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Das Thema Weiterbildung und Nachwuchsgewinnung in der Chirurgie wird schon seit vielen Jahren bestimmt durch eine zunehmend aufgehende Schere zwischen erhöhtem Bedarf und schrumpfenden Ressourcen. Der Bedarf wird im Wesentlichen definiert über die demografische Entwicklung. Auf der anderen Seite lässt die Altersstruktur der chirurgischen Fachärztinnen und -ärzte die Alarmglocken schrillen. So sind die im chirurgischen Bereich Tätigen im Krankenhaus in den letzten Jahren nach Angaben der BÄK weiter gealtert. 13 % der stationär tätigen Kolleginnen und Kollegen sind älter als 60 Jahre, im Vertragsarztbereich sind dies sogar 30,3 % [1, 2]. Dies ist ein klares Zeichen dafür, dass nicht ausreichend qualifizierter Nachwuchs zur Verfügung steht und nachrückt. Warum das so ist, wurde in den letzten Jahren vielfach untersucht. Neben den üblichen Verdächtigen, der veränderten Work-Life-Balance und der Familie als ein Hauptfaktor, ist es die ungenügende Qualität der angebotenen Weiterbildung, die junge Kolleginnen und Kollegen das Berufsfeld wechseln lassen [3–6].

Jede Diskussion über Veränderungen in der Weiterbildung führt oft zu einem Abwehrverhalten der etablierten Kolleginnen und Kollegen. Schließlich sind heutige Chefärzte und -ärztinnen in dem bekannten Weiterbildungssystem zu erfolgreichen Operateuren und Operateurinnen geworden. Wieso also sollte sich etwas ändern? Weil zwischenzeitlich eingetretene Entwicklungen in Krankenhaus und Gesellschaft uns dazu zwingen, und die Weiterbildung sich durch die veränderten Strukturen längst passiv verändert hat [7, 8].

Die noch vor einiger Zeit vorliegende Ärzteschwemme ist einem relativen Ärztemangel gewichen. Musste man sich vor einigen Jahren noch unter einer Vielzahl von jungen Kollegen und Kolleginnen durchsetzen und seinen Vorgesetzen hohes Wissen, Motivation und Engagement demonstrieren, sehen sich heute Weiterbildungsbefugte häufig mit einer ungewohnten Anspruchshaltung konfrontiert. Häufig wird dies als reduzierte Kritikfähigkeit und Einsatzbereitschaft wahrgenommen [7]. Das – ohne Zweifel sinnvolle – Arbeitszeitschutzgesetz führt über eine reduzierte Anwesenheit zwangsläufig auch zu verminderter klinischer und operativer Erfahrung. Die gleichzeitig steigende administrative Arbeit der jungen Kolleginnen und Kollegen verstärkt zusätzlich den Mangel an Gelegenheiten, Patienten und Patientinnen zu untersuchen oder gar zu operieren. Hinzu kommt noch der vielerorts bestehende Personalmangel – wie soll dabei eine strukturierte Weiterbildung zustande kommen?

