Zurück zur Übersicht

Deutschland altert! Derzeit gewinnen die Deutschen pro Jahr ein Vierteljahr an Lebenszeit. Und wahrscheinlich wird die Lebenserwartung in absehbarer Zeit nur durch die Funktion der Lunge begrenzt. Extrapoliert man die verfügbaren Daten, so scheint die Lebensspanne der Menschen in den hochentwickelten Nationen gegen 120 Jahre zu streben. Wir alle werden älter und wir werden gesünder alt. Dennoch steigt die Nachfrage nach medizinischen Leistungen konstant und sie wird wohl, wenn nicht alle Prognosen täuschen, bis 2050 weiter steigen.

Die demographische Entwicklung kann daher nicht ohne dramatische Auswirkungen auf das Medizinsystem bleiben. In Deutschland teilen sich im Jahr 2014 noch 230 Bürger einen Arzt. Das Land besitzt damit eine Arztdichte die zu den höchsten unter allen Nationen zählt. Betrachtet man dagegen die Pflegesituation in Deutschland oder weitet man den Blick auf die Systeme in ganz Europa, muss man bis 2020 mit einem Fehlbestand von 1.000.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Medizinsystem rechnen. Spätestens aber, wenn sich die bekannte Bevölkerungspyramide in unserem Lande zur Urnenform gewandelt hat, wird ein harter Wettbewerb um die besten Köpfe auf dem Markt entstanden sein und die Finanzierung des Systems wird Probleme bereiten. Eine Frage, die man heute noch weit in die Zukunft verweist, wird akut werden. Wie soll man eine hochstehende Versorgung der Bevölkerung aufrechterhalten?

Drei Lösungswege bieten sich an:

  • Männer und Frauen nehmen gleichermaßen am Berufsleben teil.
  • Und die Lebensarbeitszeit wird, wie dies Hans Werner Sinn vorgeschlagen hat, bis zum 77. Lebensjahr verlängert.
  • Alternativ wäre eine Zuwanderung von etwa 35.000.000 Menschen ins Auge zu fassen.

Was dies für die chirurgische Profession bedeutet, soll im Folgenden betrachtet werden.

Länger Arbeiten ohne Wenn und Aber?

Feinmotorische Bewegungsmuster, wie sie der chirurgische Alltag permanent fordert, sind sehr komplex. Sie bedürfen einer hohen Aufmerksamkeit und Konzentration. Sie benötigen eine schnelle Funktion des Gedächtnisses. Aber auch Emotion und Motivation dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Und schließlich müssen alle Handlungskomplexe an die jeweilige Situation angepasst werden. Man unterscheidet dabei elementare Funktionen, wie unkomplizierte Willkürbewegungen, Bewegungsumfang und -Geschwindigkeit. Koordinative Basisfunktionen wie Bewegung, Kraft und Kontrolle. Und schließlich visuell-motorische und audiomotorische Funktionen, die notwendig sind, um die Wahrnehmungen des Sensoriums in Handlungen zu integrieren. Eine hochkomplexe Funktionshierarchie also, die auf das harmonische und perfekte Zusammenspiel aller Teilbereiche angewiesen ist.

Die Elementar- und Basisfunktionen sind untrennbar verbunden mit dem Zustand von Gelenken und Muskeln. Beide werden in sehr individueller Weise von altersbedingten Einschränkungen betroffen. Dabei spielen genetische Faktoren, Vitamin-D-Haushalt, Hormonstatus, Ernährung, sportliche Betätigung, geistige Aktivität und Vieles mehr eine wesentliche Rolle. Allgemeine Betrachtungen können sich daher immer nur auf Durchschnittswerte beziehen. Gerade in höherem Lebensalter sind die Differenzen zwischen den Einzelindividuen jedoch erheblich. Betrachtet man etwa den Fitnessverlust bei 70-Jährigen im Verhältnis zum Durchschnitt der 20-Jährigen,so verliert die Kraft der Hände 30 %, die Beinkraft etwa 70 % und die Fähigkeit auf einem Fuß zu balancieren ist um 90 % eingeschränkt. Ausgleichsbewegungen und Rumpfbeugen vermindern sich auf 50 %.

Die muskuläre Ausdauerleistung fällt von 72 % der Leistung eines 20-Jährigen zu Beginn eines Arbeitstages auf 50 % an dessen Ende. Ein steiler Abfall der Leistung erfolgt für gewöhnlich zwischen dem 70. und 80. Lebensjahr. Ähnliches gilt für die Muskelkraft eines 70-Jährigen die, von niedrigerem Niveau kommend, im Laufe eines Arbeitstages ebenfalls um etwa 20 % nachlässt, während sie beim 20-Jährigen praktisch gleich bleibt. Auch die sensorischen Systeme bleiben von altersbedingten Einschränkungen nicht verschont. Die Sehschärfe erreicht nach 70 Lebensjahren noch etwa 35 % des Ausgangswertes und die Akkomodationsbreite liegt zwischen 7 und 10 %. Die Hörfähigkeit sinkt im Mittel um 40 dB, wobei besonders die hohen Töne betroffen sind, welche die Voraussetzung bilden zum Verstehen von Zischlauten und asthenischer Stimmgebung. Natürlich sind auch die Reaktionszeit, die Koordination und die Informationsverarbeitung von Veränderungen betroffen. Setzt man etwa die Reaktionszeiten bei auditiven Aufgaben als Maßstab, nehmen diese bei einfachen Aufgaben kaum zu. Deutlich wahrnehmbar steigen sie jedoch mit zunehmender Komplexität dieser Aufgaben. Die flüssigen mechanischen und geistigen Leistungen und die Handlungsgeschwindigkeit nehmen zwischen dem 60. und dem 90. Lebensjahr im Sinne einer flachen parabolischen Kurve maximal ab. Um den Endpunkt zu verdeutlichen sei angemerkt, dass der Greis mit 90 Jahren in der Regel seine gesamte Energie und Konzentration einsetzen muss, wenn er sich vom Sessel erheben will. Lebenslang eingeübte sogenannte kristalline oder pragmatische Leistungen besitzen dagegen lineares Entwicklungspotential bis ins höchste Lebensalter [1, 2, 3, 4, 5, 6, 7].

