01.05.2024 Panorama
Operation Fruchtwasser
Die künstliche Gebärmutter soll Frühgeborene retten und könnte
verändern, wie wir auf die Welt kommen.
Dieser Artikel stammt aus dem NZZ-Folio zum Thema „Wunschkinder“ (erschienen am 2. Mai 2023). Er galt unter den Einsendungen für den BDC-Journalistenpreis 2023 als einer der Favoriten.
Der Silikonfötus kommt im Sitzungszimmer 6.113 zur Welt. Dort, im 6. Stock des Atlasgebäudes der Technischen Universität Eindhoven, liegt auf einem Operationstisch der Prompt-Flex-Geburtssimulator von Laerdal Medical mit dem Kaiserschnittmodul. Der Prompt Flex ist eine Dame nur aus Unterleib, an der Medizinstudenten ihre Eingriffe üben. Was Juliette van Haren daran vorführt, ist die Trockenübung eines Kaiserschnitts, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat. Mittels einer einfallsreichen Kombination aus einem Zwei-Ring-Wundspreizer und einem Plastictunnel zur Gebärmutter befördert sie den Fötus in den durchsichtigen Transferbeutel. Dabei greift sie in den darin eingearbeiteten Handschuh und holt die verblüffend echt aussehende Silikonnachbildung aus dem Kunststoffuterus. Auf diese Weise würde ein zu früh geborener Säugling kein einziges Mal aus dem Fruchtwasser auftauchen (Abb. 1).
Abb. 1: Der «nasse» Kaiserschnitt: Damit der Fötus nicht zu atmen beginnt, muss er während der Geburt ständig unter Wasser bleiben.
Juliette van Haren ist Doktorandin an der Abteilung für Industriedesign. Wenn sie ihren Freunden erzählt, dass sie Föten aus Silikon baut und einen Ablaufplan für den neuartigen Kaiserschnitt entwickelt, finden sie das seltsam. „Was ich mache, ist nicht stereotypes Industriedesign“, sagt van Haren und zeigt auf die Entwürfe von Küchengeräten, die auf einem Tisch an der Wand stehen. Für ihre Doktorarbeit suchte sie nach einer Kombination aus Biomedizin und Industriedesign. Dabei landete sie bei ihrem Doktorvater Frank Delbressine, der sich mit Simulationen in der Medizin beschäftigt. Er entwickelte zum Beispiel Puppen von Frühgeborenen, an deren fragilen Körpern Geburtshelfer Wiederbelebungsmaßnahmen trainieren können. Diese Expertise führte ihn 2019 zum EU-Projekt „Perinatal Life Support“ aus dem Horizon-2020-Programm, an dem Hochschulen in Eindhoven, Aachen und Mailand beteiligt sind. Für viele der Ingenieure, Wissenschaftler und Designerinnen dort dürfte es das kühnste Vorhaben sein, an dem sie je gearbeitet haben: die künstliche Gebärmutter.
Unter diesem Namen wurde das Projekt jedenfalls 2019 angekündigt, und so steht es immer noch auf der Website der Universität Eindhoven. Doch inzwischen hat man sich in der Forschergemeinschaft auf einen neuen Namen geeinigt. Wie der heißt, kann der Projektkoordinator, der Physiker Frans van de Vosse, allerdings erst nach einer kleinen Diskussion mit seinen Mitarbeitern ermitteln: Artificial Amnion and Placenta Technology (AAPT). Normalerweise gibt es keinen Anlass, eine griffige Bezeichnung durch fünfzehn Silben zu ersetzen, an die sich niemand erinnern kann. Doch der Begriff „künstliche Gebärmutter“ wecke einfach zu viele falsche Vorstellungen, sagt van de Vosse.
Das hat unter anderem mit einem berühmten Buch aus dem Jahr 1932 zu tun. In „Schöne neue Welt“ erzählt der englische Schriftsteller Aldous Huxley von einer Gesellschaft im Jahr 2540, die sich von der „Ekelhaftigkeit und Verwerflichkeit“ des Kindergebärens losgesagt hat und ihren Nachwuchs in Brutöfen züchtet.
