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„Alter ist keine Krankheit“ möchte man diesen Überlegungen zu den Auswirkungen der demographischen Veränderungen auf die Tätigkeit niedergelassener Chirurgen vorausschicken. Viele Prognosen zur Versorgungslandschaft in den kommenden Jahren gehen davon aus, dass eine alternde Bevölkerung auch regelmäßig mit einer erhöhten Krankheitslast verbunden sei. Diesem vermeintlichen Automatismus gilt es sich durch präventive Maßnahmen entgegenzustellen. Auch für die ambulante Chirurgie sind nicht das kalendarische Alter, sondern der Allgemeinzustand und das biologische Alter unserer Patienten entscheidend.

Auswirkungen auf die chirurgische Sprechstunde

„Gefühlt“ ist der Trend zu älteren Patienten in der chirurgischen Praxis schon jetzt evident. Die Auswertung der Altersverteilung in der eigenen Praxis (Praxis am Wall in Rinteln) bestätigt diesen Trend schon in der relativ kurzen Zeitspanne von 2009 zu 2011. Die Kurve in der Abb. 2 zeigt im Vergleich zu Abb. 1 eine „Rechtsverschiebung“ der kumulierten Patientenzahlen in ansteigenden Altersklassen.

Abb. 1: Altersverteilung der eigenen Patienten 4. Quartal 2009 (Quelle: adaline der KV Niedersachsen)

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Abb. 2: Altersverteilung der eigenen Patienten 4. Quartal 2011 (Quelle: adaline der KV Niedersachsen)

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Insbesondere bei einer unfallchirurgisch-orthopädischen Ausrichtung der Praxis hat man es zunehmend mit älteren Menschen zu tun, dabei in der „Generation 80+“ zu einem Großteil mit Frauen. Vor allem für die konservative Behandlung der häufigen Schmerzsyndrome infolge degenerativer Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen ist dabei leider in der Ära der Budgetierung und Komplexierung das therapeutische Spektrum stark zusammengeschmolzen. Während die vorige Generation von Unfallchirurgen und Orthopäden noch über ausgedehnte Geräteparks für physikalische Therapie (Reizstrom, Mikrowelle, Rüttelmassagen, Ultraschall etc.) verfügte, kann sich heutzutage kaum ein niedergelassener Chirurg den Luxus leisten, diese Anwendungen als „add on“ und für minimale Honorare, noch dazu innerhalb der Budgets, anzubieten. Der therapeutische Wert dieser Maßnahmen mag im Zeitalter der „evidence based medicine“ durchaus kritisch hinterfragt werden. Für viele der älteren Patienten stellen diese Behandlungen aber weit mehr dar als eine medizinische Maßnahme: Es sind meist mehr die sozialen Kontakte, die persönlichen Beziehungen zwischen Patient, Arzt und MFA und die menschliche Zuwendung, die im Zeitalter der Auflösung traditioneller Familienstrukturen und Vereinsamung im Alter einen allgemeinen therapeutischen Wert entwickeln.

Ältere Patienten stellen sich meist nicht wie junge Menschen mit einem isolierten Gesundheitsproblem, sondern häufig mit einem ganzen Bündel von Beschwerden und Befunden in der Sprechstunde vor. Es ist noch nicht erwiesen, ob die mit den Krankenkassen vereinbarte Anpassung der vertragsärztlichen Gesamtvergütung analog zur demographischen Entwicklung der Bevölkerung diesen Mehraufwand kompensieren kann.

Darüber hinaus werden die niedergelassenen Chirurgen zunehmend auch mit einem erhöhten Behandlungsaufwand bei frühzeitig aus stationärer Behandlung entlassenen betagten Patienten konfrontiert. Insbesondere die notwendigen Röntgenkontrollen und die Verordnung der notwendigen Krankengymnastik stellen die Niedergelassenen in Anbetracht begrenzter Röntgen-Budgets und Existenz gefährdender Regresse vor kaum lösbare Probleme. Der vom Gesetzgeber vollmundig versprochene finanzielle Ausgleich für die Leistungsverlagerung aus dem stationären in den ambulanten Sektor harrt angesichts fehlender anerkannter Messmethoden immer noch der Umsetzung.

