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Die kindliche Leistenhernie (LH) ist in aller Regel eine indirekte, angeborene Hernie, die aufgrund eines ausbleibenden Verschlusses des Processus vaginalis (PV) am inneren Leistenring entsteht [1]. Intraabdominal gelegene Strukturen können auf diese Weise durch den Leistenkanal bis ins Skrotum bzw. durch den Nuck’schen Kanal bis in die Labien absteigen.

Inzidenz und Präsentationsalter

Die Inzidenz der kindlichen LH ist abhängig vom Gestationsalter bzw. Geburtsgewicht. Etwa 30 Prozent aller Frühgeborenen, die weniger als 1.000 Gramm wiegen, weisen eine LH auf, wohingegen die Inzidenz bei Reifgeborenen bei etwa drei bis fünf Prozent liegt [2].

Geschlechter- und Seitenverteilung

Kindliche LH sind bei Jungen ungefähr vier bis zehn Mal häufiger als bei Mädchen. Bei 60 bis 70 Prozent ist die rechte Seite betroffen, bei 20 bis 25 Prozent die linke und 5 bis 15 Prozent sind beidseitig.

Familiäre Vorbelastung und geografische Verteilung

Obwohl eine höhere familiäre Inzidenz feststellbar ist, scheint diese – im Gegensatz zu Nabelhernien – unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit oder geografischen Region zu sein.

Prädisposition

Kindliche LH können mit verschiedenen weiteren Krankheitsbildern assoziiert sein. Diese sind unter anderem Erkrankungen des Bindegewebes (zum Beispiel Cutis laxa, Ehlers-Danlos-Syndrom, Prune-Belly-Syndrom), aszitische Dekompensation (zum Beispiel ventrikuloperitoneale Shunts, Peritonealdialyse, Chylaszites, Gallengangsatresie), erhöhter intraabdomineller Druck (zum Beispiel nach Bauchdeckenverschluss bei Gastroschisis und Omphalozele, Mukoviszidose) und in Verbindung mit anderen entwicklungsbedingten Phänomenen (zum Beispiel Hodenhochstand) [3].

Embryologie und Pathologie

Sowohl kindliche LH als auch Hydrozelen und Hodenretention sind mit dem Gonadenabstieg und dem darauffolgenden Verschluss des PV vergesellschaftet [4]. Die Keimdrüsen entwickeln sich aus dem Zölomepithel und Urkeimzellen und entstehen auf der Urogenitalfalte an der hinteren Bauchwand. Bis zur sechsten Schwangerschaftswoche (SSW) sind die männlichen und weiblichen Keimdrüsen noch nicht unterscheidbar. Erst in der siebten SSW beginnt die Differenzierung des Hodens, das Gubernaculum erscheint und setzt an der vorderen Bauchwand an der Stelle des zukünftigen Leistenkanals an. Zwischen der achten und 15. SSW wird der Hoden am inneren Leistenring gehalten, während der Mesonephros (Urniere) zu seiner späteren retroperitonealen Position absteigt. In der 12. SSW beginnt sich eine peritoneale Ausstülpung in Richtung des inneren Leistenrings vorzuwölben. Dieses fingerartige Divertikel ist der PV, auf dem der Hoden durch den Leistenkanal gleitet. Zwischen der 12. und 28. SSW verlängert sich der PV durch den Leistenkanal, zugleich verkürzt sich das Gubernaculum und zieht dadurch den Hoden skrotalwärts. Der Hoden erreicht das Skrotum ungefähr zwischen der 36. und 40. SSW und der PV obliteriert sich nach und nach, wodurch die peritoneale Öffnung am inneren Leistenring sukzessive verschlossen wird. Nur der distalste Anteil des PV verbleibt, der den Hoden als Tunica vaginalis umgibt. Eine fehlende Obliteration des PV auf Höhe des inneren Leistenrings wird bei angeborenen LH und Hydrozelen vermutet. Der Verschluss erfolgt rechts früher als links, was im Zusammenhang mit der höheren Inzidenz von rechtseitigen kindlichen LH, Hydrozelen und Hodenhochständen stehen könnte. Bei der Geburt kann bei bis zu 95 Prozent aller männlichen Neugeborenen ein offener PV beobachtet werden. Da die vollständige Obliteration erst nach der Geburt stattfindet, beträgt die Inzidenz eines offenen PV im ersten Lebensjahr 40 Prozent und im zweiten Lebensjahr 20 Prozent [5]. Ein asymptomatisch offener PV ist per se nicht mit einer klinisch manifesten kindlichen LH gleichzusetzen, solange kein Bruchsackinhalt vorliegt. Der genaue Zusammenhang zwischen Obliteration bzw. Verschluss des offenen PV und Entstehung einer kindlichen LH ist jedoch noch nicht vollständig verstanden.