Die Befreiung von der Tyrannei der Fortpflanzungsbiologie
Das vollständige Heranwachsen eines Organismus außerhalb des Körpers, in dem er normalerweise reift, wird komplette Ektogenese genannt. Sie tauchte in den vergangenen hundert Jahren immer wieder in verwegenen Zukunftsvorstellungen und ethischen Gedankenexperimenten auf. Schon der britische Wissenschaftler J. B. S. Haldane, der die Bezeichnung erfunden hat, sinnierte in den 1920er Jahren über eine Zukunft im Jahr 2074, in der weniger als 30 Prozent der Kinder von einer Frau geboren würden.
In den 1970er Jahren schrieb die Feministin Shulamith Firestone, eine künstliche Gebärmutter würde „die Frauen von der Tyrannei ihrer Fortpflanzungsbiologie“ befreien. Und die Philosophin Anna Smajdor vertrat kürzlich die Meinung, es gebe „eine moralische Verpflichtung zur Ektogenese“. 2020 zitierte sie der „Guardian“: „Eine Schwangerschaft ist barbarisch. Wenn es irgendeine Krankheit gäbe, die die gleichen Probleme verursachte, würden wir sie als sehr schlimm einstufen.“
Dass das Thema einen Nerv trifft, wurde einmal mehr im Dezember 2022 klar. Da veröffentlichte der Produzent Hashem Al-Ghaili auf seinem populären Wissenschafts-Youtube-Kanal einen Clip über die Firma EctoLife, „die weltweit erste Einrichtung für künstliche Gebärmütter“. Der neun Minuten lange Videoclip stellt EctoLife als Möglichkeit für unfruchtbare Paare vor, Kinder zu bekommen und „Ländern zu helfen, die unter einem starken Bevölkerungsrückgang leiden“. In 75 hervorragend ausgestatteten Labors stünden je bis zu 400 künstliche Gebärmütter. Darin könne EctoLife „bis zu 30000 im Labor gezeugte Babys pro Jahr ausbrüten“. Obwohl das Video vor allem aus computeranimierten Bildern besteht, glaubten einige von Al-Ghailis 33 Millionen Facebook-Followern, das Unternehmen gebe es wirklich. Die Schlagzeile „Firma entwickelt die erste künstliche Gebärmutter der Welt“ schaffte es sogar auf die Website des „Blicks“. Doch sie existiert nur im Kopf von Al-Ghaili.
Der Begriff „künstliche Gebärmutter“ weckt viele falsche Vorstellungen.
Auch die Forscher in Eindhoven wurden um einen Kommentar zu EctoLife gebeten und stellten einmal mehr klar, dass ihre Arbeit nichts mit der Science-Fiction-Idee zu tun habe, Kinder von der Zeugung bis zur Geburt im Labor wachsen zu lassen. Frans van de Vosse seufzt, als das Video von Hashem Al-Ghaili zur Sprache kommt. Es ist ihm unangenehm, mit der kompletten Ektogenese in Verbindung gebracht zu werden. Das Ziel des EU-Projekts bestehe viel mehr darin, ein ernstes Problem der Frühgeborenenmedizin zu lösen.
Normalerweise kommt ein Kind nach etwa 40 Schwangerschaftswochen zur Welt. Erfolgt eine Geburt vor der 37. Woche, spricht man von einer Frühgeburt. Für die meisten Kinder, die zwischen Woche 28 und Woche 37 geboren werden, bleibt ihre vorzeitige Ankunft folgenlos.
Vor Woche 28 sind die Organe für das Leben außerhalb der Gebärmutter oft noch nicht reif. Vor allem die Lunge kann schwere Schäden davontragen, wenn sie zu früh mit Luft in Kontakt kommt. Selbst ein traditioneller Brutkasten, der das Baby warmhält und vor Keimen schützt, ist in dieser Situation eine feindliche Umgebung. Laut der Weltgesundheitsorganisation kommen 0,4 Prozent der Kinder vor Woche 28 zur Welt. Viele dieser extremen Frühchen sterben oder überleben mit schweren Behinderungen.
Abb. 2: Prototyp der flüssigkeitsgefüllten Kammer („künstliche Gebärmutter“) an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule: Ein Frühchen soll maximal vier Wochen darin verbringen. Eine künstliche Plazenta versorgt es mit Sauerstoff und Nahrung.
Abb. 3: Unterwasser-Brutkasten: In der weissen Wanne mit Fruchtwasser käme das frühgeborene Kind in einer dehnbaren Silikonhülle zu liegen. Das umgebende Wasser hält die Temperatur stabil..
