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Patientensicherheit ist so alt wie die Medizin selbst und zugleich freuen wir uns über „10 Jahre Patientensicherheit“. Wie geht das zusammen?

„Primum nil nocere – zu allererst keinen Schaden anrichten!“ dieser Grundsatz, der Hippokrates zugeschrieben wird (geboren 460 v. Chr.), begründet seit jeher das ärztliche Handeln und ist ein ausschlaggebender Faktor für die intrinsische Motivation aller Ärzte weltweit.

Wenn wir heute von Patientensicherheit sprechen, ist jedoch mehr gemeint als die ärztliche Verantwortung dafür, dass uns keine Fehler in der Versorgung unserer Patienten unterlaufen. Patientensicherheit bezieht sich auf alle Beteiligten, alle Versorgungsebenen und alle unmittelbar und mittelbar betroffenen Verantwortungsbereiche der Gesundheitsversorgung. Patientensicherheit ist ein urärztliches Anliegen, geht aber weit darüber hinaus.

Es sind im Wesentlichen zwei Faktoren, die das Thema Patientensicherheit national und international auf die Agenda gebracht haben. Zum einen ist der medizinische Fortschritt zu erwähnen. Die Medizin der Gegenwart ist in hohem Maße erfolgreich, nicht nur bei Infektionskrankheiten wie HIV oder Zivilisationskrankheiten wie Diabetes mellitus, Herzinfarkt, Schlaganfall, auch bei vielen Tumorerkrankungen kann sie wirksam helfen. Die operative Medizin ist eine echte Erfolgsstory. Damit ist die Medizin vor allen Dingen auch sehr komplex geworden. Medizinischer Erfolg ist schon lange nicht mehr allein einem „heldenhaften“ Einsatz hochmotivierter Ärztinnen und Ärzte zu verdanken. Medizinischer Erfolg begründet sich im Funktionieren des Systems der Versorgung, indem unterschiedliche Berufsgruppen unter ärztlicher Führung und auf den Grundlagen der ärztlichen, patientenorientierten Ethik zusammenarbeiten. Unterschiedliche Fachdisziplinen, Organisationsformen, Anforderungen, Erwartungen und Herangehensweisen treffen aufeinander und müssen optimal zusammenwirken. Je erfolgreicher und komplexer die Patientenversorgung wird, umso größer sind die immanenten Risiken, die aus den Behandlungsprozessen, dem Einsatz von Medizinprodukten, technischen Geräten und menschlicher Interaktion resultieren.

Dem medizinischen Fortschritt als positiven Anlass für ein verstärktes Engagement für Patientensicherheit steht ein negativer Anlass gegenüber: die „Ökonomisierung“ der Medizin. Durch den jahrzehntelangen Kostendruck ist ein Prozess der weichen Rationierung eingetreten, der inzwischen auch für die Laienöffentlichkeit erkennbar Probleme bereitet. So ist beispielsweise die Frage des Einhaltens von Hygienestandards unmittelbar mit der Personalausstattung, etwa auf Intensivstationen, verknüpft. Die Personalknappheit führt dazu, dass Pflegekräfte und Ärzte unter extremen Zeitdruck ein steigendes Arbeitspensum bewältigen müssen. Diesem Druck auf Dauer standzuhalten und den Gefahren des Übersehens, Vergessens, Vernachlässigens allein durch individuelle Anstrengung und Konzentration entgegenzuwirken, ist keine nachhaltige Lösung.

Systembedingten und damit vermeidbaren Ursachen von Komplikationen und Schäden muss durch systembasierte Lösungsansätze begegnet werden. Darum geht es bei Patientensicherheit. Ärztliche Verantwortung allein kann es nicht richten. Der höhere medizinische Aufwand einerseits und abnehmende Ressourcen andererseits führen zum Webfehler im System mit negativen Wirkungen. Die Verlierer eines solchen, nicht auf Patientenorientierung fokussierten Systems sind überall zu finden: Aus einem Systemfehler wird das individuelle Versagen eines einzelnen Arztes (grob unfair!); Patientinnen und Patienten erfahren nicht immer die Medizin, die sinnvoll, angemessen und human wäre; und die Krankenversorgung in Deutschland leidet allgemein an vermeidbaren höheren Kosten, die durch systembedingte Fehler entstehen.

Aus dieser Ausgangslage heraus wurde nach Wegen gesucht, das Tabuthema „Fehler in der Medizin“ gangbar zu machen. So wurde im Jahr 2002 der Berliner Gesundheitspreis, getragen von der Ärztekammer Berlin, der AOK Berlin und dem AOK Bundesverband zum Thema Patientensicherheit öffentlich ausgeschrieben. Es ist die erstmalige öffentliche konstruktive Befassung mit diesem Thema in Deutschland. Das Ergebnis zeigte, dass nicht nur Probleme existieren, sondern Handlungsmöglichkeiten zum Lernen aus unerwünschten Ereignissen und zur Vermeidung derselben zur Verfügung stehen. Auf die wissenschaftliche Agenda wurde das Thema im Jahr 2004 durch den Jahreskongress der Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Gesundheitsversorgung (GQMG) genommen, im Jahr 2005 erfolgte der politische und allgemein öffentliche Durchbruch: Die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie befasste sich medienwirksam und selbstkritisch mit diesem Thema, das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) als wegweisendes Bündnis und Netzwerk im deutschen Gesundheitswesen wurde gegründet und der Deutsche Ärztetag befasste sich einstimmig mit einer Resolution zum konstruktiven Umgang mit dem Thema im Sinne eines wertschätzenden Umgangs, lösungsorientierten Methoden und der Zusammenarbeit mit allen Betroffenen und Beteiligten in einer Netzwerkorganisation. Damit war der Bann gebrochen.