Ambulante Operationen beim älteren Menschen

Die operative Erstversorgung der meisten typischen Altersfrakturen am koxalen Femur liegt nicht im Spektrum der ambulanten Chirurgie. Auf die Zunahme der Inzidenz und die sich daraus für das Gesundheitssystem ergebenden Probleme wird an anderer Stelle im Rahmen dieses Schwerpunktheftes eingegangen. Distale Radiusfrakturen sind aber durchaus auch ambulant osteosynthetisch zu versorgen. Auch die zunehmende Morbidität durch (osteoporotische) Wirbelfrakturen belastet mit der notwendigen konservativen Behandlung den ambulanten Sektor.

Häufig wird der niedergelassene Chirurg mit der Frage konfrontiert, ob ein hohes Lebensalter ein erhöhtes perioperatives Risiko und damit eine Kontraindikation für eine ambulante Operation darstellt. Dazu haben die wissenschaftlichen Fachgesellschaften aktuell im Rahmen einer Leitlinie [1] Stellung bezogen. Dort wird ausdrücklich betont, dass sich die Auswahl der für ambulante Operationen oder Tageschirurgie geeigneten Patienten ausschließlich am physiologischen Status und nicht am Lebensalter der Patienten zu orientieren hat. Dazu hat sich eine Evaluation nach der ASA-Klassifikation (Tab. 1) seit Jahrzehnten bewährt. Patienten der Risiko-Klassen ASA 1 und ASA 2 sind auch in hohem Alter problemlos ambulant zu operieren. Allein bei hochbetagten Patienten >85 Jahre wurde in einer Studie [2] eine altersabhängige erhöhte Rate an notwendigen stationären Aufnahmen und möglichen Todesfolgen festgestellt.

Tab. 1: ASA Klassifikation

ASA Definition
ASA 1 Normaler, gesunder Patient
ASA 2 Patient mit leichter Allgemeinerkrankung
ASA 3 Patient mit schwerer Allgemeinerkrankung
ASA 4 Patient mit schwerer und ständig lebensbedrohender Allgemeinerkrankung
ASA 5 Moribunder Patient

Dabei gilt allgemein, dass das perioperative Risiko durch die Anwendung von schonenden Narkose-Verfahren zu reduzieren ist. Dabei sind Lokal- und Regionalanästhesien mit deutlich geringeren Komplikationsraten verbunden als Vollnarkosen. Bei unseren eigenen Patienten hat sich für die häufig notwendigen handchirurgischen Eingriffe (z. B. Karpaltunnelspaltungen) die intravenöse Regionalanästhesie als schonend, sicher und vor allem gut steuerbar bewährt. Gegenüber einer Plexusanästhesie hat sie den Vorteil, dass bei der Entlassung aus der postoperativen Betreuung regelmäßig keine (Teil-) Parese mehr besteht.

Viele kleine und mittelgroße Eingriffe auch in der Viszeralchirurgie sind bei entsprechender Erfahrung in Lokalanästhesie bzw. peripheren Nervenblockaden durchführbar.

Ein wesentlicher Vorteil ambulanter Operationen gerade für ältere Patienten ist die Tatsache, dass sie ihr gewohntes häusliches Umfeld nicht zu verlassen brauchen. Dies hat nachgewiesen und nachvollziehbar eine geringere Rate von postoperativer kognitiver Dysfunktion (POCD) zur Folge. Abgesehen davon wünschen gerade ältere Patienten ambulante Eingriffe, da sie oft auch aus irrationalen Gründen stationäre Krankenhausaufenthalte grundsätzlich ablehnen.