Vor Woche 21 hat noch kein Fötus überlebt
Das „Tiniest Babies“-Register der University of Iowa führt eine Liste mit den kleinsten Säuglingen der Welt, die ihre zu frühe Geburt überlebt haben. Vor Woche 21 gibt es keine Einträge, und auch in der Woche 21 sind es bloß drei, keines schwerer als eine Aubergine. Eine Frühgeburt zwischen Woche 21 und Woche 28 verlangt schwere Entscheidungen. Messbare Größen wie die Dauer der Schwangerschaft oder das Gewicht des Fötus geben zwar Hinweise auf die Überlebenschancen eines Kindes, können aber nie genau voraussagen, ob es dereinst ein normales Leben wird führen können.
Medizinisches Personal und Eltern müssen damit leben, dass sie möglicherweise ein lebensfähiges Baby sterben lassen oder ein Baby mit belastenden Maßnahmen zu retten versuchen, das später dann doch stirbt. Die genauen Regeln, was zwischen Woche 22 und 28 zu tun ist, unterscheiden sich von Land zu Land. Doch überall gibt es dieses Zeitfenster, in dem ein großer Teil der Kinder stirbt oder bleibende Schäden davonträgt. Die bisherigen Maßnahmen wie der Aufenthalt in einem Brutkasten und geeignete Medikamente haben zwar erstaunliche Erfolge gebracht, doch in den vergangenen zehn Jahren gab es kaum noch Fortschritte. Es war Zeit für eine neue Idee, die eigentlich schon ziemlich alt ist. Das erste Patent für einen „künstlichen Uterus […] zur Unterstützung eines zu früh geborenen Fötus“ wurde am 22. Juli 1954 beim Patentamt der Vereinigten Staaten eingereicht. Schon damals war klar, dass es für extrem früh Geborene günstig wäre, noch einige Zeit im Fruchtwasser zu verbringen und über die Nabelschnur mit Sauerstoff und Nahrung versorgt zu werden. Dass das Patent gerade zu jener Zeit beantragt wurde, war kein Zufall.
In den frühen 1950er Jahren führten Chirurgen die ersten Operationen unter Zuhilfenahme von Herz-Lungen-Maschinen durch: Geräte außerhalb des Körpers, die bei schwierigen Eingriffen Herz und Lunge ersetzen, indem sie Blut pumpen und es mit Sauerstoff anreichern. Ein ähnlicher Apparat tauchte im Patent zur Versorgung des Fötus auf. Doch obwohl die Idee bestechend war, blieb der Erfolg aus. Die Umsetzung war technisch zu anspruchsvoll. Zudem gelang es, Frühgeborenen mit weniger exotischen Maßnahmen zu helfen. Erst in den 1980er Jahren wurde wieder intensiver daran geforscht. 1992 gab der japanische Gynäkologe Yoshinori Kuwabara an einem Kongress in Montréal bekannt, er habe einen Ziegenfötus 17 Tage in einer künstlichen Gebärmutter am Leben erhalten.
Abb. 4: So entwickelt sich der Fötus Woche für Woche
Lammföten im Plastiksack
Im Publikum saß damals auch ein junger Gynäkologe aus Holland. „Ich kann mich erinnern, wie es still wurde im Saal“, sagt Guid Oei, der das EU-Projekt in Eindhoven 2019 – 27 Jahre später – anstieß und es heute gemeinsam mit Frans van de Vosse koordiniert. Oei arbeitet seit 1996 am Máxima Medical Center in Eindhoven, das spezialisiert ist auf extreme Frühgeburten. „Diese Arbeit konfrontierte mich mit den Grenzen der gegenwärtigen Methoden“, sagt Oei. 2017 hielt er schließlich die Zeit für gekommen und initiierte das EU-Projekt.
Im gleichen Jahr gingen Bilder von Lammföten in einem Plasticsack um die Welt. Die Lämmer im sogenannten Biobag kamen aus dem Children’s Hospital in Philadelphia. Dem Kinderchirurgen Alan Flake war es dort gelungen, die frühgeborenen Tiere über vier Wochen in einem mit Flüssigkeit gefüllten Biobag zu versorgen. Als er sie danach untersuchte, unterschied sich ihre Entwicklung kaum von Lämmern, die diese Zeit im Uterus ihrer Mutter verbracht hatten.