Die zunehmende Spezialisierung und eine immer komplexer werdende Medizin erfordern aber eine solide Grundausbildung und ausreichende Vermittlung von Kompetenzen, die für die Ausübung unseres Faches erforderlich sind [9]. Diesen Überlegungen folgend wurde bereits vor einigen Jahren in Schleswig-Holstein ein bundesweit viel beachtetes Modellprojekt auf den Weg gebracht, die Chirurgische Verbundweiterbildung Kiel [10]. Grundlage war eine seit vielen Jahren bestehende enge Kooperation zwischen der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) und dem vertragsärztlich geleiteten MVZ Chirurgie, beide Institutionen in Kiel [18]. Im November 2015 wurde von der Ärztekammer Schleswig-Holstein (ÄKSH) damals für den Geltungsbereich der Weiterbildungsordnung (WBO) 2011 eine Verbundweiterbildungsbefugnis erteilt für das Fachgebiet Orthopädie und Unfallchirurgie über insgesamt 48 Monate. Diese Verbundweiterbildung wurde mit Unterstützung des Vorstandes der ÄKSH und der Kassenärztlichen Vereinigung (KVSH) implementiert, um darzustellen, dass ein solches intersektorales Konzept machbar ist und die Qualität der Weiterbildung dadurch erhöht werden kann. Der Weiterzubildende wurde dabei nicht im MVZ angestellt, sondern erlernte oder vertiefte fehlende Kompetenzen – in erster Linie operative Eingriffe – im Rahmen einer Hospitation. Dabei gelang es entgegen allen Widerständen zu demonstrieren, dass eine solche sektorenübergreifende Ausgestaltung der Weiterbildung auch tatsächlich funktioniert. Immer wieder ins Feld geführte Argumente gegen eine Weiterbildung im vertragsärztlichen Sektor, wie z. B. die Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung oder Probleme mit der Berufshaftpflichtversicherung oder Anerkennung von sehr kurzen Weiterbildungszeiten durch die Ärztekammer, konnten so ausgeräumt werden. Trotz des Erfolges wurde von Beginn an darauf hingewiesen, dass ohne eine finanzielle Förderung ein solches Modell nicht in die Regelversorgung überführt werden kann.

Weiterbildung kostet Geld! Entgegen einer landläufigen Auffassung sind diese Kosten in der DRG nicht einmal annähernd abgebildet – und im Vertragsarztsektor fehlt eine solche Berücksichtigung vollständig. Weiterbildung ist besonders teuer im Operationssaal, dies haben zahlreiche Untersuchungen zeigen können [11–15]. Die Zeit für Weiterbildungseingriffe erhöht sich um durchschnittlich 34 %. Dieser Wert kann bei komplexen Eingriffen wie z. B. eine Rekonstruktion der Rotatorenmanschette auf bis zu 140 % ansteigen [11, 15].

Bis heute ist unverständlicherweise in Deutschland eine breite Diskussion bezüglich einer auskömmlichen Finanzierung der Weiterbildung nicht in Gang gekommen. In vielen anderen entwickelten Ländern haben ähnliche Entwicklungen im Gesundheitssystem zu einer geänderten Erwartungshaltung der Gesellschaft geführt. Dort wird die Qualität der Weiterbildung als ein Hauptfaktor für Patientensicherheit gesehen [10] und konsequenterweise auch eine Finanzierung sichergestellt. Dies bedeutet dann finanzierte Fortbildungen und Kurse und für die Kliniken eine höhere Vergütung – wenn denn auch tatsächlich eine qualifizierte Weiterbildung angeboten wird. Die Weiterbildung der jungen Kolleginnen und Kollegen wird als eine Investition in die zukünftige Gesundheitsversorgung der Bevölkerung und damit als Teil der Daseinsfürsorge gesehen.

Und in Deutschland? Die anstehende Krankenhausreform und insbesondere die für Anfang 2024 vorgesehene Implementierung des neu eingeführten § 115f im SGB V werden den Trend zur Ambulantisierung, also zur Verlagerung von stationären Leistungen in den Vertragsarztsektor, erheblich beschleunigen. Dies wiederum hat zusätzliche massive Auswirkungen auf die Weiterbildung des fachärztlichen Nachwuchses. Selbst Krankenhäuser der Maximalversorgung werden zukünftig nicht mehr in der Lage sein, eine allumfassende Weiterbildung anbieten zu können. Dies gilt ganz besonders für den chirurgischen Bereich mit der Notwendigkeit des Erwerbs von operativen Kompetenzen [3, 6, 10, 17]. Daher werden zwingend intersektorale Weiterbildungsverbünde konzipiert werden müssen, d. h. junge Kolleginnen und Kollegen beginnen ihre Weiterbildung in einer Klinik oder Praxis und werden dann für einen definierten Zeitraum in eine Vertragsarztpraxis oder Vertragsklinik wechseln müssen.

