Bis 2035 fehlen pro Jahr bis zu 6.000 Studienplätze – Versorgungsgrad in der ambulanten Medizin könnte auf 74 Prozent des heutigen Niveaus absinken
Nach aktuellen Berechnungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) fehlen in Deutschland jährlich bis zu 6.000 Studienplätze im Fach Humanmedizin – wenn die aktuelle ambulante Versorgungsleistung bis 2035 aufrechterhalten werden soll. Abhängig vom Ausbildungserfolg der zukünftigen Studierenden, der Dauer der Weiterbildung und der beruflichen Orientierung variiert die Projektion zwischen 6.000 (75 Prozent der Studienanfänger werden innerhalb von 15 Jahren Facharzt) und 3.000 fehlender Studienplätze (Facharztquote von 92 Prozent) pro Jahr. Im günstigen Fall müssten sich neun von zehn erfolgreichen Absolventen für die medizinische Versorgung und gegen eine Anstellung in Forschung, Industrie, etc. entscheiden. Die Projektion zeigt, dass der vertragsärztliche Versorgungsgrad bis 2035 auf 74 Prozent des heutigen Niveaus absinken könnte – selbst wenn es weiterhin gelingt, die heutige Nettozuwanderung in Höhe von 1.639 Ärzten pro Jahr nach Deutschland aufrechtzuerhalten. Allein eine Steigerung der Zuwanderung um etwa 3.600 Fachärzte pro Jahr würde das medizinische Versorgungsniveau in Deutschland bis 2035 stabilisieren.
„Deutschland ist kurz- und mittelfristig darauf angewiesen, dass der Zuzug von Ärzten und Fachärzten aus dem Ausland erheblich steigt. Nur so kann das gewohnte ambulante Versorgungsniveau gehalten werden. Selbst wenn im Jahr 2020 die Studienplatzkapazitäten im Fach Humanmedizin von derzeit 11.000 Plätzen um 30 bis 50 Prozent erhöht würden, wären die Auswirkungen in der vertragsärztlichen Versorgung erst nach 15 Jahren zu spüren, also 2035. In der Zwischenzeit zeigen sich die Folgen des Studienplatzabbaus in den letzten zwei Jahrzehnten. Der Wettbewerb um ausgebildete Mediziner und Fachärzte wird in den nächsten zehn Jahren extrem zunehmen. Es wird spürbar schwieriger werden, das heutige medizinische Leistungsangebot flächendeckend zu garantieren und zu verhindern, dass strukturschwächere Regionen benachteiligt werden“, sagte Zi-Geschäftsführer Dr. Dominik von Stillfried heute in Berlin.
Der demografische Wandel mit einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung begünstigt einen weiteren Anstieg der Nachfrage nach ärztlicher Versorgung. Ärztliche Leistungen sind zeitgebunden. Die zur Verfügung stehende Arztzeit in der ambulanten Versorgung geht aber kontinuierlich zurück. Der Grund dafür sind veränderte Arbeitsgewohnheiten und zunehmende Verwaltungsaufgaben. So hat sich die Zahl der angestellten Ärzte seit 2007 fast versechsfacht. Waren 2007 nur rund 5.600 Ärzte angestellt, waren es 2017 bereits 31.477. Während wirtschaftlich selbständige, niedergelassene Ärzte im Schnitt 50 Stunden pro Woche arbeiten, führen die Trends zur Anstellung (40-Stunden-Woche) und zur Tätigkeit in Teilzeit zu einer Abnahme der Behandlungsleistung pro Arzt. Es werden daher mehr Ärzte benötigt, um das Versorgungsniveau aufrecht zu erhalten. Die weiter steigende Zahl von Ärzten, die in den nächsten Jahren aus Altersgründen aus der ambulanten Versorgung ausscheiden und einen Nachfolger für ihre Praxen suchen, verschärft die Situation im vertragsärztlichen Sektor weiter.
„Wenn das bisherige Niveau der medizinischen Versorgung in Zukunft auch nur annähernd aufrechterhalten werden soll, ist eine substanzielle Steigerung der Ausbildungskapazität durch die Bundesländer im Fach der Humanmedizin unabdingbar. Um die verfügbare Arztzeit möglichst zur Patientenversorgung zu nutzen und die Attraktivität der Niederlassung weiter zu steigern, sollte die ärztliche Tätigkeit in der stationären und ambulanten Versorgung zudem konsequent von Verwaltungsaufgaben entlastet werden“, forderte von Stillfried.
Zum Hintergrund
Die Zi-Studie „Bedarfsprojektion für Medizinstudienplätze in Deutschland“ bewertet, wie viele Studienplätze im Fach Humanmedizin im Zuge des „Masterplans Medizinstudium 2020“ notwendig wären, um den erwarteten medizinischen Versorgungsbedarf in Zukunft zu decken. Dazu hat das Autorenteam den Versorgungsbedarf und die zukünftige Behandlungsleistung von Ärzten aus verfügbaren Datenreihen abgeleitet. Die Zusammenführung beider Komponenten ermöglicht eine Abschätzung, ob die aktuelle Zielvorgabe für Studienplätze in der Humanmedizin ausreichend ist. Als Datengrundlage dienen unter anderem ein Auszug aus dem Bundesarztregister (Stand: 31. Dezember 2018), die Daten der aktualisierten 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes für den Bund und der relative Beanspruchungsindex rBIX des Zi.