01.10.2009 BDC|Spektrum
Der BDC nach dem Mauerfall
„Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“, diesen Ausspruch soll Goethe anlässlich der Kanonade von Valmy getan haben. Eine preußisch-österreichische Koalitionsarmee überschritt 1792 den Rhein, um der französischen Revolution ein Ende zu machen. Die französischen Freiwilligen-Truppen schlugen sich tapfer und hielten stand. Die Ruhr grassierte in der preußisch-österreichischen Armee, sodass deren Befehlshaber, der Herzog von Braunschweig, den Befehl zum Rückzug gab. Militärisch war die Schlacht von Valmy ohne besondere Bedeutung. Goethe hat insofern Recht behalten, als sich der Geist der französischen Revolution über die Welt ausbreitete. An dieses Zitat Goethes musste ich oft denken, wenn ich mir die Situation der Menschen in der DDR 1990 vorstellte, als der BDC aktiv wurde. Die chirurgischen Kollegen im anderen Teil Deutschlands sollten unterstützt werden, für sie begann wirklich eine neue Epoche und wir vom BDC, die damals dabei waren, erinnern uns lebhaft an diese Zeit.
Im Abstand von 20 Jahren sieht man im Hinblick auf die Wiedervereinigung vieles klarer und differenzierter. Im Übereifer wurden Strukturen zerschlagen, die sich durchaus bewährt hatten. Ich denke an die ambulante Versorgung der Bevölkerung. Alles sollte radikal verändert werden. Vielleicht ist das ja das Zeichen für eine echte Revolution und war im historischen Sinne unvermeidlich.
Den Betrachter (West) ergreift eine Ahnung davon, dass damals in Deutschland (Ost) nicht nur ein bankrotter Staat unterging, sondern über Nacht 16 Millionen Leben auf den Kopf gestellt wurden. Es waren nicht Fragen wissenschaftlicher und chirurgisch-praktischer Tätigkeit, in denen wir Hilfe leisten konnten, sondern der BDC sah seine Aufgabe darin, den Kollegen in der DDR zu helfen, sich dem bislang unbekannten Beziehungsgeflecht berufsständischer Fragen, der Berufspolitik sowie in Versicherungsfragen zurechtzufinden. Diese Zeit brachte viel Arbeit für die Führungsriege des BDC. Es war aber auch eine Zeit, die viele freundschaftliche Kontakte knüpfen ließ.
In Anlehnung an einen Artikel im Chirurg BDC 9/1990, in dem ich von den Aktivitäten des BDC in der damaligen DDR berichtete, will ich einige, mir im Gedächtnis gebliebene, schildern. Unser Hauptgeschäftsführer, Herr Dr. Ansorg, hat mich darum gebeten. Da war der Besuch im Krankenhaus Potsdam im April 1990. Professor Roeding hatte mich eingeladen. Ich passierte die Glienicker Brücke, berühmt geworden durch den Austausch von Agenten. In der Potsdamer Klinik fand eine Versammlung der Brandenburger Chirurgen statt, auf der es lebhaft zuging. Die Versammlung beschloss sofort, einen Berufsverband zu gründen.
Es konnte aber nicht geklärt werden, ob der Verband in der noch bestehenden DDR gegründet werden sollte oder schon im Vorgriff als Landesverband Brandenburg. Wahlen nach streng demokratischen Gesichtspunkten fanden statt, mit Handzeichen wurde gewählt. Bei einem Wahlgang gab es eine Gegenstimme. Ich bemerkte Verblüffung in der Versammlung. Ein älterer Kollege erhob sich und verlangte Auskunft darüber, warum der Betreffende dagegen gestimmt habe. Die „Gegenstimme“ war schlagfertig und erklärte freundlich, dass man nun nicht mehr begründen müsse, warum man dagegen sei. Nach Ende der Tagung wurde ich zu einem Mittagessen im Cecilienhof in Potsdam eingeladen, an einen Ort, an dem 1945 Weltgeschichte für die nächsten 45 Jahre geschrieben wurde. Ich war beeindruckt von der Höflichkeit und Gastfreundschaft der DDR-Kollegen. Gefreut habe ich mich über deren Selbstbewusstsein.
Sie waren sich bewusst, dass sie unter schwierigen Bedingungen gute chirurgische Arbeit geleistet hatten. Im Frühjahr 1990 trafen weitere Einladungen ein, aus Mecklenburg, Vorpommern, Thüringen und vielen anderen, um auf Regionaltagungen Vorträge zu halten. Von unschätzbarem Wert war die Mithilfe meines Freundes, Professor Dr. Gert Specht. Er half, Veranstaltungen vorzubereiten und war immer mit Rat und Tat zur Stelle. Ein Beispiel: Im Mai 1990 sollte in Leipzig eine Informationsveranstaltung des BDC stattfinden. Gert Specht versuchte telefonisch sieben Hotelzimmer zu buchen. Dies war nicht möglich, aus welchen Gründen auch immer. So fuhr Professor Specht mit dem Auto nach Leipzig und buchte dort persönlich die Zimmer. Auf seinen Wunsch, den Tagungsraum sehen zu können, erklärte man ihm, dass dies nicht möglich sei, da der zuständige Hotelmitarbeiter nicht anwesend sei. Professor Specht fuhr also ein zweites Mal von Berlin nach Leipzig, um den Tagungsraum zu besichtigen. Es wurde nichts dem Zufall überlassen.