Seit Alan Flake gezeigt hat, dass die künstliche Gebärmutter für ein Lamm funktionieren kann, sind fast sechs Jahre vergangen. Es gibt Gerüchte, wonach er bei der amerikanischen Gesundheitsbehörde eine Zulassung für den ersten Versuch an Menschen beantragt oder sie sogar schon erhalten habe. Eine diesbezügliche Anfrage lässt Flake unbeantwortet.
„Wir wollen nicht die ersten sein, aber wir wollen die besten sein“, sagt Frans van de Vosse. Das Ziel des EU-Projekts sei nicht, den ersten Versuch am Menschen durchzuführen, sondern dereinst das beste praxistaugliche System anzubieten – samt realistischem Training für die Mediziner. „Die größte Herausforderung wird die Umsetzung in die klinische Praxis sein“, sagt auch Guid Oei. Das Ziel bleibt, Kindern, die zwischen Woche 24 und Woche 28 geboren werden, Zeit zu verschaffen. Und das beginnt mit dem nassen Kaiserschnitt im Sitzungszimmer 6.113.
Das elaborierte Verfahren hat ein Hauptziel: Beim Baby darf auf keinen Fall der Atemreflex einsetzen, wenn es den Uterus der Mutter verlässt. Alan Flake hat seinen Lämmern zu diesem Zweck Medikamente verabreicht. „Dieses Vorgehen fanden wir für Säuglinge kaum akzeptabel“, sagt van de Vosse.
Die zwei wichtigsten Faktoren, die den Atemreflex auslösen, sind der Kontakt der Lunge mit Luft und die Temperaturveränderung bei der Geburt. Beides wird beim Kaiserschnitt mit dem Plastictunnel, bei dem das Baby sozusagen aus der Gebärmutter in den Transferbeutel schwimmt, unter Kontrolle gehalten. Um diese Technik zu entwickeln, hat Juliette van Haren Silikonföten mit Sensoren entwickelt, die Alarm schlagen, wenn während einer simulierten Geburt Wasser in die Atemwege dringt.
Dieses Vorgehen nennt sich „Research by Design“: entwerfen, testen, verbessern. Immer wieder, bis das Verfahren perfekt ist. Im Sitzungszimmer liegen Föten in verschiedenen Größen und Ausführungen auf dem Tisch. Ein Baby hat den Feuchtigkeitssensor eingebaut, ein anderes verfärbt sich blau, wenn es zu wenig Sauerstoff bekommt, das dritte kann sich bewegen. Die Geburtshelfer sollen bei den Tests eine möglichst realistische Simulation erleben. Nur dann können sie zurückmelden, was verbessert werden muss.
Ein Problem zeigte sich schon bald: Wenn der Prompt-Flex-Geburtssimulator, wie bei einem herkömmlichen Kaiserschnitt üblich, auf dem Rücken lag und der Transferbeutel über den Plastictunnel angeschlossen wurde, kippte das ganze künstliche Fruchtwasser im Transferbeutel in die Gebärmutter. Einer Frau würde so der Bauch mit Wasser gefüllt. Die Lösung des Problems war bestechend einfach: Nachdem die Gebärmutter geöffnet und der Plastictunnel gelegt ist, wird der Operationstisch mit der Mutter geneigt, damit Plastictunnel und Transferbeutel einigermaßen waagrecht zu liegen kommen.
Der Anschluss an die künstliche Plazenta ist ein heikler Moment
Ob das bei einer Frau wirklich funktioniert, muss sich allerdings noch weisen. Eine andere Korrektur wird eben vorgenommen: Bisher hatte der Transferbeutel einen eingearbeiteten Handschuh, in den eine Ärztin greifen konnte, um den Fötus aus der Gebärmutter zu holen. In einer neuen Version werden es zwei Handschuhe sein, damit sie mit beiden Händen arbeiten kann. Der heikelste Moment des Transfers ist, den Säugling an die künstliche Plazenta anzuschließen. An diesem Problem arbeiten Wissenschaftler von der Uniklinik der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. Dort wird auch die künstliche Plazenta entwickelt und die flüssigkeitsgefüllte Kammer, in der das Baby die Zeit bis Woche 28 verbringen soll.
