01.11.2018 Qualitätsmessung
Safety Clip: Unangekündigte Sicherheits- und Risikoanalysen
Praxisbegleitungen in Krankenhäusern
Nicht erst seit dem Brustimplantate-Skandal steht das System der Konformitätsbewertung von Medizinprodukten in der Öffentlichkeit (neben dem Pflichtverstoß des Herstellers) in der Kritik. Die Medizinprodukterichtlinien (Erstveröffentlichung 1993) sind bereits im Jahr 2007 überarbeitet worden. 2013 hat die EU-Kommission eine Empfehlung zu Audits und Bewertungen von Medizinprodukten durch „benannte Stellen“ veröffentlicht (2013/437/EU, 24.09.2013). Ein „Joint Action Plan“ der EU räumt eben diesen Stellen u. a. das Recht ein, Audits in Krankenhäusern auch unangekündigt vorzunehmen. Von diesem Recht, heißt es hier, sei umfassend Gebrauch zu machen. Damit greift die EU-Kommission einen Passus der Medizinproduktelinien auf, der ebenfalls bereits seit Veröffentlichung unangekündigte Audits in einem Abstand von mindestens fünf Jahren vorsieht.
Die – unangekündigte – stichprobenartige Prüfung von Qualitätsmanagementsystemen (QM-Systemen) durch benannte Stellen hat folgende Ziele:
- Analyse, ob bzw. inwieweit Medizinproduktehersteller konform zu ihrem QM-System arbeiten (gemäß ISO 13485)
- schnelle Identifikation von Abweichungen und Einleitung von Reorganisationsmaßnahmen
- zuverlässiges Aufdecken von Betrugsversuchen
Die Idee, unangekündigte Sicherheits- und Risikoanalysen/Praxisbegleitungen zur Bewertung der Patientensicherheit im Krankenhaus durchzuführen, hatte vor ca. drei Jahren auch ein Kunde der GRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbH. Die GRB-Beraterinnen und -Berater griffen diese auf und machten sich daran, die Voraussetzungen dafür inhaltlich zu definieren. Festgelegt wurde u. a., dass den unangekündigten Sicherheits- und Risikoanalysen in den zu prüfenden Arbeitsbereichen (OP, Abteilung oder Klinik, z. B. in der Geburtshilfe) eine angekündigte Erstanalyse zur Erfassung der Ist-Situation im Hinblick auf die Patientensicherheit vorauszugehen hat. Damit wird das Ziel verfolgt, die beteiligten Mitarbeitenden mit dem Thema „Patientensicherheit“ und allen Aspekten, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, vertraut zu machen.
In einem nachfolgend erstellten Bericht werden die bestehenden Risiken und Verbesserungspotenziale sowie die bereits erfolgten Präventionsmaßnahmen aufgeführt. Der Bericht enthält zudem die Empfehlungen der GRB zur Bewältigung der Risiken und zur Umsetzung von Verbesserungen. Neun bis 15 Monate nach der Erstanalyse wird dann, ebenfalls vorab angekündigt, eine sogenannte Evaluation zur Erstanalyse durchgeführt. Dabei wird der Umsetzungsgrad der in der Erstanalyse definierten Empfehlungen der GRB bewertet und in einem erneuten Bericht beschrieben.
Erst etwa ein Jahr danach kann dann eine unangekündigte Sicherheits- und Risikoanalyse erfolgen. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese unangekündigten Audits zu verschiedenen Zeiten durchgeführt werden, tags, nachts oder auch am Wochenende. Diese Begehungen sollen alle zwei bis maximal drei Jahre stattfinden.
Folgende Ziele werden dabei u. a. verfolgt:
- Prüfung der Praxistauglichkeit bestehender Vorgaben/Standards zur Patientensicherheit
- Prüfung, ob die Vorgaben/Standards zur Patientensicherheit eingehalten werden, sowie Ursachenrecherche bei Nichtbefolgung
- Prüfung, ob und inwieweit die zur Patientensicherheit eingesetzten Instrumente (z. B. OP-Sicherheitscheckliste in der OP-Abteilung) nachhaltig sind, sowie Prüfung der Mitarbeitermotivation, diese einzusetzen
- zeitnahes Erkennen von Abweichungen und Einleitung von Reorganisationsmaßnahmen
Ursprung unangekündigter Sicherheits- und Risikoanalysen/Audits im Krankenhaus
Pate für das Modell der GRB stand die US-amerikanische Non-Profit-Organisation JCAHO (Joint Commission on Accreditation of Healthcare Organizations), die Krankenhäusern und anderen Gesundheitsdienstleistern in den USA Akkreditierungen anbietet, anhand derer – im Rahmen von angekündigten und unangekündigten Audits – die Ausstattung sowie die verwendeten Verfahren untersucht und bewertet werden. Für die fortlaufende Vorbereitung der Organisation auf diese im Dreijahresabstand stattfindenden Überprüfungen sind in den amerikanischen Kliniken beschäftigte Qualitäts- und Akkreditierungsbeauftragten zuständig. Besonders die unangekündigten Audits dienen der JCAHO als Instrument, um zu eruieren, ob die implementierten Prozesse bei der Behandlung und Versorgung der Patienten dauerhaft zuverlässig funktionieren. Die Gesundheitsdienstleister müssen also nach einer angekündigten Sicherheits- und Risikoanalyse und nach Abschluss der Evaluation (ca. ein Jahr später) jederzeit mit einer solchen unangekündigten Praxisbegehung rechnen.