Präsentation und klinische Untersuchung

Die kindliche LH präsentiert sich im Allgemeinen als intermittierende Schwellung in der Leiste, Skrotum oder Labien. Diese wird am deutlichsten sichtbar, wenn das Kind weint, hustet oder Manöver ausführt, die den intraabdominellen Druck erhöhen (wie zum Beispiel Lachen). Ältere Kinder klagen eventuell über einen dumpfen Schmerz in der Leistenregion.

Bei der klinischen Untersuchung zeigt sich unter Umständen eine merkliche Vorwölbung in der Leiste oberhalb und anteromedial des Tuberculum pubicum, häufig jedoch ist die kindliche LH in Ruhe nicht ausgetreten. Provokationsmanöver (wie zum Beispiel Hinstellen, Husten, das Kind zum Lachen bringen oder Hüpfen) können hilfreich sein, um die LH hervorzurufen. Das sogenannte „silk glove sign“ wurde traditionell als Nachweis für eine kindliche LH genutzt: Beim Legen eines Fingers auf den Samenstrang und sanftem Rollen über den Schambeinhügel lässt sich dort eine diskrete Verdickung tasten, vergleichbar mit dem Eindruck, wie wenn man zwei Seidenstücke aneinander reibt. Dieses Zeichen hat eine Sensitivität von 93 Prozent und Spezifität von 97 Prozent für eine LH bei Kindern [6].

Durch die zunehmende Verbreitung von Smartphones sind die Eltern häufig in der Lage, Fotos oder Videos der ausgetretenen LH zu präsentieren. Die körperliche Untersuchung sollte immer auch die Lagekontrolle beider Hoden im Skrotum mit einschließen, da sich ein Leistenhoden ebenfalls als Schwellung in der Leiste zeigen kann. Eine kindliche LH kann sich inkarzerieren, was einen Darmverschluss oder Strangulation (das heißt Unterbrechung der Perfusion) des Bruchsackinhalts (zum Beispiel Ovar) zur Folge haben kann. Klinische Zeichen einer Einklemmung sind eine schmerzhafte, prall elastische Schwellung in der Leiste, die sich trotz leichtem Druck nicht reponieren lässt. Symptome einer Obstruktion wie Erbrechen und abdominale Distension können ebenfalls vorhanden sein. Heftige Schmerzen, länger bestehende Inkarzeration, Fieber, Tachykardie und Erbrechen deuten auf eine stattgehabte Strangulation hin. Leider werden bis zu 50 Prozent der Kleinkinder mit LH mit einer Inkarzerationsepisode vorstellig. Die Einklemmung erfordert eine sofortige Reposition oder unverzügliche Herniotomie, falls Ersteres auch unter Analgosedierung nicht gelingen sollte. In aller Regel lässt sich jedoch die Mehrheit aller LH bei Kindern gut reponieren, falls dies von einem erfahrenen Untersucher durchgeführt wird.

Bruchsackinhalt

Der Herniensack kann unter anderem Dünndarm, Ovar, Omentum, Appendix (Amyand-Hernie), Meckel-Divertikel (Littré-Hernie), Mekonium (grünlich tingierte Verfärbung des Leistenkanals oder Skrotums nach neonataler Darmperforation) oder Schlauchmaterial (ventrikuloperitonealer Shunt oder Peritonealdialyse-Katheter) enthalten. Ein Bruchsack, der zum Beispiel Appendix, Ovar oder Omentum enthält, kann ein Misslingen der manuellen Reposition der LH erklären.

Differenzialdiagnosen

Eine Differenzierung zwischen einer irreponiblen kindlichen LH, einer Hydrozele und einer Hodentorsion kann vor allem bei Kleinkindern schwierig sein. Diese sind oft hungrig, irritabel und weinen viel. Falls die Leistenschwellung bereits mehrere Stunden besteht, macht das einsetzende Ödem zudem die Identifikation anatomischer Leitstrukturen schwieriger.