Normalerweise wird ein Kind in der Gebärmutter von seiner Mutter mit Sauerstoff und Nahrung versorgt. Zwei Arterien in der Nabelschnur leiten das Blut in die Plazenta, eine Vene bringt es zurück. Die Plazenta tauscht das Kohlendioxid im Blut des Fötus gegen Sauerstoff aus – übernimmt also die Funktion der Lunge – und versorgt es mit Nährstoffen. Diese Aufgabe soll nun die künstliche Plazenta übernehmen.
Der Plan ist, die Nabelschnur nach dem Übergang des Säuglings in den Transferbeutel nicht sofort zu durchtrennen, sondern zügig zu kanülieren. Das heißt, wie bei einer Infusion dünne Schläuche in die drei Adern der Nabelschnur zu legen, die dann zur künstlichen Plazenta führen. Erst dann würde die Nabelschnur abgetrennt und das Baby in die künstliche Gebärmutter befördert.
Für den Säugling sollte sich durch diese Prozedur, bei der später sechs Spezialisten am OP-Tisch stehen, nur wenig ändern. Er würde immer noch in Fruchtwasser schweben und über die Nabelschnur mit Sauerstoff und Nahrung versorgt. Dass der Sauerstoff aus einem Zweikammeroxygenator stammt und das Fruchtwasser Amnion Flush Solution für 309 Euro 99 pro Liter im Internet bestellt wurde, spürt der Säugling im besten Fall gar nicht. Alles sollte sich anfühlen wie im Bauch der Mutter. Für ein paar Wochen zumindest, bis das Baby mit 28 Wochen zum zweiten Mal geboren wird – oder ist es das erste Mal?
Ein nasser Kaiserschnitt hat eine überraschende Konsequenz: Obwohl der Säugling nun getrennt von der Mutter in einem mit künstlichem Fruchtwasser gefüllten Inkubator weiterlebt, wurde er in einem gewissen Sinn gar nicht geboren. Der sagenumwobene erste Atemzug, mit dem schon Gott den Menschen zum Leben erweckte, findet bei diesem Transfer nicht statt. Eine Ethikerin hat bereits einen Namen für diesen neuen Aggregatzustand der Entwicklung vorgeschlagen: Ein Gestateling ist ein Fötus, der sich nicht mehr im Mutterleib befindet, aber immer noch über die Nabelschnur versorgt wird.
Abb. 5: Die künstliche Gebärmutter
Eine Unterwasserwiege soll dem Fötus Zeit verschaffen
Im Inkubator, der die Rolle der Gebärmutter übernimmt, herrschen 37 Grad. Er sieht aus wie ein Aquarium, in dem eine Wanne liegt. Dem Neonatologen Mark Schoberer ist es fast ein wenig unangenehm, den Prototyp zu zeigen. „Es ist uns schon bewusst, dass das Design von außen einen ziemlichen Horror erzeugt und den Ansprüchen der Eltern nicht gerecht wird.“ Doch diesen Apparat werden die Eltern nie zu Gesicht bekommen. In Eindhoven gibt es schon Entwürfe für ein freundliches Design: eine Art Unterwasserwiege aus einer ovalen Kunststoffwanne, die beweglich auf einem geschwungenen Fuß gelagert ist. Alles in heiteren Blautönen.
Die Schale im Prototyp ist mit Fruchtwasser gefüllt. Darin würde der Fötus in einer Silikonhülle schwimmen. Sie ist dehnbar, weil das Kind Widerstand braucht, um seine Muskeln zu trainieren, und weil die Hülle mit ihm wachsen muss: Zwischen Woche 24 und Woche 28 verdoppelt es sein Gewicht fast. Auch die Menge des Sauerstoffs und der Nährstoffe muss in dieser Zeit entsprechend angepasst werden können.
Beim Versuch, den Gesundheitszustand des Fötus zu überwachen, gibt es ein offensichtliches Problem: Er schwimmt im Fruchtwasser und kann weder berührt werden, noch ist er sonst direkt zugänglich. Einzig sein Blut, das durch die externe Plazenta fließt, verlässt über die Nabelschnur die Hülle mit dem Fruchtwasser. Deshalb wird versucht, die Verfassung des Säuglings, aus Puls, Blutdruck, Sauerstoffsättigung und anderen Blutwerten zu lesen.
