Zurück zur Übersicht

Vorwort – Das erschlagende Primat der Ökonomie

Seit Jahrzehnten wird die Medizin von Fragen der Ökonomie dominiert. Die Vorherrschaft der Finanzen diskreditiert medizinischen und technischen Fortschritt zu illustren Blumen am Wegesrand, Barmherzigkeit und Empathie bilden ein zu teures Luxusgut und essentielle Zukunftsfragen kommender Generationen verkümmern im Schatten alles überstrahlender Effizienz. Geld regiert schon seit Langem auch die Welt der Gesundheit.

Neben den groben Mängeln in Ethik und Zukunftsplanung ist der frappierende technische Fehler dieser Entwicklung wahrscheinlich die monothematische Ausrichtung von Diskussion und Entscheidungsfindung. Während man allgemein wohl für jedes komplexe System eine vielseitige Analyse als Grundlage von Entwicklungsprozessen fordern würde, wird diese Grundannahme in vielen Debatten um die Fortentwicklung des Gesundheitssystems konsequent ausgeblendet. Nun ist die Suche nach der einfachen Wahrheit, nach der einzigen Lösung, sicher ein klassisches menschliches Defizit. Das „Führerprinzip“, dass all überall auf der Welt gerade wie ein dämonischer Wiedergänger aufploppt, ist dafür ein beredtes Beispiel. Wir wollen nicht komplex denken. Doch nur die multivariate Analyse ist geeignet, langfristig tragfähige Konstrukte zu erreichen, die nicht von der einen, in die nächste Krise stürzen.

Auch der neue AOP-Katalog ist ein solches Beispiel, ordnet er sich doch nur der Kostenbegrenzung unter, ohne wichtige Fragen der Patientensicherheit, Systemvoraussetzungen, Baustrukturen oder der zukunftssichernden Weiterbildung überhaupt nur in Betracht zu ziehen. Kein Wunder, wenn die Ratgeber und Auguren der Reform aus praxisfernem Metier bezogen werden. Umso wichtiger sind die Stimmen aus der Ärzteschaft – hier am Beispiel der Hernienchirurgie, denn nur sie können den wichtigen Bezug zur Realität wiederherstellen. So, let’s get loud. Sonst landen wir bei Faust. Und der war nicht erfolgreich.

Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach, wir Armen!

Prof. Dr. med. C. J. Krones

und      

Prof. Dr. med. D. Vallböhmer

Die Operation der Leistenhernie stellt mit ca. 300.000 Eingriffen jährlich in der D-A-CH-Region (Deutschland, Österreich und Schweiz) die häufigste Operation überhaupt dar. Nun soll sie nach politischem Willen möglichst ambulant erfolgen. Man erhofft sich dadurch signifikante Einsparungseffekte, die durch die Vermeidung der kostenintensiven stationären Behandlung erzielt werden sollen.

In der DACH-Region ist der Anteil ambulant operierter Leistenhernien seit vielen Jahren unverändert gering, es zeichnet sich sogar ein abnehmender Trend ab. In einer kürzlich publizierten Analyse von 340.000 Leistenhernien-Operationen aus dem Herniamed-Register nahm der Anteil ambulant operierter Leistenhernien im Zeitraum von 2013 bis 2019 von zwanzig auf vierzehn Prozent ab. Die Entwicklung in der DACH-Region steht den Trends anderer Länder und den politischen Forderungen somit diametral entgegen.

Beispiel Deutschland

In Deutschland werden pro Jahr ca. 250.000 Leistenhernien operiert. Ob eine Leistenhernie ambulant versorgt werden kann oder nicht, wird durch die Kriterien des G-AEP (German-Appropriateness Evaluation Protocol) und den AOP-Katalog (Katalog ambulant durchführbarer Operationen) festgelegt. Darin sind z. B. Schwere der Erkrankung, Aspekte der Operation und Komorbiditäten definiert, die eine ambulante Operation erlauben bzw. ausschließen. Die organisatorischen Voraussetzungen für ambulantes Operieren inklusive der Qualitätssicherungsmaßnahmen sind im Sozialgesetzbuch (SGB) geregelt.

Die Vergütung der ambulanten Hernien-Operation ist durch den „Einheitlichen Bewertungsmaßstab“ (EBM) für ärztliche Leistungen geregelt. Dieser ist jedoch bei der Leistenhernie hochgradig defizitär. So beträgt zum Beispiel die Vergütung für die Versorgung einer einseitigen Leistenhernie im ambulanten Bereich nur 25 Prozent der Vergütung einer stationären Versorgung.

