Alle Artikel von Karl Hempel

Der BDC nach dem Mauerfall

„Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“, diesen Ausspruch soll Goethe anlässlich der Kanonade von Valmy getan haben. Eine preußisch-österreichische Koalitionsarmee überschritt 1792 den Rhein, um der französischen Revolution ein Ende zu machen. Die französischen Freiwilligen-Truppen schlugen sich tapfer und hielten stand. Die Ruhr grassierte in der preußisch-österreichischen Armee, sodass deren Befehlshaber, der Herzog von Braunschweig, den Befehl zum Rückzug gab. Militärisch war die Schlacht von Valmy ohne besondere Bedeutung. Goethe hat insofern Recht behalten, als sich der Geist der französischen Revolution über die Welt ausbreitete. An dieses Zitat Goethes musste ich oft denken, wenn ich mir die Situation der Menschen in der DDR 1990 vorstellte, als der BDC aktiv wurde. Die chirurgischen Kollegen im anderen Teil Deutschlands sollten unterstützt werden, für sie begann wirklich eine neue Epoche und wir vom BDC, die damals dabei waren, erinnern uns lebhaft an diese Zeit.

Im Abstand von 20 Jahren sieht man im Hinblick auf die Wiedervereinigung vieles klarer und differenzierter. Im Übereifer wurden Strukturen zerschlagen, die sich durchaus bewährt hatten. Ich denke an die ambulante Versorgung der Bevölkerung. Alles sollte radikal verändert werden. Vielleicht ist das ja das Zeichen für eine echte Revolution und war im historischen Sinne unvermeidlich.

Den Betrachter (West) ergreift eine Ahnung davon, dass damals in Deutschland (Ost) nicht nur ein bankrotter Staat unterging, sondern über Nacht 16 Millionen Leben auf den Kopf gestellt wurden. Es waren nicht Fragen wissenschaftlicher und chirurgisch-praktischer Tätigkeit, in denen wir Hilfe leisten konnten, sondern der BDC sah seine Aufgabe darin, den Kollegen in der DDR zu helfen, sich dem bislang unbekannten Beziehungsgeflecht berufsständischer Fragen, der Berufspolitik sowie in Versicherungsfragen zurechtzufinden. Diese Zeit brachte viel Arbeit für die Führungsriege des BDC. Es war aber auch eine Zeit, die viele freundschaftliche Kontakte knüpfen ließ.

In Anlehnung an einen Artikel im Chirurg BDC 9/1990, in dem ich von den Aktivitäten des BDC in der damaligen DDR berichtete, will ich einige, mir im Gedächtnis gebliebene, schildern. Unser Hauptgeschäftsführer, Herr Dr. Ansorg, hat mich darum gebeten. Da war der Besuch im Krankenhaus Potsdam im April 1990. Professor Roeding hatte mich eingeladen. Ich passierte die Glienicker Brücke, berühmt geworden durch den Austausch von Agenten. In der Potsdamer Klinik fand eine Versammlung der Brandenburger Chirurgen statt, auf der es lebhaft zuging. Die Versammlung beschloss sofort, einen Berufsverband zu gründen.

Es konnte aber nicht geklärt werden, ob der Verband in der noch bestehenden DDR gegründet werden sollte oder schon im Vorgriff als Landesverband Brandenburg. Wahlen nach streng demokratischen Gesichtspunkten fanden statt, mit Handzeichen wurde gewählt. Bei einem Wahlgang gab es eine Gegenstimme. Ich bemerkte Verblüffung in der Versammlung. Ein älterer Kollege erhob sich und verlangte Auskunft darüber, warum der Betreffende dagegen gestimmt habe. Die „Gegenstimme“ war schlagfertig und erklärte freundlich, dass man nun nicht mehr begründen müsse, warum man dagegen sei. Nach Ende der Tagung wurde ich zu einem Mittagessen im Cecilienhof in Potsdam eingeladen, an einen Ort, an dem 1945 Weltgeschichte für die nächsten 45 Jahre geschrieben wurde. Ich war beeindruckt von der Höflichkeit und Gastfreundschaft der DDR-Kollegen. Gefreut habe ich mich über deren Selbstbewusstsein.