Ein solcher intersektoraler Weiterbildungsverbund soll nun als Neuauflage des Modellprojektes Chirurgische Verbundweiterbildung Kiel auch für die neue WBO aus 2020 im Fachgebiet Orthopädie und Unfallchirurgie etabliert werden. Grundlage sind hierbei die von der ÄKSH bereits erteilten Weiterbildungsbefugnisse. Die Weiterzubildenden werden zunächst angestellt und beginnen ihre Tätigkeit am UKSH in Kiel. Vorgesehen ist, dass die Weiterbildungskandidatinnen und -kandidaten nach Ableistung von Zeiten in der Zentralen Notaufnahme (ZNA) und Intensivstation nach einem festen Curriculum im vierten Weiterbildungsjahr für 12 Monate ins MVZ Chirurgie Kiel rotieren, dabei findet ein Arbeitgeberwechsel statt. Im MVZ erfolgt der Erwerb von Kompetenzen bei operativen Eingriffen, die typischerweise im vertragsärztlichen Sektor erbracht werden. Nach einem Jahr wechseln die Weiterzubildenden dann wieder ins UKSH.

Ohne eine verbindliche Finanzierung könnte eine solche Weiterbildung im Vertragsarztsektor nicht gewährleistet werden. Seit einigen Jahren besteht die Möglichkeit für den Zeitraum der Beschäftigung eines Weiterzubildenden im Vertragsarztsektor eine Förderung nach Maßgabe des § 75a SGB V zu beantragen. Ursprünglich eingeführt zur Sicherung der allgemeinmedizinischen Versorgung wurde diese Paragraph vor kurzem geöffnet auch für eine chirurgische Facharztausbildung [5]. Dabei erhält die Praxis aktuell einen Zuschuss in Höhe von 5.400 € pro Monat und Weiterzubildenden, wenn sie sich verpflichtet, den Weiterzubildenden nach Tarifvertrag Kommunale Arbeitgeber (TV-KA) zu entlohnen. Die Anzahl dieser geförderten Stellen ist allerdings sehr begrenzt und die Weiterbildung in operativ ausgerichteten Praxen ist eigentlich sogar ausgeschlossen, da die Förderung ursprünglich ausschließlich konzipiert war zur Sicherstellung der Grundversorgung auf dem Land. Gleichwohl hat das MVZ Chirurgie mit erneuter Unterstützung der Ärztekammer eine solche Förderung beantragt und die Abgeordnetenversammlung der KVSH hat dem in ihrer Novembersitzung 2023 zugestimmt. Damit ist der Weg frei für eine planbare und auskömmlich finanzierte intersektorale Rotationsstelle.

Trotz dieser erfreulichen Entwicklung muss weiterhin klar sein, dass es sich auch hier nur um ein Modellprojekt handelt, was nicht geeignet ist, in die Versorgungsrealität übernommen zu werden. So erfolgt die Finanzierung im vorgestellten Fall paritätisch ausschließlich über die gesetzlichen Krankenkassen und aus den Honoraren der Vertragsärzte in Schleswig-Holstein. Eine qualitativ hochwertige Facharztweiterbildung ist im Interesse der gesamten Gesellschaft. Es ist daher zwingend erforderlich, alternative Finanzierungsmöglichkeiten zu diskutieren. Best Practice-Modelle aus anderen entwickelten Ländern gibt es genug. Es gilt, eine sichere Lösung für Deutschland zu finden.