Dabei soll auch der digitale Zwilling Arielle helfen. Arielle ist eine mathematische Nachbildung bestimmter Körperfunktionen des Fötus. Sie erlaubt Computersimulationen des Systems und soll später bei der Überwachung der Körperfunktionen zum Einsatz kommen. Um mehr über den Blutkreislauf von Föten zu erfahren, hat Noëlle Gerards, eine Studentin von Frans van de Vosse, ihn vereinfacht nachgebaut.
Man braucht viel Phantasie, um sich unter dem Aufbau aus einer Pumpe, einem Schlauch, zwei Ventilen und einigen Klemmen einen Säugling vorzustellen. Doch wichtig ist bloß, dass er die Physiologie korrekt simuliert „aus einer Ingenieursperspektive“, wie van de Vosse es nennt. „Die Attrappe erlaubt uns, Experimente zu machen, was mit einem Baby nicht möglich wäre“, sagt Noëlle Gerards, bevor sie das Herz einschaltet. Die Pumpe klingt wie eine kleine Dampfmaschine, doch wer der Maschine den Puls tastet, fühlt einen irritierend lebensnahen Herzschlag am Schlauch – 140 Mal pro Minute.
Bei 37 Grad fühlen sich nicht nur die Föten am wohlsten, sondern auch die Keime im Fruchtwasser. Kinderchirurg Alan Flake hat seine Lämmer deshalb kontinuierlich mit frischem Fruchtwasser umspült. Das kann sich Schoberer im klinischen Alltag schlecht vorstellen. „Es wären Hunderte Liter nötig, die da während einer Behandlung durch den Inkubator gepumpt werden müssten.“ Er hofft, dass sich das Fruchtwasser regenerieren und desinfizieren lässt. Die Gefahr von Infektionen und Blutgerinnseln, die Verbindung mit der künstlichen Plazenta und der Transfer des Säuglings in den Inkubator, die Anpassung an einen wachsenden Organismus und die Überwachung seiner Körperfunktionen: „In diesem Projekt kann man neue Fragestellungen in großer Zahl identifizieren“, sagt Schoderer nüchtern.
Abb. 6: Silikonföten: Mittels Puppen wird die Geburt unter Wasser und der Aufenthalt im Fruchtwasser getestet und verfeinert.
Eine Direktleitung in den künstlichen Uterus
Eine der Ungewissheiten betrifft die Psychologie: Wie wirken sich die Wochen in einer künstlichen Gebärmutter auf die Bindung des Kindes zur Mutter aus oder überhaupt auf die psychische Entwicklung? Denn selbst wenn alles getan wird, um eine natürliche Gebärmutter zu simulieren, das Erleben im Körper der Mutter kann in seiner Vielfalt kaum überzeugend vorgetäuscht werden.
Das Aufstehen am Morgen, die Bewegungen beim Gehen, die Nährstoffe im Blut nach einem Teller Pasta, der Klang der Stimme, das Licht, das durch die Bauchdecke schimmert: Das Leben eines Fötus besteht aus mehr als der richtigen Menge Sauerstoff im Blut und der korrekten chemischen Zusammensetzung des Fruchtwassers. Smartphone und virtuelle Realität bieten Möglichkeiten, wie Mutter oder andere Angehörige mit dem Gestateling in Verbindung bleiben könnten. In Eindhoven haben zwei Studenten bereits ein Womb-Phone entwickelt, das Geräusche in die künstliche Gebärmutter schickt. Damit könnten die Mutter und der Vater zu ihrem Kind sprechen oder ihm vorsingen.
Der Zeitplan des EU-Projekts sieht vor, dass der Prototyp im nächsten Jahr fertiggestellt ist. 2026 wird die Technik überprüft, und die präklinischen Tests beginnen. 2028 müssen die ethischen Richtlinien ausgehandelt sein, und 2030 soll der Inkubator 2.0 – noch ein neuer Name – erstmals im Krankenhaus zum Einsatz kommen. Ob das so tatsächlich klappt, hängt von vielen Unwägbarkeiten ab. „Alles, was man im ersten Moment für einfach hält, entpuppt sich als komplex. Niemals andersherum“, sagt Industriedesigner Frank Delbressine. Andererseits scheint es im Moment keine technisch unüberwindbaren Schwierigkeiten zu geben. Auch wenn es noch etwas länger dauern sollte als bis 2030, der nasse Brutkasten werde kommen. „Wenn nicht hier, dann woanders“, sagt Frans van de Vosse voraus.
