Gekürzte Fassung des Vortrags auf der Tagung „Quo vadis chirurgia“, am 15. Februar 2013 in Berlin; eine ausführlichere Version erscheint in Heft 3 der Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie.
Wir leben in einer Zeit, in der die Politik selbst nicht die Verantwortung übernehmen möchte für die Frage, wo ein Krankenhaus stehen soll und wo nicht. Für die Politik ist es das Einfachste, die Frage nach der Notwendigkeit von Krankenhäusern unbeantwortet zu lassen und es stattdessen dem Markt zu überlassen, wo welches Krankenhaus übrigbleibt oder nicht. Auf diese Weise werden rein ökonomische Parameter ausschlaggebend, und so ist der Politiker entlastet, weil eine Schließung eines Krankenhauses eben dann „selbst verschuldet“ ist. Diese politische Zurückhaltung aber ist gefährlich, weil auf diese Weise die Krankenhäuser einfach ihrem ökonomischen Schicksal überlassen werden und sie alle um ihre Zukunft bangen müssen, wenn sie nicht schwarze Zahlen schreiben. Natürlich ist es notwendig, dass Krankenhäuser wirtschaftlich arbeiten, aber die Güte eines Hauses darf sich nicht allein an wirtschaftlichen Parametern festmachen, sondern an der medizinischen Qualität der Behandlung und der Sorge. Heute aber erheben wir das Schreiben schwarzer Zahlen zum neuen Qualitätsmerkmal der Krankenhäuser, und nicht etwa die gute Versorgung von Patienten. Wenn somit die ganze Existenz des Krankenhauses allein vom Schreiben schwarzer Zahlen abhängt, dann wird klar, dass das Diktat der Einsparung, das Diktat der schnellen Durchschleusung von Patienten, das Diktat der Beschränkung auf das Formale, immer mehr zum leitenden Paradigma wird. Wir haben also eine Situation, in der rein formal die Medizin alles zur Verfügung stellt, aber in der konkreten Ausgestaltung doch dazu angehalten wird, eine subtile Unterversorgung in Kauf zu nehmen, weil es letzten Endes die Bilanzen sind, die über die Weiterexistenz des Hauses entscheiden.
Konkret bedeutet diese ökonomische Logik in den modernen Krankenhäusern, dass das Versorgungsniveau der Bevölkerung nicht dadurch abgesenkt wird, dass notwendige Behandlungen nicht mehr erfolgen. Die Absenkung des Versorgungsniveaus erfolgt viel subtiler. Sie startet schon in den Köpfen. So wird heute den Ärzten subschwellig beigebracht, die Patienten in ökonomische Kategorien aufzuteilen und bei jedem Patienten stets mit zu reflektieren, welche Bilanz er verspricht. Eine schlechte Bilanz versprechen vor allem chronisch Kranke, Patienten mit Mehrfacherkrankungen, Patienten mit Komplikationsrisiken, Patienten mit hohem Versorgungsaufwand. Solche Patienten versucht man eher zu meiden, weil sie aus dem Raster der Effizienz fallen. Gerade bei der Aufnahme zeigt sich das, weil man aus Geldgründen dann dazu neigen wird, lieber relativ gesunde Patienten aufzunehmen und man zugleich dazu tendiert, auf kranke Patienten einen Druck auszuüben, dass sie schnell entlassen werden.
