Zurück zur Übersicht

1972

1972 trug uns unser VW-T2-Bulli von Kiel bis nach Sikkim im Himalaya. Fünf junge Männer, die dem Hippie-Trail folgten (Abb. 1). Damals an der afghanischen Grenze in Herat fragte der Zöllner erst, ob wir Rauschgift kaufen wollten. Auf unser „Nein“ hin kontrollierte er dann die Reisepässe mit den Visa. Die lange 1.070 km lange „Autobahn“ führte uns in die quirlige Stadt Kabul, damals ein Treffpunkt aller jungen Leute mit dem Ziel Indien. In Siggies Café gab es Tee und allerhand rauch- und genießbare Leckereien. Die Straßen waren voller Menschen, die vollverschleierten Frauen bewegten sich still auf den Märkten, die Läden waren voll von Obst, Nahrungsmitteln und sonstigen Dingen des alltäglichen Bedarfs. Es herrschte Frieden.

Abb. 1: Reisegruppe 1972 vor dem Bulli, v.l.n.r.: J. Kreusch, K.H Thurow, T. Kreusch, H.-J- Krüger, J. Rüggeberg

2024

Und 52 Jahre später fragte mich, inzwischen Chefarzt der MKG-Chirurgie der Asklepios Klinik in Nord-Heidberg, der Verein KBU (Kinder brauchen uns e.V.) an, ob ich Kinder aus Afghanistan mit schweren Gesichtsfehlbildungen operieren könnte. Der Verein würde Transport, Visum, OP-Einverständnis und Unterkunft in Hamburg organisieren. Natürlich sagte ich zu, und im Gespräch mit der betreuenden afghanischen Hamburgerin Frau Nawabi kamen wir auf mein Projekt in Indien, wo wir mit dem Verein FoPG e.V. seit über 30 Jahren Kinder mit LKG-Fehlbildungen operieren (www.friends-of-padhar.de). Es wäre sicher einfacher, die Kinder anstatt alleine nach Hamburg besser mit den Eltern nach Padhar zu bringen.

„Oder“, so fragte Frau Nawabi: „Kann man das auch in Kabul operieren? Und würden Sie das machen?“ Das war natürlich eine schwer spontan zu beantwortende Frage. So kam das Angebot vom Verein KBU, erstmals im März 2024 einen Kurzbesuch in Kabul zu unternehmen, dort Kinder anzuschauen und mögliche OP-Kapazitäten zu suchen. Dank der guten Beziehungen des Vereins KBU zur Regierung in Kabul, egal welche Partei grade regierte, bekamen wir ein Visum und die Zusage, sicher und ohne Zollkontrolle einreisen zu dürfen.

Am ersten Tag besuchten wir den stellvertretenden Gesundheitsminister, der in einem durch viele Sicherheitskontrollen geschützten Gebäude saß. Er, ein gutmütiger älterer Herr mit weißem langem Bart und Turban hörte sich, mit Übersetzerhilfe, unser Vorhaben an (Abb. 2). Anschließend legte er seine rechte Hand auf sein Herz: „Wenn Sie hier unseren Kindern helfen wollen, sind Sie herzlich willkommen, mit meinem Leben garantiere ich für Ihre Sicherheit“. Na ja!

Abb. 2: Der stellvertretende Gesundheitsminister mit T. Kreusch

Am kommenden Tag besuchten wir ein Krankenhaus und sahen 100 Kinder, die, durch Mundpropaganda informiert, zur Untersuchung gekommen waren. Fehlbildungen, schlecht verheilte Frakturen, Entzündungen, Hydrocephali, Verbrennungen und auch Kinder mit LKG-Spalten drängelten sich in den Untersuchungsraum, begleitet von Eltern, viele Frauen voll verschleiert, immer war ein Mann dabei, mit dem wir mit Übersetzerhilfe verhandelten (Abb. 3).

Abb. 3: T. Kreusch mit LKG-Kind und Mutter bei der Untersuchung

Am Abend hatten wir alle 100 Kinder angeschaut und entschieden, welches Fachgebiet hier tätig werden müsste. 26 Kinder hatten wir ausgesucht, die ich als MKGler in Kabul operieren könnte. Im Istaqlal Hospital, einem Regierungskrankenhaus, bekamen wir das Angebot zum Operieren. Man wollte uns alles so einrichten, wie wir es brauchten. Und dann fand ich in meinem Kollegen Uwe Thiede aus Hamburg, Neonatologe und Kinder-Intensivmediziner einen Unterstützer und in Dr. Wassy Abdul Behnawa aus Troisdorf einen afghanischen Narkosearzt, der seit 20 Jahren in Deutschland lebte. Er konnte auf Paschtun mit den kleinen Patienten reden und sollte auch als Kulturvermittler zu unseren Gastgebern fungieren.

Nachdem wir von unseren Familien in Hamburg die Zustimmung eingeholt hatten, ging es im August wieder von Hamburg über Dubai nach Kabul. Im Gepäck meine OP-Sets, eins immer in Betrieb und das andere im Steri. Wir bekamen von der Waldapotheke Wahlstedt, Dr. Intert, großzügige Bedingungen zum Einkauf aller benötigten Medikamente und Materialien.

Am 14. August 2024 flogen wir nach Kabul, diesmal waren die hohen Berge des Hindukusch nur noch in großen Höhen schneebedeckt. Direkt nach der Ankunft ging es ins Steinhaus, das der Verein KBU seit vielen Jahren unterhält und wo afghanische Kinder, nur Jungen, zur Reha nach einer Behandlung in Deutschland oder auch länger mit Schulbetreuung leben.

