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Die Herausforderungen

Derzeit gewinnen die Menschen in Deutschland mit jedem Jahr ein viertel Jahr an Lebenszeit. Die Bevölkerung wird älter und noch bleibt auch sie länger gesund. Nach neuesten Daten könnte diese Entwicklung jedoch durch den um sich greifenden ungesunden Lebensstil (Adipositas, Diabetes etc.) binnen Kurzem konterkariert werden, sodass die Prognosen mit einer gewissen Unschärfe behaftet sind.

Einiges scheint jedoch gesichert: Wegen des demographischen Wandels wird die Bevölkerung in absehbarer Zeit um etwa 17 Millionen Einwohner schrumpfen. Es bestehen Hinweise darauf, dass die Multimorbidität zunehmen wird. Die Menschen werden länger mit Einschränkungen und Krankheiten leben. So zeigen die Prognosen von Hofmann eine Zunahme von Volksleiden wie Diabetes, Myocardinfarkt, Kolonkarzinom und Demenz zwischen 21 und 91 Prozent bis zum Jahre 2020.

Die Alterung der Bevölkerung wird voraussehbar auch erhebliche Auswirkungen auf die Versicherungssysteme haben. Die Gesundheitskosten der über Achtzigjährigen sind mit Einschränkungen vier mal so hoch, wie die der Durchschnittsbevölkerung. Folgt man den Berechnungen von Beske, wird die arbeitende Bevölkerung gegen Mitte des Jahrhunderts knapp die Hälfte ihres Bruttoeinkommens an die Sozialversicherungssysteme abführen müssen, wenn alles so bleibt, wie es ist. Nicht ohne Grund denkt daher ein Teil der politischen Elite über die Bürgerversicherung nach, die keine andere ordnungspolitische Funktion haben wird, als den staatlichen Organen die absolute Herrschaft über das Medizinsystem zu sichern und Medizin nach Kassenlage zu ermöglichen.

Den Ausführungen des Institutes für Mikroökonomie in Kiel folgend, wird sich die Bemessungsgrundlage der Krankenkassen bis zum Jahre 2036 asymptotisch einem Maximalwert annähern, der in den folgenden zwei Jahrzehnten kaum mehr steigen wird, wobei die Prognose eine ungebrochen positive wirtschaftliche Entwicklung voraussetzt.

Der demographische Wandel besitzt jedoch noch weitere Implikationen

Die Gesundheitsbehörden der EU rechnen bis zum Jahre 2020 mit einem Mangel an Beschäftigten im Medizinsystem der bei einer Million Personen liegen dürfte. In Deutschland entwickelt sich ein Mehrbedarf von 31.000 an Ärzten bis 2020.

Die zunehmende Leistungsverdichtung im Medizin- und Sozialsystem beginnt sich negativ auf die Leistungsfähigkeit auszuwirken. Immer mehr Menschen müssen in immer kürzerer Zeit von immer weniger Personal behandelt werden. Wenn man den Schlagzeilen von BILD Glauben schenken darf, erreichen die Fehlzeiten der Angestellten im Medizin- und Sozialsystem bis zu 41 Tage pro Jahr.

Zusammenfassend lässt sich daher sagen:

Die Menschen werden älter. Die Polymorbidität nimmt zu. Die finanziellen Ressourcen sind nicht mehr ausreichend. Der Wettbewerb um die besten Köpfe hat bereits begonnen und das Medizinsystem in seiner derzeitigen Verfassung stößt mit Macht an seine Grenzen.

Warum Delegation von Leistungen?

Oder anders gefragt: kann die Delegation von Leistungen zielführend sein? Der Sinn der angedachten Veränderungen liegt darin, das hierarchisch strukturierte Medizinsystem “durchlässig” zu gestalten. Man glaubt dem Mangel an höherer Qualifikation dadurch begegnen zu können, dass man Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einer niedrigeren Qualifikationsstufe durch Weiterbildungsmaßnahmen und Studium bis zum Grad eines Bachelors zu höherer Qualifikation führt, um ihnen dann Aufgaben etwa aus dem ärztlichen Bereich zuweisen zu können. So hofft man dem absehbaren Mangel zu begegnen. Gleichzeitig ließen sich damit Kosten einsparen.