Rahmenbedingungen
Wie beim amerikanischen Vorbild gilt auch hierzulande: Die Leitungsebene (Chefärzte/-ärztinnen, Pflegedienstleitung, Abteilungsleitungen usw.) wird in einer zentralen Veranstaltung krankenhausintern darüber in Kenntnis gesetzt, dass es grundsätzlich zu solchen unangekündigten Audits kommen kann. Über konkrete Zeitpunkte, betroffene Arbeitsbereiche oder Inhalte der Analyse wird freilich keine Information weitergegeben.
Die unangekündigten Sicherheits- und Risikoanalysen/Praxisbegleitungen sollten auf Wunsch des o. g. GRB-Kunden von einem externen Beratungsunternehmen vorgenommen werden. Die Organisation (Auswahl der Themen und Arbeitsbereiche, Zeitfenster usw.) und Durchführung (Startzeitpunkt, Aufgabenverteilung usw.) werden allerdings vorab mit einem/einer Mitarbeitenden der Gesundheitseinrichtung aus dem Bereich Qualitäts-/Risikomanagement abgestimmt bzw. festgelegt. Dieser/diese begleitet dann auch den gesamten Prozess des unangekündigten Analyseverfahrens. Dies ist empfehlenswert, um beispielsweise den Eintritt in Arbeitsbereiche mit begrenzter Zugangsmöglichkeit (z. B. OP-Abteilung) zu gewährleisten, oder auch aus Datenschutzgründen (Sicherheit für die Mitarbeitenden, dass sich keine unberechtigte Person im Arbeitsbereich aufhält).
Denkbar ist auch, dass der Bereich Qualitäts- und Risikomanagement im Krankenhaus selbst unangekündigte Sicherheits- und Risikoanalysen/Praxisbegleitungen vornimmt (z. B. um sich einen Überblick zur Umsetzung von bekannten Kennzahlen zu verschaffen). Sich jedoch bewusst zu entscheiden, ein externes Beratungsunternehmen für angekündigte und unangekündigte Begutachtungen hinzuzuziehen, hat u. a. den Vorteil, dass eine unabhängige (nicht „betriebsblinde“) Prüfung erfolgt. Zudem sind spezialisierte Beratungsdienstleister in der Regel auf dem neuesten Stand, was aktuelle Standards und/oder Gesetze betrifft, sodass die Mitarbeitenden von einem Informationsgewinn profitieren können.
Im Laufe einer unangekündigten Sicherheits- und Risikoanalyse/Praxisbegleitung kann Kontakt zu den leitenden Mitarbeitenden des jeweiligen Arbeitsbereiches aufgenommen werden, um ihnen ein kurzes Feedback anzubieten. In der Praxis hat es sich immer wieder gezeigt, dass dieses Angebot gerne wahrgenommen wird, weil so zeitnah und auf direktem Weg ein Informationsfluss erfolgt. Ein Kurzbericht wird im Anschluss an die Analyse erstellt.
Gründe für die Durchführung unangekündigter Sicherheits- und Risikoanalysen
Einige Gründe, die für unangekündigte Sicherheits- und Risikoanalysen sprechen, sind bereits unter „Einleitung und Zielsetzung“ aufgeführt. Dennoch soll an dieser Stelle auf zwei weitere wichtige Aspekte eingegangen werden, die entscheidend zur Akzeptanz der notwendigen Maßnahmen in der Belegschaft beitragen:
- der Austausch auf Augenhöhe und
- die Umsetzung praxisorientierter Handlungsweisen.