Sie waren sich bewusst, dass sie unter schwierigen Bedingungen gute chirurgische Arbeit geleistet hatten. Im Frühjahr 1990 trafen weitere Einladungen ein, aus Mecklenburg, Vorpommern, Thüringen und vielen anderen, um auf Regionaltagungen Vorträge zu halten. Von unschätzbarem Wert war die Mithilfe meines Freundes, Professor Dr. Gert Specht. Er half, Veranstaltungen vorzubereiten und war immer mit Rat und Tat zur Stelle. Ein Beispiel: Im Mai 1990 sollte in Leipzig eine Informationsveranstaltung des BDC stattfinden. Gert Specht versuchte telefonisch sieben Hotelzimmer zu buchen. Dies war nicht möglich, aus welchen Gründen auch immer. So fuhr Professor Specht mit dem Auto nach Leipzig und buchte dort persönlich die Zimmer. Auf seinen Wunsch, den Tagungsraum sehen zu können, erklärte man ihm, dass dies nicht möglich sei, da der zuständige Hotelmitarbeiter nicht anwesend sei. Professor Specht fuhr also ein zweites Mal von Berlin nach Leipzig, um den Tagungsraum zu besichtigen. Es wurde nichts dem Zufall überlassen.

1990 fand der Deutsche Chirurgenkongress in Berlin statt. Zum ersten Mal nach langer Zeit konnten sich Chirurgen aus beiden Teilen Deutschlands ungezwungen treffen, Gedanken und Meinungen austauschen. Der BDC feierte während des Kongresses in Berlin sein 30-jähriges Jubiläum. Während dieses Kongresses lernte ich Professor Rupprecht kennen. Wir hielten Kontakt und bald war zu erkennen, dass Professor Rupprecht an einer Mitarbeit im BDC interessiert war. Während des Kongresses in Berlin erläuterten der Vizepräsident des BDC, Professor Jens Witte, und ich dem Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Professor Ungeheuer, unsere Reisepläne in die DDR zu Informationsveranstaltungen und luden ihn ein, teilzunehmen. Professor Ungeheuer hat dann auch an einer Veranstaltung in Berlin teilgenommen.

Uns wurden viele Fragen gestellt. Man sah, wie groß die Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft war. Von Berlin ging es nach Rostock/Warnemünde in einem Leih-VW-Bus. Der Springerverlag hatte uns chirurgische Lehrbücher mitgegeben, die wir in Warnemünde kostenlos verteilen konnten. Die „Reisemannschaft“ des BDC bestand aus dem Vizepräsidenten Jens Witte, dem Justitiar Walther Weissauer, den Präsidiumsmitgliedern Kurt Fritz und Jürgen Bauch, beide zuständig für niedergelassene Chirurgen und chirurgische Belegärzte und dem Präsidenten. Immer dabei war die Chefsekretärin des BDC, Frau Peters-Gerlitz. Zeitweise waren auch ein Vertreter der Versicherungswirtschaft und ein Steuerberater dabei.

Am 29. und 30.6.1990 fanden Informationsveranstaltungen in Dresden und Leipzig statt. Es waren heiße Sommertage mit Gewitter und wolkenbruchartigen Regenfällen. Die Nacht in Leipzig verlief schlaflos, aber doch im Gefühl, Nützliches geleistet zu haben. In Dresden fand die Tagung im „Club der Intelligenz“ statt, einem ehemaligen Palais am Elbhang. Wir waren uns bewusst, dass der Name des Clubs uns hohe Verpflichtungen auferlegte. Wir haben immer wieder versucht, uns in die Lage der DDR-Kollegen zu versetzen, wie ihnen zu Mute sein musste, bei der Fülle der Informationen. Professor Weissauer konnte auf seine unverwechselbare bayerische Art die ärgsten Befürchtungen zerstreuen.