Literatur

[1]   Bundesärztekammer. Stationär tätige Ärztinnen/Ärzte nach Gebietsbezeichnungen und Altersgruppen. 2018; Im Internet: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Statistik2018/StatTab07.pdf; Stand: 16.06.2019
[2]   Kassenärztliche Bundesvereinigung. Statistische Informationen aus dem Bundesarztregister. 2022
[3]   Youssef Y, Hättich A, Friemert B. Orthopädie und Unfallchirurgie – Zehnkampf der Medizin. springermedizin.de. Im Internet: https://www.springermedizin.de/orthopaedie-und-unfallchirurgie-zehnkampf-der-medizin/23842880; Stand: 19.02.2024
[4]   Perl M, Stange R, Niethard M, et al. Weiterbildung im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie. springermedizin.de. Im Internet: https://www.springermedizin.de/weiterbildung-im-fach-orthopaedie-und-unfallchirurgie/8056848; Stand: 19.02.2024
[5]   DKG, KBV, GKV. Vereinbarung zur Förderung der Weiterbildung gemäß § 75a SGB V1. 2022
[6]   Brandt O, Tjardes T, Grimaldi G, et al. Risikofaktorenanalyse zu den Gründen des Ausscheidens aus der fachärztlichen Weiterbildung im Fach Orthopädie und Unfallchirurgie | Die Unfallchirurgie. Im Internet: https://link.springer.com/article/10.1007/s00113-022-01249-x; Stand: 19.02.2024
[7]   Ludwig J, Seifert J, Schorlemmer J. Challenges and Deficiencies in Orthopaedic Surgical Training in Germany – A Qualitative Study. Journal of Surgery and Research 2022; 5: 64–79
[8]   Ludwig J, Seifert J, Schorlemmer J. [Survey on training in orthopedics/trauma surgery : Is Germany ready for a competence-based training?]. Chirurg 2021; doi:10.1007/s00104-021-01536-0
[9]   Ludwig J, Heumann P, Gümbel D, et al. Full-body MR imaging: a retrospective study on a novel diagnostic approach for children sustaining high-energy trauma. European Journal of Trauma and Emergency Surgery 2021; doi:10.1007/s00068-021-01736-7
[10] Schmitz D med RW. Chirurgische Verbundweiterbildung in Kiel – BDC|Online. BDC 2015; Im Internet: https://www.bdc.de/chirurgische-verbundweiterbildung-in-kiel-2/; Stand: 19.02.2024
[11] Aitken RJ. Lost opportunity cost of surgical training in the Australian private sector. ANZ Journal of Surgery 2012; 82: 145–150. doi:10.1111/j.1445-2197.2011.05968.x
[12] Bridges Matthew, Diamond D. The financial impact of teaching surgical residents in the operating room. The American Journal of Surgery 1999; 177: 28–32. doi:10.1016/S0002-9610(98)00289-X
[13] Farnworth LR, Lemay DE, Wooldridge T, et al. A comparison of operative times in arthroscopic ACL reconstruction between orthopaedic faculty and residents: the financial impact of orthopaedic surgical training in the operating room. Iowa Orthop J 2001; 21: 31–35
[14] Singh P, Madanipour S, Fontalis A, et al. A systematic review and meta-analysis of trainee- versus consultant surgeon-performed elective total hip arthroplasty. EFORT Open Rev 2019; 4: 44–55. doi:10.1302/2058-5241.4.180034
[15] Wilson T, Sahu A, Johnson DS, et al. The effect of trainee involvement on procedure and list times: A statistical analysis with discussion of current issues affecting orthopaedic training in UK. Surgeon 2010; 8: 15–19
[16] Pankert J, Psathakis N, Schmidt J, et al. Nachwuchs: Heute PJ – Morgen Chirurgie?! – BDC|Online. BDC 2022; Im Internet: https://www.bdc.de/nachwuchs-heute-pj-morgen-chirurgie/; Stand: 19.02.2024
[17] Schmitz RW, Müller M, Seekamp A Intersektorale Versorgung von unfallchirurgischen Patienten. Passion Chirurgie 2022 April; 12(04): Artikel 03_03

Ludwig J, Schmitz R: Strukturierter intersektoraler Weiterbildungsverbund in O und U. Passion Chirurgie. 2024 April; 14(04): Artikel 05_02.

Autoren des Artikels

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Dr. med. Ralf Wilhelm Schmitz

Referatsleiter Niedergelassene ChirurgenMVZ Chirurgie KielSchönberger Str. 1124148Kiel kontaktieren
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Dr. med Johanna Ludwig

Fachärztin Orthopädie & UnfallchirurgieMSc Surgical Science and PracticeBG Klinikum Unfallkrankenhaus BerlinWarener Str. 712683Berlin kontaktieren

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