Etwas anderes kommt hinzu. Indem die Ärzte implizit angehalten werden, zu sparen, entsteht eine neue Kultur des Umgangs mit dem Patienten. Die Ärzte sparen dann nicht an den Eingriffen, sondern vor allen Dingen an der Kontaktzeit mit dem Patienten. Wir haben auf diese Weise eine neu eingeforderte formalistische Unpersönlichkeit, die immer mehr die fürsorgende und empathische Zwischenmenschbeziehung zwischen Arzt und Patienten ersetzt. Und so werden die Begegnungen mit dem Patienten, die Begegnungen von Angesicht zu Angesicht aus Gründen der Funktionalität und Effizienz immer mehr reduziert, und das ärztliche Handeln wird immer mehr als ein rein handwerklich-technisches Handeln angesehen. Die Ärzte werden implizit angehalten, sich auf das handwerklich-technische zu beschränken und die Beziehungsqualität zu vernachlässigen. So wird eine Betriebsamkeit etabliert, die es den Ärzten geradezu verunmöglicht, spontan auf den Patienten zu reagieren. Die sozialen Kontakte sind ganz starr in einen vorgegebenen Ablaufplan eingeplant, wodurch die Gespräche mit dem Patienten in gewisser Weise komplett „eingetaktet“ werden (Klinke 2008). So ergibt sich kaum eine Möglichkeit, spontan zu reagieren, sich auch mal mehr Zeit zu nehmen. Es sind dann die schwachen Patienten, die Alten, die Pflegebedürftigen, die hier zu kurz kommen, weil sie mehr Erklärungen brauchen als der formalisierte Zeittakt zulässt. Gerade bei der Entlassung zeigt sich dieses Manko; so fühlen sich heute sehr viele Patienten schlecht auf ihre Entlassung vorbereitet, weil man sich nicht genügend Zeit dafür nimmt, ihnen Hilfestellungen zu geben und Ratschläge. Der Arzt, der Ratschläge gibt, der den Patienten sozusagen hinausbegleitet aus dem Krankenhaus, damit er zuhause gut weiterleben kann, dieser Arzt wird zunehmend abgeschafft. – Genau diese Situation aber bereitet gerade vielen Ärzten zunehmend Bauchschmerzen, und viele Studien belegen, dass sehr viele Ärzte in diesem System immer wieder ein schlechtes Gewissen bekommen, weil sie das Gefühl haben, ihrer ärztlichen Aufgabe nicht richtig gerecht worden zu sein (Braun et al. 2009).
Wenn Ärzte nur danach bezahlt und beurteilt werden, was sie dokumentieren können, sind sie frustriert, weil nicht in Anschlag gebracht wird, dass das Eigentliche der ärztlichen Betreuung nicht in dem aufgeht, was man dokumentiert, sondern in all dem Zwischenmenschlichen, das man nicht messen und abbilden kann. Die Bewertung der Ärzte nach dem, was dokumentiert werden kann bedeutet eine totale Entwertung des eigentlichen Sinns des Arztseins, weil die eigentliche ärztliche Arbeit ja gerade darin liegt, in den vielen Gesprächen mit dem Patienten und mit den Kollegen herauszufinden, welche singuläre Lösung für den Patienten die beste ist. Die ökonomische Logik höhlt aber diese ärztliche Logik aus, und die Anreizsysteme sind dann so, dass sie nicht den gewissenhaften Arzt, der sich besonders engagiert, belohnen, sondern den Arzt, der schnelle Entscheidungen fällt, ohne großes persönliches Engagement. Das aber führt sukzessive zu einem Motivationsverlust und zu dem Gefühl, für so eine Form von Medizin eigentlich nicht angetreten zu sein. Das ist fatal, weil es für viele Ärzte gerade der Kontakt zum Patienten ist, aus dem sie Motivation beziehen und Kraft schöpfen, um auch das Mühevolle des Berufes bewältigen zu können. Je mehr dieser Kontakt abgewertet oder gar verunmöglicht wird, desto mehr erleben dann die Ärzte ihren Beruf als zunehmend sinnentleert. Es findet daher nicht weniger als eine Entfremdung der Ärzte von ihrem Beruf statt.
Das System funktioniert aber ganz ohne direkten Druck. Das ist das Gefährliche daran. Die Krankenhausleitungen, sie machen keine klaren Vorgaben, aber durch die allen zugängliche Sichtbarkeit der Bilanzen einer jeden Abteilung und durch die entsprechenden Belohnungssysteme werden die einzelnen Abteilungen automatisch und subschwellig unter Druck gesetzt. Man erpresst sie sozusagen, sagt aber, dass letztendlich die Ärzte selbst entscheiden sollen. Es ist also eine vorgegaukelte ärztliche Freiheit, die sukzessive durch die Rahmenbedingungen ausgehöhlt wird, ohne dies aber zuzugeben. Man tut so, als würde jeder Arzt doch eigenverantwortlich entscheiden können. Ihnen aber bleibt durch das Korsett und durch die implizite Drohung der Klinikschließung oft keine andere Wahl als das Ökonomische dem Medizinischen manchmal doch vorzuziehen.