Zwei Erlebnisse sind mir noch lebhaft in Erinnerung. Am 18.10.1990 trafen sich Jens Witte und ich am Leipziger Flughafen. Witte hatte in Leipzig eine Patientin besucht, ich kam aus Chemnitz. In einer Nachtfahrt bei scheußlichem Regenwetter fuhren wir im Auto nach Greifswald, wo wir am nächsten Morgen auf Einladung von Professor D. Lorenz an einer Veranstaltung teilnehmen sollten. Gerne hat man damals alle Strapazen auf sich genommen, dienten sie doch einem lohnenden Ziel und man war wirklich ein gern gesehener Gast. Die andere Erinnerung, die sich mir eingeprägt hat, war der erste Besuch in Erfurt. Dr. Fleck, Oberarzt der Erfurter Klinik, erwartete mich auf dem Bahnhof. Als Erkennungszeichen hatte ich die FAZ demonstrativ in der Hand. Ich glaube jedoch, wir hätten uns auch ohne Erkennungszeichen erkannt. In Erfurt fand eine gut besuchte Informationsveranstaltung statt. Ich lernte den damaligen Chef der Erfurter Klinik, Professor Novak, kennen, der mich zum Mittagessen im Kreise seiner Familie einlud.

Auf allen unseren Reisen nach Erfurt – ich denke besonders an eine Reise gemeinsam mit Jürgen Bauch – kümmerte sich Herr Priv.-Doz. Dr. Ansorg in rührender Weise um uns. Der BDC hat sich damals nicht aufgedrängt. Wir haben unsere Hilfe angeboten und sie wurde meistens gern angenommen. Wir erlebten eine aufregende Zeit in einem bedeutenden historischen Umwandlungsprozess. Damals vor 20 Jahren war es ein schönes Gefühl, wieder frei durch Deutschland reisen zu können.

Walther Weissauer zum 85. Geburtstag

Am 10.11.06 wurde Prof. Dr.h.c. Walther Weissauer, der langjährige Justitiar des BDC, 85 Jahre alt. Sein 70. Geburtstag, in feierlichem Rahmen und mit wissenschaftlichen Vorträgen, sein 80. in großer froher Runde veranstaltet von den Berufsverbänden der Anästhesisten und Chirurgen, sind noch in lebhafter Erinnerung. Zu seinem 75. Geburtstag erschien eine Würdigung im „Chirurg BDC“. Die Verdienste Walther Weissauers wurden gerühmt. Sie wirklich ganz zu ermessen würde ein Buch füllen und doch hätte man mit Sicherheit einiges Wichtiges vergessen. Wer das Glück hatte, 16 Jahre mit ihm zusammenzuarbeiten, weiß um die unschätzbaren Verdienste, die er sich in der Arbeit für den BDC erworben hat. Ich denke an Abkommen mit anderen Berufsverbänden über die Arbeitsteilung, entscheidende juristische Hilfe bei Satzungsänderungen und viele Publikationen, die Maßstäbe setzten. Besonders befriedigend für ihn war, wenn er Chirurgen helfen konnte, die sich mit ihren Nöten an ihn wandten. Unvergessen sind mir die gemeinsamen Rundgänge durch die Industrieausstellung beim Deutschen Chirurgenkongress.

Wir wurden immer von zahlreichen Chirurgen angesprochen, die uns ihre Sorgen darlegten und um Rat fragten. Der „Höhepunkt“ war die Frage eines Chirurgen, der seine Herkunft wegen seines bayrischen Dialektes nicht verleugnen konnte, ob es denn mit der Patientenaufklärung wirklich ernst sei. Er – der Chirurg – wäre bislang auch ohne Aufklärung zurechtgekommen. Er habe den Patienten erklärt, dass sie operiert werden müssten und warum, das habe genügt. Weissauer machte ihm, auch auf bayrisch, mit feinem Humor klar, dass auch er nun nicht mehr umhin könne, gründlich aufzuklären. Der Chirurg machte ein bekümmertes Gesicht, versprach aber, die Patienten in Zukunft aufzuklären. Dies ist eine kleine Episode am Rande, vieles könnte ich noch erzählen.