Die nüchterne Betrachtung von Zahlen und Fakten nährt jedoch erhebliche Zweifel an dieser anscheinend so bestechenden Logik.

Der Ärztemangel ist nicht weg zu diskutieren. Bereits heute könnten viele Kliniken ohne Kollegen und Kolleginnen aus dem europäischen und nicht-europäischen Ausland nicht mehr betrieben werden. Der absehbare Mangel in allen Bereichen der Pflegedienste erscheint jedoch ungleich gravierender. Kann es da wirklich hilfreich sein, die Zahl der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in einem Mangelberuf weiter auszudünnen, um damit einen scheinbar höher qualifizierten Mangel auszugleichen? Wäre es nicht sehr viel sinnvoller einer Akademisierung der Pflege das Wort zu reden, um die Attraktivität zu erhöhen und Aufstiegschancen zu eröffnen? Ähnliches könnte man für andere Sparten im Medizinsystem bedenken.

Patentlösungen sind verdächtig

Das Medizinsystem in Deutschland ist ungemein komplex und die inneren Verflechtungen und Abhängigkeiten sind vielfältig. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass die einfachen Lösungen zielführend sein werden, die heute vielfach propagiert werden. Man wird wohl nicht umhin kommen, eine gewisse Remedur am Gesamtsystem durchzuführen, die um so wirkungsvoller sein dürfte, je sachbezogener und je menschlicher eine Analysse angelegt wird.

Da erschiene es z. B. außerordentlich angemessen, die historisch gewachsene Zuordnung von Aufgaben “sine ira et studio” zu betrachten und die Frage zu stellen, ob diese Aufgaben der Qualifikation derer entsprechen, die sie ausführen. Man würde in allen Bereichen auf wundersame Fehlallokationen treffen, die sich mühelos beheben ließen, würde man sich der Mühe des Nachdenkens unterziehen und den Mut zur Veränderung besitzen. Vieles wäre so in der Hierarchiestufe nach unten oder in andere Bereiche zu delegieren, die weniger unter dem Mangel zu leiden haben.

Darüber hinaus ist eine kritische Würdigung dessen, was im Hause der Medizin zu ändern und zu reformieren ware, noch in keiner Weise erfolgt.

Haben wir die richtigen Organisationsformen? Viele Kliniker beklagen einen unerträglichen Wettbewerb – ein Hinweis darauf, dass zumindest in bestimmten Gegenden die Zahl der Krankenhausbetten deutlich zu hoch sein dürfte.

Sind die Aufgaben unter den Fachärzten so verteilt, dass dem Patientenwohl in bester Weise gedient werden kann? Die sektorübergreifende Versorgung und neuerdings auch die sektorübergreifende Weiterbildung sind zwar in aller Munde und kaum jemand zweifelt noch an deren Notwendigkeit, will man eine flächendeckende Versorgung auf Dauer gewährleisten. Über die Ausgestaltung herrscht jedoch bei Weitem keine Einigkeit.

Die neue Weiterbildungsordnung sieht eine Weiterbildung in Kompetenzleveln vor. Dies bedingt eine bestimmte Größe der Kliniken und einen bestimmten Personalschlüssel, damit die aufeinander aufbauenden Kompetenzen in geeigneter Weise erworben werden können. Die Krankenhauslandschaft und die Weiterbildungsordnung passen in keiner Weise mehr zueinander.

Sind unsere Indikationen nach dem Stand der Wissenschaft immer korrekt?

Die Schlagzeilen der letzten Monate und die intensiven Diskussionen innerhalb der Fachgesellschaften zeigen den Korrekturbedarf.

Werden teure Geräte und Einrichtungen in idealer und wirtschaftlicher Weise genutzt? Nach den internationalen Statistiken könnte und sollte man wohl auch hier Personal und Kosten einsparen. Diese Liste wäre unschwer zu erweitern.

Die Frage der Delegation ärztlicher Leistungen kann nicht isoliert gesehen werden. Sie muss im Zusammenhang mit der Weiterbildung und der sektorübergreifenden Versorgung diskutiert werden, die den niedergelassenen Bereich, die Krankenhäuser, die Rehabilitation und die Pflege einbezieht.