Gerade bei älteren Patienten ist jedoch schon im Vorfeld bei der Indikationsstellung und Operationsplanung unbedingt sorgfältig die Sicherung der postoperativen häuslichen Betreuung zu prüfen [3]. Heutzutage leben die SeniorInnen häufig alleine und abseits von ihrer Familie. In aller Regel ist es aber möglich, für kurze Zeit eine Betreuung durch Familienmitglieder oder einen vorübergehenden Aufenthalt im Haushalt der Kinder zu arrangieren. Die postoperative Nachsorge durch einen Pflegedienst ist bei entsprechender Behinderung sinnvoll, alleine aber nicht ausreichend! Die häusliche Versorgung muss ebenso wie der postoperative Transport nach Hause beizeiten eruiert, geplant und vor allem aus juristischen Gründen sorgfältig dokumentiert werden. Ist die häusliche Versorgung nicht gewährleistet oder treffen die „Allgemeinen Tatbestände“ in Anlage 2 des dreiseitigen Vertrages nach § 115b SGB V [4] zu, ist eine stationäre Behandlung zu veranlassen.

Exkurs: Demographie bei niedergelassenen Ärzten

Mindestens in gleichem Maße wie die Alterung unserer Patienten, wenn nicht sogar gravierender, wird sich der Mangel an Nachwuchs für die chirurgischen Praxen auf die Tätigkeit der niedergelassenen Chirurgen auswirken. Die demographischen Daten aus dem Arztregister der KBV (Abb 3. und Abb. 4) zeigen eine zunehmende Überalterung der niedergelassenen Ärzte. Dies und die Tatsache, dass sich Praxen heute vor allem im ländlichen Raum kaum noch weiterverkaufen lassen, wird dazu führen, dass niedergelassene Chirurgen voraussichtlich deutlich länger werden arbeiten müssen, als es der individuellen Lebensplanung entspricht. Auch aus Gründen der Sicherung der chirurgischen Versorgung wird die Gesellschaft darauf angewiesen sein, auch ältere chirurgische Kollegen weiter für die Versorgung der Bevölkerung einzusetzen. Diese „Marktlage“ kann und muss dazu führen, dass ärztliche Tätigkeit von der Politik und den Krankenkassen in der Zukunft wieder jene Wertschätzung erfährt, die ihr zusteht.

Abb. 3: Anzahl und Anteil „junger Vertragsärzte“. Quelle: KBV

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Abb. 4: Anzahl und Anteil „älterer Vertragsärzte“. Quelle: KBV

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Auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Ernst der Lage erkannt. Anlässlich des jüngsten Demographiegipfels bezeichnete sie den demographischen Wandel als „neben der Globalisierung die größte Veränderung unseres gesellschaftlichen Lebens“. Es ist zu hoffen, dass diese gesellschaftliche Mega-Aufgabe endlich konzeptionell angepackt und nicht weiter verdrängt wird.

Literatur

[1] Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin, Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (2010):
Präoperative Evaluation erwachsener Patienten vor nicht kardio-chirurgischen elektiven Eingriffen. Anästh Intensivmed 51:787-797

[2] Bryson, GL, Chung, F, Finegan BA et al. (2004) Patient selection in ambulatory anaesthesia – an evidence based review. Part I. Can J Anaesth 51:768-781

[3] Bundesverband Ambulantes Operieren (BAO): Auswahl-Kriterien zum Ambulanten Operieren. http://www.operieren.de

[4] Anlage 2 zum Vertrag nach § 115b Abs. 1 SGB V: Allgemeine Tatbestände, Stand 1.1.2005: http://www.kbv.de/rechtsquellen/2613.html

Vertrag nach § 115b SGB V [4]

Kalbe P. Ambulante Chirurgie beim älteren Menschen. Passion Chirurgie. 2012 Dezember; 2(12): Artikel 02_03.

Autor des Artikels

Profilbild von Kalbe

Dr. med. Peter Kalbe

Vizepräsident des BDCGelenkzentrum SchaumburgStükenstraße 331737Rinteln kontaktieren

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