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Eine Debatte zu Zweitmeinungsverfahren auf dem Deutschen Krebskongress am 24. Februar zeigt: Das Thema ist vielschichtig und kontrovers. Dafür sorgen nicht zuletzt „Kompetenzprestige“ und „populistische“ Paragrafen.

Mit dem Versorgungsstärkungsgesetz hat der Gesetzgeber in Paragraf 27b Sozialgesetzbuch V festgelegt, dass Versicherte bei bestimmten Eingriffen einen Anspruch auf eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung erhalten. Das Thema hat damit eine neue Dynamik bekommen, was auch in der Onkologie spürbar ist. In seinem Impulsreferat auf einer Session des Kongresses weist Prof. Peter Albers, Vizepräsident der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG), kritisch darauf hin, dass inzwischen immer mehr Krankenkassen ihren Versicherten einen solchen Service anbieten. Beispielhaft nennt der Direktor der Klinik für Urologie am Universitätsklinikum Düsseldorf unter anderem die Techniker Krankenkasse, die ein sogenanntes Zweitmeinungstelefon betreibt. Bisweilen schließen die Kassen auch Verträge mit kommerziellen Privatanbietern. Die neuen gesetzlichen Verpflichtungen – DKG-Generalsekretär Dr. Johannes Bruns bezeichnet den entsprechenden Paragrafen als „populistisch“ – wirkten einerseits als Trigger, dennoch bestehe ein Vakuum.

„Jegliche Ausführungsbestimmungen fehlen“, beklagt Albers. So habe beispielsweise der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) noch immer keine Liste von Indikationen vorgelegt, bei denen ein Zweitmeinungsverfahren stattfinden soll. Dass der G-BA diese Liste mit onkologischen Eingriffen beginnt, dürfte allerdings eher unwahrscheinlich sein. Schließlich hat der Gesetz- geber mit der Regelung an planbare mengenanfällige Eingriffe gedacht, bei denen das Risiko einer zu weiten Indikationsstellung besteht. Allerdings betont Albers, dass auch in der Onkologie viele der Eingriffe planbar seien.

Notwendig oder Geschäftsmodell?

Der Mediziner sieht ein Spannungsfeld zwischen den häufig verunsicherten Patienten und der Vielfalt von zum Teil sehr wissenschaftlich formulierten Therapievorschlägen. Er fragt: „Ist eine Zweitmeinung tatsächlich in jedem Fall notwendig oder ein neues Geschäftsfeld, das unterschiedlich qualifiziert bedient wird?“ Eine eher rhetorische Frage, denn Albers ist der Überzeugung, dass eine zusätzliche Einschätzung dem Patienten lediglich „Sicherheit suggeriert“. Er argumentiert: „Wenn die Erstmeinung ausreichend sicher, interdisziplinär gestaltet und nachhaltig formuliert ist und überzeugend mit dem Patienten kommuniziert wurde, braucht es keine Zweitmeinung.“ Ist das realistisch? Albers weist darauf hin, dass es hierzulande ein dichtes Netz an interdisziplinär besetzen Tumorzentren gebe. Wer das als Patient nicht wahrnehme, „dem ist nicht zu helfen“. Die starke Verunsicherung von Patienten, die eine Krebsdiagnose erhalten, betont Dr. Udo Beckenbauer in seinem Vortrag. Er ist Vorstand von HMO Health Management Online, die Firma bietet über www.krebszweitmeinung.de zusätzliche Begutachtungen an. Der Internetseite zufolge über- nehmen inzwischen 20 private und gesetzliche Krankenkassen – darunter viele Betriebskrankenkassen die dafür anfallenden Kosten von rund 380 Euro. Mittlerweile habe man rund 1.400 Zeitmeinungen organisiert, erzählt Beckenbauer. „Uns geht es darum, den Patienten durch diesen Prozess zu führen.“

Zweitmeinung ist nicht gleich Zweitmeinung

Notwendig sind dafür unter anderem zwei Call Center und elektronische Patientenakten, die für den Ratsuchenden angelegt werden. Beckenbauer betont die hohen Anforderungen, die seine Firma erfüllen muss, als Stichwörter nennt er Datenschutz, gesicherte Rechenzentren und nicht zuletzt die Genehmigung durch das Bundesversicherungsamt – letzteres hat 18 Monate gedauert. Die Firma arbeitet mit 32 Tumorboards von Universitätskliniken, akademischen Lehrkrankenhäusern und Tumorzentren zusammen. In 17 Prozent der Fälle empfehlen sie eine komplett andere Therapie als der „Erst-Arzt“, in 25 Prozent der Fälle gibt es Ergänzungen, therapeutische Hinweise und ähnliches, bei 57 Prozent wird die Erstmeinung bestätigt.

Ebenfalls interessant: Beckenbauer zufolge sind 98 Prozent der Erstbegutachter der Zweitmeinung gefolgt. Deutlich wird auf der Veranstaltung, dass Zweitmeinung nicht gleich Zweitmeinung ist. Ein wichtiger Unterschied: Stellt sich der Patient persönlich vor oder handelt es sich um eine „Expertenmeinung nach Aktenlage“  letzteres sei die Variante, die die Krankenkassen bevorzugen, sagt Beckenbauer. Das Spektrum der Anbieter reicht von privaten Firmen, Krankenkassen-Hotlines bis hin zu Angeboten zertifizierter onkologischer Zentren. Die höchste Akzeptanz in der Ärzteschaft dürften vermutlich Expertenkonsile haben, an die sich der behandelnde Arzt selbst wenden kann.