Ein sehr bedeutsamer Aspekt ist der Austausch auf Augenhöhe zwischen den Praktikern und den Personen, die eine unangekündigte Sicherheits- und Risikoanalyse durchführen. Werden z. B. unter Umständen bestehende Störungen bzw. widrige Umstände im Tagesgeschäft zur Kenntnis genommen und besprochen, wird den Mitarbeitenden im jeweiligen Arbeitsbereich auch eine Wertschätzung gegenüber ihrer Tätigkeit entgegengebracht. So kann der Einsatz des Instrumentes dazu beitragen, die oft beklagte Entfernung zwischen Theorie und Praxis zu verringern.
Positiv ist zudem, dass diese Art der Analyse und Bewertung ihren Ursprung nicht etwa in Negativerfahrungen – wie dem eingangs aufgeführten Brustimplantate-Skandal – hat, sondern dass es hier, über die Prüfung hinaus, auch und vor allem um das Aufgreifen innovativer Gedanken und die Umsetzung praxisorientierter Handlungsweisen geht. Dieser proaktive Gedanke sorgt bei den Mitarbeitenden für eine Akzeptanz der zu ergreifenden Maßnahmen, was die Durchdringung im Arbeitsalltag erfahrungsgemäß deutlich verbessert.
Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle, dass eine Vernetzung der Auditierungsmaßnahmen mit anderen RM-Instrumenten wie beispielsweise dem CIRS (Critical Incident Reporting System) möglich ist und durchaus auch sinnvoll sein kann. Konkret könnte das so aussehen, dass aus anonymen CIRS-Meldungen abgeleitete Präventionsmaßnahmen (z. B. Vorgaben zur Kontrolle ärztlicher Anordnungen von Medikamenten auf einem neuen Kurvenblatt) im Hinblick auf ihre Praxistauglichkeit analysiert werden.
Ein Beispiel aus der Praxis
Das Kurvenblatt in unserem Beispiel-Krankenhaus enthält eine extra Spalte für die zuständigen Stationsärzte/-ärztinnen, in der diese per Handzeichen bestätigen sollen, dass die auf dieses neue Kurvenblatt übertragenen Medikamentenangaben korrekt sind. Bei späterer Durchsicht der Patientenkurven wird jedoch festgestellt, dass das ärztliche Handzeichen in der Spalte fast immer fehlt. Eine direkte Nachfrage bei den Ärztinnen und Ärzten ergibt, dass sie die Richtigkeit der auf das neue Kurvenblatt übertragenen Medikamentenangaben üblicherweise nicht in der dafür vorgesehenen Extra-Spalte, sondern in einer Spalte direkt neben dem einzelnen Medikamenteneintrag per Handzeichen bestätigen. Nachdem die Analyse die Unstimmigkeit offengelegt hatte, wurde dieser Prozessschritt praxisorientiert angepasst (inkl. Erläuterung des Vorgehens an zentraler Stelle) und die zusätzliche Spalte wurde aus dem Kurvenblatt entfernt.
Anders als die üblichen Analysen und Audits, bei denen in der Regel der Gesamtprozess betrachtet wird, bieten unangekündigte Risiko- und Sicherheitsanalysen/Praxisbegleitungen gezielter die Möglichkeit, den Blick auch auf kleinere Prozesse oder (bedeutsame) Teilprozesse zu richten (z. B. Ablauf Team-Time-out im OP, Ersteinschätzung von gehfähigen Notfallpatienten/-patientinnen in der Notaufnahme). Dieses Vorgehen beinhaltet damit die Chance, aus der Analyse Ableitungen für den Gesamtprozess zu erarbeiten und die Organisationsentwicklung im jeweiligen Tätigkeitsbereich voranzutreiben. Stellt sich bei der unangekündigten Sicherheits- und Risikoanalyse/Praxisbegleitung umfangreicher Handlungsbedarf heraus, kann dies der Ausgangspunkt sein, eine Neubewertung und -bearbeitung aller Facetten des Gesamtprozesses vorzunehmen.
Mögliche Themen/Aspekte für unangekündigte Sicherheits- und Risikoanalysen
Die Auswahl der Themen/Aspekte für unangekündigte Sicherheits- und Risikoanalysen richtet sich hauptsächlich nach den Gegebenheiten/Spezialisierungen in den jeweiligen Arbeitsbereichen, Abteilungen und/oder Kliniken. Auch Neuerungen bzw. Änderungen in den Abläufen können Auslöser für eine solche Analyse sein.