Gleichwohl lässt sich nicht sagen, dass man eine fachlich-technisch schlechte Medizin hätte. Medizin findet nach wie vor auf hohem fachlichen Niveau statt, aber die Humanität, das Zwischenmenschliche wird ohne dass man es sofort merkt, sukzessive wegrationalisiert. Es wird ausgeblendet, dass die Arzt-Patienten-Beziehung schlichtweg keine geschäftliche Beziehung ist. Es sind soziale Beziehungen, die den Patienten zum Arzt bringen. Es sind Beziehungen in Kontexten der Fragilität. Es geht in der Medizin immer um zerbrechliche Lebensformen. Aus dieser Situation heraus suchen Patienten eben keine Geschäftsbeziehung, sondern sie erwarten eine Sorgebeziehung (Maio 2012).
Daher muss bei aller Notwendigkeit auch wirtschaftlichen Denkens, in der Zukunft viel mehr investiert werden in die Etablierung einer Medizin, die sich als Beziehungsmedizin versteht, als eine sprechende Medizin, die anerkennt, dass es letzten Endes die Form der Zuwendung ist, die eine heilenden Kraft im Patienten freisetzt. Die Zuwendung, das Gespräch, das ist eben nicht, wie suggeriert wird, ein betriebswirtschaftlicher Luxus, sondern es ist der Kern der ärztlichen Tätigkeit, weil nur über das Gespräch ein tragendes Vertrauensverhältnis entstehen kann. Deswegen wäre es unabdingbar notwendig, nach Möglichkeiten zu suchen, wie dieses Gespräch und die sorgende Beziehung zum Patienten wieder gestärkt werden kann, wie es aufgewertet werden kann, damit die Ärzte, die ihren Beruf als Dienst am Menschen begreifen und sich hineingeben in diesen Beruf, dass diese Ärzte nicht auch noch ermahnt und bestraft werden, sondern gewertschätzt werden dafür, dass sie sich mit Hingabe der Betreuung der ihnen anvertrauten hilfsbedürftigen Patienten widmen.
Die Betreuung von Kranken darf nicht einer Herrschaft des bloßen Formalismus und der betrieblichen Unpersönlichkeit geopfert werden. Der einzelne Arzt ist nicht nur ein Funktionsträger, er ist immer zugleich in einer zwischenmenschlichen Beziehung zum Patienten, und jeder Patient sehnt sich danach, nicht nur von einem technischen Könner behandelt zu werden, sondern zugleich von einem Menschen als Persönlichkeit. Die Betreuung von Kranken kann nicht erfolgen ohne Begeisterung für das ärztliche Tun, und vor allem kann sie nicht erfolgen ohne eine Liebe zum Patienten. Ärztliche Betreuung von Kranken erfordert, dass man als ganze Person sich einbringt, und dies geht nur, indem man Freude an dem hat, was man tut. Mit Freude Arzt sein, das ist die Grundlage für eine humane Medizin, und das System muss so strukturiert werden, dass es den Ärzten neu ermöglicht wird, nicht nur zu funktionieren und ihre Pflichten zu erfüllen, sondern durch eine Kultur der Wertschätzung ihres sozialen Engagements wieder neu Freude am Arztsein zu entwickeln. Gerade im Interesse der nachrückenden jungen Generation muss neu ins Bewusstsein gebracht werden, dass der Arztberuf der erfüllendste Beruf sein kann – wenn man nur Freiräume bekommt, um ihn auch als einen zwischenmenschlichen Beruf zu begreifen. Daher muss eine neue Kultur der Sorge gefördert werden, durch die auch und gerade den jungen Ärzten neu vermittelt wird, dass sie in jeder Begegnung mit dem hilfsbedürftigen Menschen eine wunderbare Gelegenheit erhalten, Sinn zu stiften durch die Verbindung von professionellem Können und gelebter Mitmenschlichkeit.
Literatur
Braun, Bernhard / Buhr, Petra / Klinke, Sebastian / Müller, Rolf / Rosenbrock, Rolf: Pauschalpatienten, Kurzlieger und Draufzahler – Auswirkungen der DRGs auf Versorgungsqualität und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus. Bern: Huber Verlag 2009
Klinke, Sebastian: Ordnungspolitischer Wandel im stationären Sektor. 30 Jahre Gesundheitsreform, DRG-Fallpauschalensystem und ärztliches Handeln im Krankenhaus. Berlin: Pro Business, 2008
Maio, Giovanni: Mittelpunkt Mensch – Ethik in der Medizin. Eine Einführung. Stuttgart: Schattauer, 2012