Normalerweise lässt sich eine Hydrozele dadurch abgrenzen, dass man bei der Palpation der Vorwölbung mit Zeigefinger und Daumen problemlos entlang der Samenstranggebilde in Richtung Abdomen streichen kann (mit Ausnahme einer seltenen abdominoskrotalen Hydrozele). Die Transillumination ist diagnostisch kein hilfreiches Zeichen zur Abgrenzung einer Hydrozele bei Kindern, da eine LH ebenfalls transilluminierbar sein kann.

Eine reponible Leistenschwellung ist in aller Regel hinweisend auf eine LH, sofern der Hoden sich im Skrotum palpieren lässt. Es ist jedoch möglich, einen aus der Bauchhöhle durch den Leistenkanal absteigenden Hoden irrtümlicherweise als LH fehlzuinterpretieren, falls der Hoden nicht separat identifiziert werden kann. Ein Kind mit einer Hodentorsion und verfärbtem, ödematösem Skrotum, das bis in die Leiste reicht, ist rein klinisch kaum von einer inkarzerierten LH unterscheidbar.

Im Zweifelsfall sollte man jedoch durch einen dringlich durchgeführten inguinoskrotalen Ultraschall in der Lage sein, einen Prolaps des Darms in den Bruchsack als echoreiche Struktur im Leistenkanal darzustellen und damit den Verdacht auf eine inkarzerierte LH zu bestätigen. Rein sonografisch lässt sich eine Hydrozele nur schwer von einer Hodentorsion mit reaktiver Hydrozele abgrenzen. Falls der Verdacht auf eine Hodentorsion bestehen sollte, ist daher eine unverzügliche skrotale Exploration indiziert. Durch einen aussagekräftigen Ultraschall sollte man jedoch in der Lage sein, eine inkarzerierte LH von einem akuten Skrotum zu unterscheiden und dadurch das Auffinden von Dünndarm im Skrotum im Rahmen einer unnötigen Hodenfreilegung zu vermeiden.

Die verschiedenen Differenzialdiagnosen für eine Leistenschwellung bei Kindern sind in Tabelle 1 aufgelistet.

Tab. 1: Differenzialdiagnosen einer Leisten- bzw. Skrotalschwellung bei Kindern

Differenzialdiagnosen

Klinische Merkmale

Reponible Leistenschwellung

Reponierbare LH

Indolent, oberhalb und anteromedial des Tuberculum pubicum, weich, zurückschiebbar.

Kommunizierende Hydrozele

Indolent, palpierbare Flüssigkeitsansammlung, transilluminierbar.

Schenkelhernie

Irreponible Leistenschwellung

Inkarzerierte LH

Schmerzhaft, hart, unverschieblich, Obstruktionszeichen.

Inkarzerierte Schenkelhernie

Schmerzhaft, hart, unverschieblich, Obstruktionszeichen.

Nicht-kommunizierende Hydrozele

Indolent, transilluminierbare Stelle.

Vergrößerter Leistenlymphknoten

Umschriebene Raumforderung.

Leistenhoden

Hoden kann evtl. ins Skrotum gemolken werden.Falls schmerzhaft, sollte eine Torsion eines Leistenhodens in Erwägung gezogen werden.

Skrotale Schwellung

Inguinoskrotale Hernie

Man kann die Schwellung nicht oberhalb mit den Fingern umfahren, kann reponierbar oder inkarzeriert sein, wie oben.

Hodentorsion

Hodenschmerzen, Schwellung auf das Skrotum begrenzt, man kann die Schwellung nach oben umfahren.

Torquierte Morgagni-Hydatide

Wie oben, evtl. „blue dot sign“.

Idiopathisches Skrotalödem

Bilateral, schmerzlos, oft mit vorausgegangenem viralen Infekt assoziiert.

Hodentumor

Therapie

Vorausgesetzt die Diagnose ist korrekt, wird sich eine kindliche LH nicht spontan zurückbilden, sondern erfordert eine operative Intervention, um diese zu behandeln. Sobald eine LH bei einem Kind diagnostiziert wird, sollte eine Überweisung zu einem Allgemein- bzw. Kinderchirurgen erfolgen und der Eingriff sollte innerhalb der nächsten Wochen stattfinden, um das Risiko einer Inkarzeration zu minimieren [7]. Die technisch deutlich anspruchsvolleren Herniotomien bei Neugeborenen sollten immer von einem Kinderchirurgen ausgeführt werden. Die Korrektur einer kindlichen LH kann konventionell offen oder laparoskopisch erfolgen [8, 9]. Die wichtigsten Teilschritte des Eingriffs beinhalten: Vergewisserung, dass der Bruchsack leer ist, Isolierung und Schonung der Samenstranggebilde (insbesondere des Ductus deferens sowie der Vasa testicularia), proximaler Verschluss des Bruchsacks und Kontrolle, dass sich der Hoden am Ende der Operation im Skrotum befindet.