Abb. 7a,b: Um mehr über den Blutkreislauf von Frühgeborenen zu erfahren, simuliert man ihn mit einer Pumpe und Schläuchen
Was bedeutet die künstliche Gebärmutter für die Abtreibung?
„Unser Ziel mit der künstlichen Gebärmutter ist es, extrem früh geborenen Babys zu helfen, die kritische Zeit von Woche 24 bis Woche 28 zu überstehen“, sagte Guid Oei im Oktober 2019, als die EU 2,9 Millionen Euro für die folgenden fünf Jahre sprach. Er glaubt, die künstliche Gebärmutter könne die Sterblichkeit durch Frühgeburten in dieser Phase „möglicherweise vollständig verhindern“.
Zurzeit sterben etwa die Hälfte aller Säuglinge, die in Woche 24 geboren werden. Eine künstliche Gebärmutter würde etwas von der Last der Entscheidung von den Schultern der Eltern und des medizinischen Personals nehmen. Das Projekt soll unnötiges Sterben und ein Leben mit schweren Behinderungen vermeiden helfen. Laut Joanne Verweij, die das Projekt ethisch begleitet, begrüßen auch heute erwachsene Frühgeborene, die an Spätfolgen leiden, diese Entwicklung. Die Forscher betonen immer wieder, ihr Ziel sei nicht, die Altersgrenze der Lebensfähigkeit zu senken. Doch so wie die Krebsforschung die Lebenserwartung steigert, wird die Forschung an der künstlichen Gebärmutter für Frühgeborene das Alter der Lebensfähigkeit senken, selbst, wenn das nicht ihr Ziel ist.
Wenn die Tests an „gerade noch lebensfähigen“ menschlichen Frühgeburten erfolgreich seien, werde die Technologie wahrscheinlich auch jenseits der derzeitigen Schwelle der Lebensfähigkeit eingesetzt werden, schreibt die Ethikerin Elizabeth Chloe Romanis: „Klinikpersonal und Eltern haben ein Interesse daran, die Technik zu nutzen, um die Frühgeburten nur knapp unter dem Schwellenwert am Leben zu erhalten.“ So wird die Zeit der schwierigen Entscheidungen und damit wohl auch der Fokus der Forschung weiter vorverlegt werden, wie das früher mit den Brutkästen und Medikamenten für Frühgeborene geschah. Es liegt im Wesen der Medizin, dass sie dort aktiv wird, wo Menschen leiden oder sterben. Nachdem Infektionskrankheiten in westlichen Industrienationen weitgehend besiegt worden sind, wird heute gegen Krebs und Herzkrankheiten gekämpft. Dass sich dieser typische Vorgang im Fall der künstlichen Gebärmutter am Anfang des Lebens abspielt, hat allerdings weitreichende Folgen.
Eine davon betrifft die Abtreibung. Es ist kein Zufall, dass das EU-Projekt die untere Altersgrenze ihrer Zielgruppe bei 24 Wochen ansetzte. Denn in Holland kann ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden, bis „der Fötus außerhalb des Körpers der Mutter lebensfähig ist“. Und damit sei in der Regel die 24. Schwangerschaftswoche gemeint, heißt es auf der Website der Regierung.
Doch was geschieht, wenn eine künstliche Gebärmutter das Alter der Lebensfähigkeit deutlich senkt? Muss dann auch die Frist für den Schwangerschaftsabbruch angepasst werden, weil der Fötus jetzt viel früher außerhalb der Mutter überlebt? Bereits wird in Fachzeitschriften die makabre Diskussion geführt, ob das Recht auf Abtreibung auch das Recht auf den Tod des Fötus einschließe. Es wäre ja möglich, dass der Fötus, der aus dem Körper einer Frau entfernt wird, in einer künstlichen Gebärmutter weiterlebt.