Wichtiger Erfahrungsschatz

In zuletzt genannte Kategorie fällt das seit zehn Jahren bestehende und von der Deutschen Krebshilfe unterstützte Internetportal www.zm-odentumor.de. Den Bedarf für ein ärztliches Konsilillustriert Projektleiter Prof. Marc Schrader, Chefarzt der Klinik für Urologie am Helios Klinikum Berlin-Buch, mit folgenden Zahlen: Im Helios-Konzern werden durchschnittlich 8,1 Patienten pro Jahr und Klinik behandelt, die an Hodenkrebs leiden. Bezogen auf metastasierte Formen sind es nur noch drei Patienten pro Jahr und Klinik, guckt man sich davon die fortgeschrittenen Stadien an, bleibt nur noch ein „halber“ Patient pro Klinik und Jahr übrig. Das sei „nicht ganz“ der Erfahrungsschatz, der nötig ist, um diese Patientengruppe zu behandeln, so der Chefarzt. Er merkt an, dass diese Zahlen zwar nicht ganz repräsentativ für Deutschland seien, aber sicherlich ein Hinweis auf die Situation in vielen anderen Kliniken. Bei www. zm-hodentumor.de können Ärzte Befund und geplante Therapie an ein Zweitmeinungszentrum ihrer Wahl senden.Jede 6.

Zweitmeinung führt zur relativen Therapieänderung

Der zeitliche Aufwand für eine Erstanfrage beträgt etwa 20 Minuten, die häufig üblichen Incentives in Form von zusätzlicher Vergütung gibt es nicht, es werden auch keine zusätzlichen Patienten generiert. Dennoch sind die Anfragen von Ärzten laut Schrader kontinuierlich gestiegen: von 200 Anfragen (2009) auf fast 1.000 im vergangenen Jahr. Insgesamt wurden bisher 4.500 Zweitmeinungen abgegeben.

„Je mehr Patienten vorgestellt werden, desto schneller können neue Leitlinien etabliert werden“, betont der Urologe. Motiviert seien die anfragenden Ärzte durch ihr Informationsbedürfnis, das schnelle Feedback (die durchschnittliche Antwortdauer beträgt 26 Stunden), außerdem bleibe das „Kompetenzprestige“ erhalten, ein Patiententransfer sei nicht erforderlich. Und was kommt bei dem Prozedere heraus? Die Diskrepanz zwischen den Behandlungskonzepten von Erst- und Zweitmeinung beträgt 40 Prozent, sagt Schrader. „Jede sechste Zweitmeinung führt zu einer relevanten Therapieänderung.“ Die Zweitmeinungen hätten in zwölf Prozent der Fälle den Therapieumfang reduziert und ihn in etwa fünf Prozent intensiviert. „Der Effekt ist nicht unerheblich.“

G-BA ist am Zug

Das Thema Zweitmeinung wird dem Gesundheitswesen noch länger erhalten bleiben. Erst kürzlich hat beispielsweise die Deutsche Diabetes Gesellschaft vor Fußamputationen infolge einer Diabeteserkrankung ein obligatorisches Zweitmeinungsverfahren verlangt. Auch dürften Patientenorganisationen die Entwicklung kritisch begleiten. Der Verbraucherzentrale Bundesverband etwa hat davor gewarnt, dass mit Paragraf 27b SGB V ungewollt eine Einschränkung des allgemeinen Rechts auf Zweitmeinung drohe, ohne dass dadurch das Regelungsziel, eine Eindämmung der nicht indizierten Leistungsausweitung, zu erreichen wäre.

Als nächstes ist der G-BA mit einer Liste von „zweitmeinungspflichtigen“ Eingriffen am Zug. Auf dem Krebskongress war davon die Rede, dass im März die ersten beiden Indikationen veröffentlicht werden. Beim G-BA selbst heißt es allerdings auf Nachfrage der Presseagentur Gesundheit, dass die Beratungen zur Erstfassung der Richtlinie laufen, ein Termin zur Beschlussfassung stehe noch nicht an. Es sei eine umfangreiche wissenschaftliche Aufbereitung not- wendig, um bestimmen zu können, bei welchen Indikationen und zu welchen planbaren Eingriffen der Anspruch auf Einholen einer Zweitmeinung im Einzel- nen sinnvoll ist.

Weiterführende Informationen
Deutsche Krebsgesellschaft, Berlin, Positionspapier vom 7. Mai 2015: „Qualitäts- gesicherte Entscheidung zu Diagnostik und Therapie – Ein Positionspapier (...) zur Diskussion um die ärztliche Zweitmeinung“, PDF, 2 Seiten
Deutsche Diabetes Gesellschaft, Berlin, Pressemitteilung vom 16. Februar 2016: „Zu viele Fußamputationen in Deutschland: Experten fordern Zweitmeinungs- verfahren und bessere Anreize für Fußrettung“, PDF, 2 Seiten

Quelle: Presseagentur Gesundheit, Albrechtstraße 11, 10117 Berlin, www.pa-gesundheit.de

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