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Ein seit Jahren stetig steigendes Potenzial an Gewalt und Aggression spiegelt sich in unserem täglichen Arbeitsalltag wider und ist ein sehr ernstzunehmendes Thema. Im Jahr 2019 schon forderte die Bundesärztekammer härtere Strafen für Gewalt gegen Ärzte (zum Artikel auf BDC|Online). Heute, sechs Jahre später, sind wir nur gefühlt einen Schritt weiter. Am 13.09.2024 hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) eine Resolution zur Änderung des Strafgesetzbuchs zur „Unterstützung der Verschärfung des Strafrechts zum Schutz von Ärztinnen, Ärzten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie des Praxispersonals“ verabschiedet.

Aggression und Wut bei Patienten steigen stetig an und somit auch die Angst und Unsicherheit beim Personal. Bei einer Umfrage der KBV im Sommer 2024 gaben 80 % der befragten Praxen an, im Jahr 2023 mehrfach mit Beschimpfungen, Beleidigungen und mit körperlicher Gewalt in Kontakt gekommen zu sein.

Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen das Handy leise gemacht wurde, wenn man die Praxis betrat, man Gespräche, wenn überhaupt, im Flüsterton untereinander führte.

Es hatte etwas Respektvolles, fast schon Demütiges, im Verhalten dem Arzt und seinem Team gegenüber, das heute fast nicht mehr zu finden ist. Das Handy als permanenter Begleiter unseres Lebens wird auf Lautsprecher gestellt, damit auch der letzte Patient oder Mitarbeiter das Gespräch verfolgen kann. Gespräche im Wartezimmer werden nicht mehr leise, sondern in voller Lautstärke absolviert. Privatsphäre: Fehlanzeige!

Die daraus resultierende Reizbarkeit der Patienten und daraus folgende Potenzial zur Gewalt wird durch den permanenten Umgang mit Medien (Radio, Fernsehen), sozialen Medien wie TikTok, Instagram und Co. noch gefördert.

Mangelnder Schlaf, zu wenig Bewegung und das andauernde Beflimmern unseres Geistes lassen uns schneller genervt von echten zwischenmenschlichen Interaktionen sein.

Wenn dann noch Schmerz, Angst oder Überforderung hinzukommen, kann diese Mischung explosiv sein – oder werden – und spiegelt den Druck wider, unter dem viele Menschen heutzutage stehen. Die angespannte Situation im Gesundheitswesen, wie Personalmangel und lange Wartezeiten, trägt nicht gerade zu einer besseren Situation bei.

Hinzu kommen diverse kulturelle Unterschiede, Sprachbarrieren und Verständigungsschwierigkeiten.

Patienten und Angehörige reagieren in Stress- oder Krisensituationen häufiger impulsiv, was sich in verbaler oder sogar körperlicher Gewalt äußern kann.

Ganz allgemein finde ich, dass der Umgang, den wir Menschen miteinander haben und auch in der Gesellschaft als solche, ruppiger und rauer geworden ist.

Tägliche erschütternde Nachrichten von Angriffen auf Menschen, Krieg in großen Teilen der Welt und nicht zuletzt der unfassbare Anschlag am 20. Dezember 2024 in meiner so schönen Heimatstadt Magdeburg machen das nochmal ganz deutlich.

Der gesamtgesellschaftliche Werteverfall trifft auf ein marodes Gesundheitssystem. Der steigende Anteil von Patient:innen mit einer Wertevorstellung von: „Hier komme ich und nur ich zähle und ich will alles, und zwar sofort, weil mir die Medien und die Politik das ja so suggerieren und versprechen“ steigt prozentual zu den Gewalttaten und Beleidigungen. Das gefährdet nicht nur das Sicherheitsgefühl des Personals, sondern auch die Qualität der Patientenversorgung.

Wir leben in einer neuen Realität, in der es Praxen mit Sicherheitsmitarbeitern gibt. Praxen, in denen Notfallmanagement nicht nur im medizinischen Sinne geführt wird, sondern zusätzlich mit Maßnahmen zur Sicherheit von Arzt und Personal, wie z. B Selbstverteidigungskurse, Pfefferspray am Empfang und nicht zu vergessen, Praxen, in denen es einen Notrufknopf mit Verbindung zur Polizeiwache gibt, was fast schon dystopisch anmutet.

Ich arbeite in einer Praxis für Unfallchirurgie und Orthopädie. Täglich erleben wir Menschen, die mit starken Schmerzen durch Unfallgeschehen zu uns in die Praxis kommen. Auch wir erleben den Frust und die steigende Aggression der Patienten durch Beschimpfungen und Beleidigungen.

Diese entstehen meistens durch die vorhandene Ungeduld der Patienten und haben starke Auswirkungen. Gewalt kann nicht nur physische Folgen haben, sondern belastet auch das psychische Wohlbefinden von uns betroffenen Mitarbeiter:innen. Es führt zu Stress, Unsicherheit und kann langfristig zu einem Gefühl der Unzufriedenheit oder Burnout beitragen.

Schutzmaßnahmen

Wir versuchen als präventive Maßnahme eine klare und konkrete Kommunikation mit den Patienten über Wartezeiten, Abläufe und mögliche Einschränkungen zu führen. In den meisten Fällen gibt es dem Patienten das Gefühl, angenommen und verstanden zu werden, durch freundliche Erklärungen mit ruhiger Stimme, einem Lächeln und ohne Aggression.

Regelmäßige Schulungen der Mitarbeiter:innen zu Deeskalationstechniken und Kommunikation können helfen, Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu entschärfen.

Unser Eingangsbereich ist mit einem Sicherheitssystem ausgestattet und im Haus gibt es einen Sicherheitsdienst.

Regelmäßige Teambesprechungen, die das Erlebte thematisieren, eventuell mit psychologischer Unterstützung, können helfen, das Erlebte besser zu verarbeiten und sich nicht allein zu fühlen.

Aber es braucht definitiv eine langfristige Lösung, mit und durch die Unterstützung der Politik, die es uns als medizinischem Personal wieder möglich macht, in Sicherheit und mit Freude unseren Beruf täglich ausüben zu können.

Aggression und Gewalt und ihr steigendes Potenzial als neuer Praxisalltag. Passion Chirurgie. 2025 Mai; 15(05): Artikel 04_02.

Autor des Artikels

Profilbild von Antje Boccatius

Antje Boccatius

Qualitäts- und PraxismanagerinDurchgangsarztpraxisOrthospine MagdeburgLübecker Straße 3239124Magdeburg

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