Die Feministinnen sind sich uneinig
Falls das Alter der Lebensfähigkeit weiter sinkt, könnte das in einer fernen Zukunft noch eine andere Folge haben: die komplette Ektogenese, von der die Forscher so ungern sprechen; die Entwicklung außerhalb des Körpers der Mutter von der Zeugung bis zur Geburt. Der Beginn der Entwicklung eines Menschen geschieht heute schon bei jeder In-vitro-Befruchtung im Labor. Wie viele Tage ein menschlicher Embryo danach im Reagenzglas am Leben erhalten werden kann, ist unbekannt. In den meisten Ländern muss er nach 14 Tagen eingepflanzt oder vernichtet werden. Doch dem israelischen Entwicklungsbiologen Jacob Hanna gelang es 2021, einen Mausembryo 11 Tage in einer künstlichen Gebärmutter wachsen zu lassen – das ist etwa die Hälfte der Tragzeit einer Maus.
Wie das EU-Projekt verfolgt auch Jacob Hanna in Israel nicht das Ziel, eine komplette künstliche Gebärmutter für Menschen zu entwickeln. Seine Forschung soll vielmehr zeigen, wie sich aus einem befruchteten Ei ein Körper samt Organen bildet. Eine Anwendung könnte sein, dereinst passende Organe für Menschen zu züchten, die heute auf eine Spende angewiesen sind. Einerseits gibt es immer jüngere Frühgeburten, die überleben, andererseits immer ältere Embryonen, die sich außerhalb des Körpers aus befruchteten Eiern entwickelten. Wenn der älteste Embryo auf die jüngste Frühgeburt trifft, ist die künstliche Gebärmutter erfunden, ohne dass jemand explizit dieses Ziel verfolgt hätte. Der Philosoph Peter Singer prophezeite schon 2006, dass die komplette künstliche Gebärmutter „per Zufall“ geschaffen werden würde.
In naher Zukunft wird das nicht geschehen. Viele Probleme sind noch nicht einmal im Ansatz gelöst. Trotzdem fasziniert die Menschen der Gedanke an eine vollständige Entwicklung außerhalb einer Mutter. Hashem Al-Ghailis Video über die künstliche Gebärmutter seiner erfundenen Firma EctoLife wurde 2,3 Millionen Mal angeschaut und von über 14000 Benutzern kommentiert – meistens negativ. Doch auch der Zeugung im Reagenzglas standen die Menschen anfangs kritisch gegenüber. Die Boulevardpresse nannte das erste Retortenbaby 1978 in Anlehnung an Frankenstein „Frankenbaby“, die katholische Kirche hielt seine Zeugung für das „Werk des Teufels“. Heute ist jedes vierzigste Kind, das in der Schweiz zur Welt kommt, im Labor gezeugt worden.
Auch gegen das EU-Projekt regte sich Widerstand. Eine Unterschriftensammlung auf der Website openPetition verlief zwar im Sand, aber die Bedenken, die dabei aus feministischer Sicht geäußert wurden, sind typisch. Es sei ein Menschenrecht, „von einer Mutter ausgetragen und geboren zu werden“, und wir sollten uns gegen „die Technisierung der Geburt entscheiden“. Allerdings herrscht keine Einigkeit unter Feministinnen. Die englische Schriftstellerin Helen Sedgwick, die den feministischen Science-Fiction-Roman „The Growing Season“ über eine portable künstliche Gebärmutter geschrieben hat, sagte kürzlich auf BBC, sie würde die Erfindung begrüßen: „Tragen Sie mich in die Warteliste ein.“
Die Erfahrung zeigt: Ob sich ein Verfahren durchsetzt, hängt oft nicht von unserem ersten Bauchgefühl ab, sondern davon, ob es eine Nachfrage befriedigt. Und woher diese Nachfrage bei der kompletten künstlichen Gebärmutter käme, ist leicht auszumachen: von jenen Menschen, die heute eine Leihmutter engagieren, weil sie ihr Kind nicht selber austragen können oder wollen. Auch daran haben wir uns gewöhnt. Wenn uns die Geschichte der Fortpflanzungsmedizin etwas lehrt, dann dies: Ihr Fortschritt wird nicht von verrückten Diktatoren oder größenwahnsinnigen Wissenschaftlern angetrieben, sondern von Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein eigenes Kind.
Reto U. Schneider
Journalist
Stellvertretender Redaktionsleiter
NZZ Folio
Neue Züricher Zeitung
Ani Kehayova
Fotografin, Rotterdam
Anja Lemcke
Visuelle Journalistin
Ressort Visuals der NZZ
Schneider RU: Operation Fruchtwasser. Passion Chirurgie. 2024 Mai; 14(05): Artikel 09.
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