Wann ist die rechte Zeit das Skalpell aus der Hand zu legen?

Auf diese Frage kennt die Wissenschaft keine eindeutige Antwort. Nachdenklich stimmt allerdings eine Meldung aus den USA, die besagt, dass Chirurgen/innen jenseits des sechzigsten Lebensjahres eine höhere Komplikationsrate aufweisen würden, als jüngere Kollegen/innen. Ganz allgemein unterscheiden sich die Menschen jedoch maximal hinsichtlich ihrer genetischen Voraussetzungen. Wer Träger des Methusalem-Gens ist, darf auf ein sehr langes Leben hoffen. Sie unterscheiden sich in ihren Lebensumständen, ihrer Bildung und Morbidität, ihrer geistigen und körperlichen Aktivität. Insofern erhebt sich schon die Frage welche Bedeutung man der o. g. Studie beimessen darf.

In den letzten Jahren hat man darüber hinaus gelernt, dass ein hoher Bildungsgrad und eine hohe geistige Aktivität mit Ideen und Visionen lebensverlängernd wirken und vor allem den Alterungsprozess des Gehirnes verzögern. In ähnlicher Weise wirken soziale Netzwerke. Die Bedeutung einer ausgewogenen Ernährung auf möglichst weitgehend vegetarisch, veganer Grundlage ist durch die China Study und große Untersuchungen in der Gemeinschaft der Mormonen bekannt geworden. Man gewinnt – diese Form der Ernährung vorausgesetzt – fünf bis sieben Jahre lebenswerten, aktiven Lebens.

Außerdem profitieren 90 % aller Menschen von körperlicher Aktivität. Daher wird empfohlen Kraft, Beweglichkeit, Ausdauer und Koordination mehrmals pro Woche zu trainieren [8].

Schlussfolgerungen

Geburt, Krankheiten, Alterung und Tod sind den lebenden Individuen eingeprägt. Altersbedingte Veränderungen lassen sich beeinflussen, hinauszögern, durch günstige Erbanlagen weit in die eigene Zukunft verschieben. Letztlich aber gewinnen negative funktionelle und strukturelle Veränderungen immer die Oberhand. Reaktionsschnelligkeit und Trainierbarkeit nehmen ab. Die Feinmotorische Koordination lässt nach. Gedächtnisleistung und Kognition erleiden Einbußen. Es fällt immer schwerer, Informationen aufzunehmen und geeignet zu verarbeiten. Das Kurzzeitgedächtnis verabschiedet sich langsam. Eine einfache Regel wann der rechte Zeitpunkt aufzuhören gekommen sein mag gibt es aber nicht. Anders ausgedrückt: Wer rastet, der rostet. Oder: If you don’t use it, you lose it!

Der Pianist Vladimir Horowitz etwa gab bis kurz vor seinem Tode im neunten Lebensjahrzehnt noch wunderbare Konzerte und die Unterschrift des berühmten Herzchirurgen Denton Cooley zeigte nach dem einundneunzigsten Geburtstag noch keinerlei Veränderungen, die auf eine altersbedingte Störung der Feinkoordination hingewiesen hätten.

Letztlich muss jeder Chirurg/in im Sinne des Patientenwohles und unter kritischer Würdigung der eigenen Gesundheit und der eigenen Fähigkeiten entscheiden, wann er/sie aus dem aktiven Berufsleben ausscheiden will. Das berufliche Umfeld sollte ihm/ihr bei dieser Entscheidung proaktiv zur Seite stehen.

Literatur

[1] Häkkinen et al. Neuromuscular adaptation during prolonged strength training, detrainingand re-strength-training in middle aged and elderly people Eur J Appl Physiol 83(1), 51-62 (2000)

[2] http://www.medizinfo.de/geriatrie/problembereiche/beweglichkeitsstoerungen.shtml

[3] http://www.dtb-online.de/portal/gymcard/meine-gymwelt/wissen-informieren/kraft.html

[4] http://www.medizinfo.de/geriatrie/problembereiche/hoerstoerungen.shtml

[5] http://www.medizinfo.de/geriatrie/problembereiche/sehstoerungen.shtml

[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Akkommodation

[7] Berliner Altersstudie http://library.mpib-berlin.mpg.de/ft/mm/MM_Sensorische_2010.pdf

[8] Siewers M. Muskelkrafttraining mit älteren Menschen Ärzteblatt SH 05/2001 49-55

OEBPS/images/02_02_image_author.jpg
OEBPS/images/ICON_link_2a.png

Diesen Artikel finden Sie auf BDC|Online unter der Rubrik
Themen/Berufsalltag/Chirurgischer Ruhestand.

Bruch H.-P. Rente mit 70! Kann/Sollte man jenseits der 60 noch operieren? Passion Chirurgie. 2014 November, 4(11): Artikel 02_02.

Autor des Artikels

Profilbild von Hans-Peter Bruch

Prof. Dr. med. Hans-Peter Bruch

ehem. PräsidentBerufsverband der Deutschen Chirurgen e.V.Luisenstr. 58/5910117Berlin

Weitere Artikel zum Thema

PASSION CHIRURGIE

Passion Chirurgie 11/2014

Rentner haben niemals Zeit Der oft zitierte demografische Wandel, der

Passion Chirurgie

Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!

Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.