Die Delegation ärztlicher Leistungen und die Implementierung medizinischer Hilfsberufe können daher, wenn überhaupt, nur ein Element im Puzzle der optimalen zukunftsfähigen medizinischen Versorgung sein. 50.000 Schwestern- und Pflegerstellen sind bereits abgebaut. In vielen Bereichen herrscht heute ein sichtbarer Mangel und der Markt ist leergefegt.

Das schnell wachsende Wissen bedingt eine zunehmende Spezialisierung in allen Bereichen der Medizin. Dieser Entwicklung muss auch in der beruflichen Aus- und Weiterbildung Rechnung getragen werden. Eine zunehmende Fokussierung auf bestimmte Aufgabengebiete und eine zunehmende Arbeitsteilung sind dabei wohl unumgänglich.

Die Ausbildung etwa zum operationstechnischen Assistenten erscheint hier nur folgerichtig. Allerdings bedarf das Aufgabenspektrum einer genauen Definition und einer rechtlichen Absicherung. Die Endverantwortung trägt der Arzt und bestimmte Aufgaben können und dürfen nicht delegiert werden. Die administrativen Aufgaben könnten z. B. durch einen administrativ technischen Assistenten übernommen werden (H.-J. Meyer).

Schwestern und Pfleger müssen besser und der Beschäftigung entsprechend fokussierter ausgebildet werden. Sie sollten wieder mit den genuinen Aufgaben betraut werden, die sie vor der Verrechtlichung der Medizin selbstverständlich ausgeführt haben; Aufgaben, die man heute bereits mit der Bezeichnung ‘Delegation ärztlicher Leistungen’ versehen würde.

Dies impliziert eine angemessene Bezahlung und die Möglichkeit zur Akademisierung mit einem Bachelor-, bei Führungskräften mit einem Masterabschluss.

Schlussfolgerungen

Man wird nicht umhin kommen, die Aufgabenspektren neu zu definieren. Qualifizierte Aufgaben werden von entsprechend qualifiziertem Personal ausgeführt. Dabei können neue Berufsbilder mit gewachsener Verantwortung durchaus eine wichtige Rolle spielen.

Weniger anspruchsvolle Aufgaben werden von geschultem Hilfspersonal erledigt. Dies schafft neue Arbeitsplätze und spart Kosten.

Man beginge jedoch einen folgenschweren Fehler, wenn man glaubte, die Medizin könnte im Angesicht der Demographie günstiger werden und die Probleme ließen sich durch Patentlösungen aus der Welt schaffen.

Die Gesellschaft wird sich überlegen müssen, wie viel sie bereit ist, für medizinische Leistungen auszugeben.

Die Experten müssen darüber nachdenken, wie viel Medizin in welcher Qualifikation man an welcher Stelle vorhalten muss und wer mit den entsprechenden Aufgaben im Sinne der medizinischen Ökonomik betraut werden soll. Gesundheitsprobleme sollen in der Weise gelöst werden, dass bei größtem Nutzen die geringste Belastung für die Patienten und die Gesellschaft entsteht (D. Osoba, F. Porzolt).

Und letztlich wird man entscheiden müssen, ob wir nicht neben allen Rationalisierungs- und Strukturierungsbemühungen auch Priorisierung und Rationierung brauchten und wie diese aussehen sollen.

Das Primum Movens muss das Patientenwohl sein. Bei allen notwendigen Diskussionen sollte darauf geachtet werden, dass eine optimale Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität gewährleistet bleibt.

Eine Nivellierung nach unten ist zu verhindern. Der “Barfußarzt” darf, sofern nicht unvorhergesehene Katastrophen eintreten, keine Option sein.

Die sektorenübergreifende arbeitsteilige Versorgung der Patienten in gemeinsamer Verantwortung muss das Ziel sein.

Die Verengung einer Systemdiskussion auf die Delegation ärztlicher Leistungen und die Verschleierung von Mangelsituationen durch neue Berufsbilder, weist da mit Sicherheit keinen guten Weg in die Zukunft.

Bruch H.-P. Der BDC zur Delegation ärztlicher Leistungen. Passion Chirurgie. 2013 August, 3(08): Artikel 02_09.

Autor des Artikels

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Prof. Dr. med. Hans-Peter Bruch

ehem. PräsidentBerufsverband der Deutschen Chirurgen e.V.Luisenstr. 58/5910117Berlin

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