Walther Weissauers Sprache ist klar, seine Sprachfiguren sind einprägsam. Das Schwierige lässt er einfach erscheinen und zeigt, dass das Einfache am schwierigsten zu formulieren ist. 16 Jahre lang ist Walther Weissauer jede Woche zur Geschäftsstelle des BDC nach Hamburg gekommen. Im Zwiegespräch haben er und ich die anstehenden Fragen gelöst und beantwortet. Der Humor kam nicht zu kurz, wir haben viel gelacht, manchmal auch über uns selbst. Der Inhalt der Strophe aus dem Abendlied des Wandsbeker Dichters Matthias Claudius, die des Menschen Selbstüberschätzung zum Ausdruck bringt, war uns immer gegenwärtig. Sie lautet: Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinnste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel…

Der BDC dankt ihm für sein Wirken und wünscht für die weiteren Lebensjahre alles Gute.

Jürgen Bauch – 80 Jahre

Am 21. Oktober 2006 beging Dr. med. Jürgen Bauch seinen 80. Geburtstag. Anlass, seine Verdienste für den Berufsverband der Deutschen Chirurgen zu würdigen.

„Das Leben ist wie ein Theaterstück, man spielt die Hauptrolle, dann eine Nebenrolle, später souffliert man nur noch und dann sieht man den Vorhang fallen“. Dieses poetische Zitat wird W. Churchill zugeschrieben.

Die Hauptrolle spielte J. Bauch in zahlreichen Stücken. Auf eine ausführliche Biographie soll hier verzichtet werden, jedoch einige Schlaglichter:

Als junger Chirurg Oberarzt einer großen Chirurgischen Abteilung am Nordstadt-Krankenhaus in Hannover. Später gründet er eine chirurgische Praxis, die sich bald großen Zuspruchs erfreut. Zusätzlich ist er als Belegarzt operativ tätig. Sein Arbeitsumfang muss enorm gewesen sein. Dennoch veranlasst ihn die Sorge um den Berufsstand des Chirurgen und um die Berufspolitik überhaupt zur Mitarbeit im BDC. Am 23.11.1985 wird J. Bauch zum Vorsitzenden des Landesverbandes Niedersachsen des BDC gewählt. Seit 1986 ist der Mitglied des erweiterten Präsidiums des BDC als Landesvorsitzender. Seine Erfahrung und sein abgewogenes Urteil veranlasste das Präsidium, ihn in das geschäftsführende Präsidium zu bitten, um im engeren „Führungszirkel“ des BDC mitzuarbeiten. Von 1993 bis 1998 ist er Schriftführer des Berufsverbandes. Beim Wechsel im Amt des Präsidenten 1998 wird er zum Vizepräsidenten gewählt. Dieses Amt hat er bis zum Jahre 2002 inne.

Nebenrollen waren an J. Bauch nicht zu vergeben, dafür hätte er sich nicht geeignet. Beginnt nun die Zeit des Soufflierens? In gewisser Weise ja! Sein Rat ist mehr denn je geschätzt. Ein Bereich seiner Tätigkeit muss unbedingt erwähnt werden, nämlich die Schriftleitung der Zeitschrift „Der Chirurg BDC“.

1995 übernahm er die Schriftleitung von W. Müller-Osten. Bald zeigte die Zeitschrift ein neues Gesicht, ausdrucksvoller und inhaltsreicher. Das Motto war: „Wissen und Publizieren ohne Weisheit sind wie ein Schiff ohne Ruder.“

Seine Ehrungen sind zahlreich: unter anderem Ehrensenator der Medizinischen Hochschule Hannover, Ehrenmitglied des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen der Vereinigung Nordwestdeutscher Chirurgen, Verleihung des Bundesverdienstkreuzes und der Max-Lebsche-Medaille der Vereinigung Bayerischer Chirurgen. Seine hervorragenden Kenntnisse des Sozialrechts im Hinblick auf die Medizin führten zur Ernennung zum ehrenamtlichen Richter am Bundessozialgericht. Vieles wäre noch zu rühmen, es mag jedoch beim hier Geschriebenen bleiben. Nichts kennzeichnet das Wirken Jürgen Bauchs besser als folgende lateinische Weisheit: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.“ Ad multos annos!