Einen Tag richteten wir unseren OP im Istaqlal ein. Das Narkosegerät war neu, hatte lange unbenutzt gestanden und brauchte neue Schläuche. Aber die Klimaanlage funktionierte und wir konnten unter den wachen Augen der Kollegen die Schränke einräumen (Abb. 4). Die Anästhesiechefärztin (!) und die Pflegekräfte wurde mit unseren Instrumenten vertraut gemacht, wir führten eine Einweisung durch in das Bipolar-Gerät (das wir später als Geschenk für das Krankenhaus daließen).

Abb. 4: Auspacken und Einräumen der Instrumente und Materialien

Die Patientenvorbereitung verlief wie von zu Hause gewohnt: Aufklärung der (männlichen) Begleitung, Untersuchung, OP-Planung, Einwilligung zu fotografischen Aufnahmen und Unterschrift mit dem Kugelschreiber oder Daumenabdruck. Das Krankenhaus hatte die Intensivstation für uns freigemacht, es war eine extra Schicht Ärzte für die Nachtdienste eingesetzt worden. Uns erstaunte, dass die Frauen, Krankenschwestern, Ärztinnen, Helferinnen fast ausnahmslos ohne Gesichtsverschleierung im Dienst waren. Auch die Mütter der kleinen Patienten waren nur selten verschleiert. Und auch die Ärztinnen operierten im zweiten OP-Saal gemeinsam mit den männlichen Kollegen. Gleichberechtigung von Mann und Frau im Krankenhaus in Kabul, wer hätte das gedacht.

Acht OP-Tage hatten wir, und es lief reibungslos. LKG-Spalten in allen Ausprägungen, Revisionen nach nicht erfolgreichen Verschlüssen des Gaumens, kleine Gesichtstumoren, das Spektrum war wie in Hamburg. Korrekturen bei älteren Personen oder Nasenkorrekturen vor geplanten Hochzeiten waren nicht unsere Aufgabe, da wir mit den Kindern genug zu tun hatten. Täglich machten wir gemeinsam mit den afghanischen Kollegen Visite (Abb. 5). 29 Kinder im Alter von 2 bis 18 Jahre, davon 18 Mädchen und 11 Jungen, konnten wir operativ versorgen (Abb. 6 und 7).

Abb. 5: Visite postoperativ

Abb. 6 und 7: Kind mit einseitiger LKG-Spalte vor und nach der OP

Es traten keinerlei Komplikationen auf. Immer hatte ich viele interessierte Kollegen und Kolleginnen um mich herum und ich konnte Prinzipien der LKG-Chirurgie am OP-Tisch demonstrieren und Fragen beantworten (Abb. 8).

Abb. 8: T. Kreusch und interessierte Ärzte und Ärztinnen im OP

An einem der letzten Tage luden die Kollegen, diesmal nur die Männer, uns zum Essen ein. Im Arztdienstzimmer war der Tisch, d. h. eine Plastikplane auf dem Teppich, reich mit afghanischen Spezialitäten gedeckt, und die Gespräche waren interessant und freundlich. Nur uns taten die Knie weh, nach einer halben Stunde im Schneidersitz holten die Kollegen uns einen Stuhl (Abb. 9).

Abb. 9: Abendessen mit Kollegen im Dienstzimmer der Ärzte

Wie ist unser Fazit?

In Afghanistan herrscht ein großer Bedarf an Hilfe, materiell wie auch personell. Es gibt auch Wege, Materialien zu bekommen, in einer Apotheke konnten wir Infusionsbestecke, Medikamente und Verbandsmaterialien kaufen. Wir haben uns ausschließlich im Gästehaus und im Krankenhaus aufgehalten. Auf den ca. 4 km langen Fahrten wurden wir oft von Soldaten, bis auf einen Sehschlitz verschleiert, angehalten. Die Bescheinigung des islamischen Emirats von Afghanistan, das uns als deutsche NGO anerkannte, war immer die Erlaubnis für die sofortige Weiterfahrt. Musik ist verboten, Frauen dürfen nicht laut sprechen, Mädchen dürfen nach der 6. Klasse keine Schule mehr besuchen, Universitäten sind ihnen verwehrt. Aber es gibt viele Aktivitäten von im Ausland lebenden Afghaninnen, die Hoffnung aufkeimen lassen. Und im Krankenhaus herrschte Gleichberechtigung.

Das Abschlussfoto zeigt, wie in jedem OP-Camp auf der Welt, auch in Afghanistan, fröhliche Gesichter (Abb.10). An den Mann mit dem Maschinengewehr an der Seite, der uns dauernd bewachte, gewöhnt man sich. Dieser Soldat wurde ein guter Freund von uns und die Waffe kam nie zum Einsatz.

Abb. 10: Teamfoto mit der ganzen Mannschaft zum Abschluss

Kreusch T: Kabul ist anders … – Humanitäre Hilfe für Kinder aus Afghanistan. Passion Chirurgie. 2025 Juli/August; 15(07/08): Artikel 09_01.

Autor des Artikels

Profilbild von Thomas Kreusch

Prof. Dr. Dr. Thomas Kreusch

Dweerblöcken 6222393Hamburg kontaktieren

Weitere aktuelle Artikel

PASSION CHIRURGIE

Passion Chirurgie: Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie

Die Sonne lacht endlich wieder vom Himmel – und passend

Passion Chirurgie

Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!

Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.