Patientensicherheit war kein Tabuthema mehr, sondern in hohem Maße relevant. Mit zahlreichen Handlungsempfehlungen und konkreten Projekten, zumeist getragen vom Aktionsbündnis Patientensicherheit, wurden zu vielen praxisrelevanten Problemen Lösungsvorschläge erarbeitet, die sich einer zunehmenden Verbreitung erfreuen. Dies betrifft beispielsweise die Einführung von Checklisten in operativen Fachgebieten, die Umsetzung von Fehlerlernsystemen auf lokaler aber auch nationaler Ebene und die gezielte Schulung von Gesundheitsberufen. Der Paradigmenwechsel, der auf diese Art und Weise realisiert wurde, war der einer um 180 Grad gedrehten Sicherheitskultur auf nationaler Ebene. Inzwischen wird bei vermeintlichen oder auch tatsächlichen „Kunstfehler“-Skandalen nicht mehr gefragt: „Wer war schuld?“, sondern „Was war schuld?“. Die Medien – auch wenn sie nach wie vor an reißerischen Überschriften nicht vorbeikommen – und die Öffentlichkeit schätzen es sehr, wenn Ärztinnen und Ärzte Verantwortung übernehmen, gerade auch dann, wenn Abläufe nicht so stattgefunden haben, wie erwünscht.

Durch diese aus den Reihen der unmittelbar betroffenen Berufsgruppen – allen voran die chirurgischen und orthopädisch-unfallchirurgischen Berufsgruppen – neu geschaffene Sicherheitskultur ist der Weg frei für jedwede konkrete Aktion auf allen Ebenen:

Die politischen Akteure und die Kostenträger sind aufgefordert, Verfahren zur Erhöhung der Sicherheit der Patientenversorgung aktiv zu unterstützen und voran zu treiben. Krankenhausträger und Praxen sind in der Lage, durch die Einführung von Fehlerlernsystemen frühzeitig Risiken zu erkennen und Abhilfe zu schaffen, bevor Patienten zu Schaden kommen können. Jeder Arzt und jede Ärztin hat die Möglichkeit sich mindestens am nationalen Fehlerlernsystem „Cirsmedical.de“ zu beteiligen, aber auch gezielt Schulungen aufzusuchen, um sich selbst fit zu machen gegen Risiken. Denn neben dem Patienten, der einen Fehler erleiden muss, gibt es in der Regel ein „zweites Opfer“: den letztbehandelnden Arzt oder Ärztin. Auch hier gilt es im originären Eigeninteresse Schäden und Verletzungen zu vermeiden und sich um die Beseitigung der Ursachen zu kümmern.

In diesem Zusammenhang ist die Wiederbelebung „klassischer“ Lerninstrumente sehr zu begrüßen. Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen erleben derzeit eine gewisse Renaissance. Auch die klinische Obduktion soll künftig durch eine separate Finanzierung wiederbelebt werden. Jeder möge die Gelegenheit nutzen, seinen Fall oder Fälle, die ihn persönlich interessieren, in diese M&M-Konferenzen einzuspeisen oder dafür Sorge zu tragen, dass nach einem unvorhergesehenen Ableben eines Patienten eine Obduktion durchgeführt wird. Man wird klüger!

Nach 2500 Jahren ärztlicher und zehn Jahren systembasierter Patientensicherheit stehen wir am Anfang eines wichtigen Prozesses. Es gilt unsere Patientenversorgung in Deutschland weg von einer Steuerung über Kosten und Mengen hin zu einer Ausrichtung an tatsächlichen „Werten“ zu entwickeln. „Patientensicherheit“ ist der Hebel zu einer tatsächlich sinnvollen Gesundheitsreform. Nützlich und sinnvoll ist in der Medizin nur das, was den Patienten in positivem Sinne erreicht. Diese Ausrichtung muss systematisch umgesetzt werden. Nicht nur der Einzelne soll und kann lernen und sich weiter entwickeln, auch die Gesamtorganisation des Gesundheitswesens muss sich zum lernenden System wandeln. Nur dann ist die Funktionsfähigkeit der Patientenversorgung einerseits und die intrinsische Motivation und damit die Lebens- und Arbeitsfreude aller Ärztinnen und Ärzte andererseits dauerhaft gewährleistet. Beides bedingt sich.

Jonitz G. 10 Jahre Patientensicherheit!? Nur 10 Jahre? Passion Chirurgie. 2015 Juli, 5(07): Artikel 02_03.

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