Bei den Bestrebungen nach Ambulantisierung der Hernienoperationen fehlt die Berücksichtigung der bekannten Risikofaktoren: Ein kürzlich in Deutschland publiziertes Gutachten mit dem Auftrag, eine „möglichst umfassende Ambulantisierung“ zu begründen (IGES Gutachten), hat für Aufsehen gesorgt, denn es enthält aus hernienchirurgischer Sicht mehrere diskussionswürdige Aspekte. Das Gutachten hält zum Beispiel als höchstes Ziel fest, dass die Patientensicherheit rund um die Operation gegeben sein muss. Zitat aus dem Gutachen: „Würde hingegen eine substanzielle Erweiterung des AOP-Kataloges auf einer stärker generalisierenden Einstufung von Leistungen basieren, bestünde ein höheres Risiko der Gefährdung von Patientensicherheit.“

Gefährdung der chirurgischen Weiterbildung

Die Leistenhernien-Operation ist ein klassischer Ausbildungseingriff. Aufgrund des aktuell unvermeidlichen Defizits bei ambulanter Chirurgie sind nun immer mehr Krankenhäuser dazu übergegangen, die ambulante Leistenhernien-Operationen zu einem großen Teil nur noch durch erfahrene Operateure (in Deutschland geforderter Facharztstatus bei ambulanten Operationen) und oft ohne Assistenten durchführen zu lassen. Damit soll durch kürzere Operationszeiten und schnelleres „Durchschleusen“ der Patienten das finanzielle Defizit etwas abgemildert werden. Die Ausbildung des chirurgischen Nachwuchses wird dadurch erheblich erschwert.

Was können wir aus anderen Ländern lernen?

Im Gegensatz zur DACH-Region ist die ambulante Leistenhernien-Chirurgie in vielen anderen Ländern der westlichen Welt etablierter Standard. Die hohe Akzeptanz in den „Erfolgsländern“ erklärt sich dadurch, dass ambulantes Operieren in fast allen „Erfolgsländern“ mindestens genauso gut vergütet wird wie eine stationäre Operation. Der globale Einsparungseffekt wird dann durch die Optimierung des Managements und die Schonung der teuren stationären Infrastruktur erreicht und nicht mit der Unterfinanzierung der eigentlichen Leistungserbringung.

Forderung

Oberstes Ziel einer jeden Operation ist die Aufrechterhaltung der Patientensicherheit. Die Zuteilung von Patientinnen und Patienten zu den einzelnen Versorgungsstufen (ambulant vs. kurz-stationär vs. stationär) muss daher unabhängig von Vorgaben der Gesetzgeber und wirtschaftlichen Aspekten allein auf der Grundlage der Berücksichtigung der Risikofaktoren, intraoperativen Faktoren und sozialen Faktoren wieder die Entscheidung der Chirurgin bzw. des Chirurgen werden. Es muss jederzeit die Möglichkeit des Wechsels der gewählten Versorgungsstufe unter Beachtung des peri- und unmittelbar postoperativen Verlaufs bestehen.

Um eine größere Anzahl von Patientinnen und Patienten ambulant versorgen zu können, ist die flächendeckende Bereitstellung von baulicher, personeller und organisatorischer Infrastruktur erforderlich. Ambulantes Operieren kann aktuell in Deutschland und der Schweiz nicht kostendeckend durchgeführt werden. Eine Gleichstellung der Leistungsvergütung ambulanter und stationärer Operationen ist daher erforderlich.

Siehe die Stellungnahme der Vorstände der Hernien-Gesellschaften aus Österreich (ÖHG), Schweiz (SAHC) und Deutschland (DHG / CAH der DGAV): www.bit.ly/Leistenhernie

Dies ist eine Zusammenfassung des Artikels „Leistenhernienoperationen – immer ambulant?“, ein Artikel der Hernien-Gesellschaften aus Österreich (ÖHG), Schweiz (SAHC) und Deutschland (DHG / CAH der DGAV), publiziert in „Die Chirurgie“ vom Springer-Verlag, veröffentlicht am 14. Februar 2023: www.bit.ly/Leistenhernie

Leistenhernien-Operationen im Visier der Ambulantisierung. Passion Chirurgie. 2023 Juni; 13(06): Artikel 05_03.

Weitere Artikel zum Thema

PASSION CHIRURGIE

Passion Chirurgie: Kongressnachlese 2023

Es ist offiziell Sommer – und damit Zeit für unsere

Passion Chirurgie

Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!

Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.