Komplikationen

Die häufigsten Komplikationen sind Wundinfektionen, Blutungen, Hodenatrophie (etwa ein Prozent bei elektiven Eingriffen und bis zu 30 Prozent im Falle einer Inkarzeration), Verletzung des Samenleiters (etwa ein Prozent), Rezidiv (zirka ein Prozent bei älteren Kindern und vier bis acht Prozent bei Neugeborenen) und iatrogener Aufstieg des Hodens.

Tücken und Sonderfälle

1.Eine metachrone LH (das heißt kontralaterale LH, die nach Verschluss der ipsilateralen LH zum Vorschein kommt) tritt bei etwa 7 Prozent aller Patienten auf [10]. Im Allgemeinen wird dieses Risiko jedoch nicht als hoch genug angesehen, um eine routinemäßige Exploration der Gegenseite zu rechtfertigen.

2.Das Risiko eines Androgeninsensitivitätssyndroms bei Mädchen, die eine LH aufweisen. Ungefähr ein Prozent aller Mädchen, die mit einer LH vorstellig werden, haben eine komplette Androgenresistenz und 46,XY Karyogramm. Die Herangehensweisen hinsichtlich dieses kleinen, aber bedeutenden Risikos variieren, sollten jedoch zumindest eine routinemäßige Beratung sowie Karyotypisierung beinhalten.

Literatur

[1]   Ein SH, Njere I, Ein A. Six thousand three hundred sixty-one pediatric inguinal hernias: a 35-year review. J Pediatr Surg. 2006;41(5):980-986.
[2]   Rajput A, Gauderer MW, Hack M. Inguinal hernias in very low birth weight infants: incidence and timing of repair. J Pediatr Surg. 1992;27(10):1322-1324.
[3]   Clarnette TD, Lam SK, Hutson JM. Ventriculo-peritoneal shunts in children reveal the natural history of closure of the processus vaginalis. J Pediatr Surg. 1998;33(3):413-416.
[4]   Pham SB, Hong MK, Teague JA, Hutson JM. Is the testis intraperitoneal? Pediatr Surg Int. 2005;21(4):231-239.
[5]   Rowe MI, Copelson LW, Clatworthy HW. The patent processus vaginalis and the inguinal hernia. J Pediatr Surg. 1969;4(1):102-107.
[6]   Luo CC, Chao HC. Prevention of unnecessary contralateral exploration using the silk glove sign (SGS) in pediatric patients with unilateral inguinal hernia. Eur J Pediatr. 2007;166(7):667-669.
[7]   Stylianos S, Jacir NN, Harris BH. Incarceration of inguinal hernia in infants prior to elective repair. J Pediatr Surg. 1993;28(4):582-583.
[8]   Potts WJ, Riker WL, Lewis JE. The treatment of inguinal hernia in infants and children. Ann Surg. 1950;132(3):566-576.
[9]   Esposito C, Escolino M, Turrà F, et al. Current concepts in the management of inguinal hernia and hydrocele in pediatric patients in laparoscopic era. Semin Pediatr Surg. 2016;25(4):232-240.
[10]  Ron O, Eaton S, Pierro A. Systematic review of the risk of developing a metachronous contralateral inguinal hernia in children. Br J Surg. 2007;94(7):804-811.

Friedmacher F, Rolle U: Kindliche Leistenhernien. Passion Chirurgie. 2022 Mai; 12(05): Artikel 03_03.

BDC|Akademie

In Deutschland zählen Hernienoperationen mit ca. 300.000 Eingriffen pro Jahr zu den am häufigsten durchgeführten allgemeinchirurgischen Eingriffen. Eine Operation, die für alle Chirurgen der Grund- und Regelversorgung zum chirurgischen Alltag gehört. Deshalb hat die Deutsche Herniengesellschaft (DHG) zusammen mit der BDC|Akademie die Hernienschule mit den Modulen HERNIE kompakt, HERNIE konkret, HERNIE komplex und dem Zusatzmodul HERNIE kontakt entworfen.

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Dr. med. Florian Friedmacher

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Prof. Dr. med. Udo Rolle

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