1990 fand der Deutsche Chirurgenkongress in Berlin statt. Zum ersten Mal nach langer Zeit konnten sich Chirurgen aus beiden Teilen Deutschlands ungezwungen treffen, Gedanken und Meinungen austauschen. Der BDC feierte während des Kongresses in Berlin sein 30-jähriges Jubiläum. Während dieses Kongresses lernte ich Professor Rupprecht kennen. Wir hielten Kontakt und bald war zu erkennen, dass Professor Rupprecht an einer Mitarbeit im BDC interessiert war. Während des Kongresses in Berlin erläuterten der Vizepräsident des BDC, Professor Jens Witte, und ich dem Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Professor Ungeheuer, unsere Reisepläne in die DDR zu Informationsveranstaltungen und luden ihn ein, teilzunehmen. Professor Ungeheuer hat dann auch an einer Veranstaltung in Berlin teilgenommen.
Uns wurden viele Fragen gestellt. Man sah, wie groß die Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft war. Von Berlin ging es nach Rostock/Warnemünde in einem Leih-VW-Bus. Der Springerverlag hatte uns chirurgische Lehrbücher mitgegeben, die wir in Warnemünde kostenlos verteilen konnten. Die „Reisemannschaft“ des BDC bestand aus dem Vizepräsidenten Jens Witte, dem Justitiar Walther Weissauer, den Präsidiumsmitgliedern Kurt Fritz und Jürgen Bauch, beide zuständig für niedergelassene Chirurgen und chirurgische Belegärzte und dem Präsidenten. Immer dabei war die Chefsekretärin des BDC, Frau Peters-Gerlitz. Zeitweise waren auch ein Vertreter der Versicherungswirtschaft und ein Steuerberater dabei.
Am 29. und 30.6.1990 fanden Informationsveranstaltungen in Dresden und Leipzig statt. Es waren heiße Sommertage mit Gewitter und wolkenbruchartigen Regenfällen. Die Nacht in Leipzig verlief schlaflos, aber doch im Gefühl, Nützliches geleistet zu haben. In Dresden fand die Tagung im „Club der Intelligenz“ statt, einem ehemaligen Palais am Elbhang. Wir waren uns bewusst, dass der Name des Clubs uns hohe Verpflichtungen auferlegte. Wir haben immer wieder versucht, uns in die Lage der DDR-Kollegen zu versetzen, wie ihnen zu Mute sein musste, bei der Fülle der Informationen. Professor Weissauer konnte auf seine unverwechselbare bayerische Art die ärgsten Befürchtungen zerstreuen.
Zwei Erlebnisse sind mir noch lebhaft in Erinnerung. Am 18.10.1990 trafen sich Jens Witte und ich am Leipziger Flughafen. Witte hatte in Leipzig eine Patientin besucht, ich kam aus Chemnitz. In einer Nachtfahrt bei scheußlichem Regenwetter fuhren wir im Auto nach Greifswald, wo wir am nächsten Morgen auf Einladung von Professor D. Lorenz an einer Veranstaltung teilnehmen sollten. Gerne hat man damals alle Strapazen auf sich genommen, dienten sie doch einem lohnenden Ziel und man war wirklich ein gern gesehener Gast. Die andere Erinnerung, die sich mir eingeprägt hat, war der erste Besuch in Erfurt. Dr. Fleck, Oberarzt der Erfurter Klinik, erwartete mich auf dem Bahnhof. Als Erkennungszeichen hatte ich die FAZ demonstrativ in der Hand. Ich glaube jedoch, wir hätten uns auch ohne Erkennungszeichen erkannt. In Erfurt fand eine gut besuchte Informationsveranstaltung statt. Ich lernte den damaligen Chef der Erfurter Klinik, Professor Novak, kennen, der mich zum Mittagessen im Kreise seiner Familie einlud.
Auf allen unseren Reisen nach Erfurt – ich denke besonders an eine Reise gemeinsam mit Jürgen Bauch – kümmerte sich Herr Priv.-Doz. Dr. Ansorg in rührender Weise um uns. Der BDC hat sich damals nicht aufgedrängt. Wir haben unsere Hilfe angeboten und sie wurde meistens gern angenommen. Wir erlebten eine aufregende Zeit in einem bedeutenden historischen Umwandlungsprozess. Damals vor 20 Jahren war es ein schönes Gefühl, wieder frei durch Deutschland reisen zu können.
Autor des Artikels
Prof. Dr. med. h.c. Karl Hempel
ehem. Präsident des BDCWeitere Artikel zum Thema
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