Folgende Themen/Aspekte könnten für eine unangekündigte Analyse geeignet sein:
- Medikationsmanagement: Analyse von Prozessteilen (ärztliche Anordnung, Dokumentation der Anordnung, Ausgabe der Medikamente etc.) oder, je nach Zeitressourcen, des Gesamtprozesses
- Notaufnahme: Ablauf bei der Ersteinschätzung gehfähiger Notfallpatienten/-patientinnen spezieller Fachabteilungen (z. B. HNO, Augenheilkunde, Psychiatrie)
- Onkologische Ambulanz: Vorgehen bei ausgelaufener Zytostatika-Flüssigkeit (z. B. sinnvolle Aufbewahrung von Paravasat-Set und Spill-Kit; Vermeidung von Kontaminationen bei vielen zeitgleichen Behandlungen auf engem Raum)
- Patientenbezogene Dokumentation: Umgang mit Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten usw. (Abfrage, Verfügbarkeit, ärztliche Prüfung, Ableitung von Konsequenzen aus Verfügungen, Transparenz und Einhaltung der abgeleiteten Konsequenzen)
Vorgehen bei der Analyse und Effekte auf die praktische Arbeit
Die Analyse startet mit einer kurzen Vorstellung bei den schichtführenden Mitarbeitenden (Ärzteschaft, Pflegende, Therapeutinnen und Therapeuten). Danach werden, je nachdem, welche Themen/Aspekte ausgewählt wurden, zunächst die entsprechenden Unterlagen gesichtet. Mitarbeitende der zu begutachtenden Arbeitsbereiche werden, sofern gewünscht und zeitlich möglich, in die Analyse einbezogen.
Ein ganz wesentlicher Bestandteil der Analyse ist die Praxisbegleitung, bei der Abläufe im Detail angesehen werden. Ein Beispiel aus der Praxis der GRB: In einer onkologischen Ambulanz wurden, wie oben bereits kurz angeführt, Paravasat-Set und Spill-Kit an unterschiedlichen Orten aufbewahrt. Daraus resultierten unnötige Wege für die Mitarbeitenden. Zudem bestand bei ausgelaufener Zytostatika-Flüssigkeit aufgrund der räumlichen Enge im Arbeitsbereich das Risiko, dass Mitpatienten/-patientinnen kontaminiert werden.
Der Bericht zur unangekündigten Sicherheits- und Risikoanalyse in o. g. Fall enthielt neben einer Übersicht über die potenziellen Risiken bei auslaufender Zytostatika-Flüssigkeit auch eine Beschreibung der im konkreten Fall bereits vorhandenen Präventionsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Zytostatika-Therapie. Empfohlen wurden Maßnahmen, um die Aufbewahrung von Paravasat-Set und Spill-Kit zu optimieren. Zusätzlich wurde eine Simulationsübung zum Vorgehen bei auslaufender Zytostatika-Flüssigkeit angeregt, um den Umfang der erforderlichen Präventionsmaßnahmen zu erkennen und deren Umsetzung in der Praxis zu veranlassen.
Gesagt, getan: Nach Vorlage des Berichtes führten die in der onkologischen Ambulanz tätigen Mitarbeitenden eine Simulationsübung durch (begleitet vom Qualitäts- und Risikomanagement). Anschließend wurden die Abläufe bei der Gabe von Zytostatika-Infusionen neu koordiniert (inklusive Änderung des Aufbewahrungsortes für Paravasat-Set und Spill-Kit).
Zusammenfassung
Bei der Durchführung von unangekündigten Sicherheits- und Risikoanalysen ist ein besonderes Augenmerk auf die Praxisbegleitung zu legen, soweit dies möglich ist. Die Praxisbegleitung kann und sollte dazu genutzt werden, den Blickwinkel der/des Mitarbeitenden im Hinblick auf die Patientensicherheit zu beeinflussen. Klarzustellen ist, dass mit dieser Art von Analysen lediglich stichprobenartig Themen/Aspekte bearbeitet werden, und sie daher als Ergänzung zu anderen Verfahren anzusehen sind. Weitere Vorteile solcher Analysen sind, dass Praktikern prospektiv Instrumente zur Bearbeitung relevanter Themen an die Hand gegeben werden, die von ihnen selbst aktiv genutzt werden können. Über die reine Prüfung von Sachverhalten hinaus liegt hier ein Schlüssel zur Mitarbeitermotivation. Außerdem wird auf diese Weise das kontinuierliche Hinterfragen der eigenen Tätigkeit etwas „ganz Normales“ bei der täglichen Arbeit.
Literatur
[1] TÜV SÜD, „Was Sie über unangekündigte Audits wissen sollten“ (Fragen und Antworten FAQ)
Autor des Artikels
Karin Hinke
Risikoberaterin, RisikoassessorinGRB Gesellschaft für Risiko-Beratung mbHKlingenbergstr. 432758Detmold kontaktierenWeitere Artikel zum Thema
Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!
Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.