. med. Elpiniki Katsari

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