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Im mittleren Teil der „deutschöstlichen Region“ (Wulf Kirsten) fällt für einige Zeit die nabelschnurartige Verbindung zwischen der Hallenser und der Leipziger Chirurgie in den Blick, wobei es sich diese beiden Städte verbeten haben würden, als Provinz bezeichnet zu werden, insbesondere Leipzig, die „heimliche Hauptstadt der DDR“. Im Mittelpunkt stehen das ehemalige Bezirkskrankenhaus St. Georg in Leipzig und die Chirurgische Universitätsklinik in Halle an der Saale. So wurde der aus dem Sudetenland vertriebene Chirurg Franz Mörl (1899–1979) in der Leipziger Universitätsklinik unter Ernst Heller (1877–1964)1 groß und dann dessen Nachfolger im St. Georg. Von dort berief man ihn auf das Ordinariat in Halle, während der dortige Oberarzt und Schüler von Werner Budde (1886–1960), Gerhard Rothe (1911–1978), Professor und Chefarzt am Klinikum St. Georg in Leipzig-Wiederitzsch wurde. Rothe hatte bei Brunner in Zürich und bei Derra in Düsseldorf hospitiert und als erster Lungenoperationen im großen Stil in Mitteldeutschland durchgeführt. Aus der Heller-Mörl-Rothe-Schule stammte auch der langjährige Chefarzt und Ärztliche Direktor des Kreiskrankenhauses Borna, Dr. Gerhard Schreckenbach (1918–2016).

Abb. 1: Franz Mörl

Im Dunstkreis von Halle, aber von Becker aus Jena kommend, entfaltete der Arztsohn Prof. Baldur Schyra (1934–2009) am Klinikum in Bernburg an der Saale (heute zur AMEOS-Gruppe gehörend und Akademisches Lehrkrankenhaus der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) eine hohe Wirksamkeit. Schyra hatte noch ein zusätzliches Studium der Philosophie mit Promotion absolviert, in Budapest und Leningrad chirurgisch hospitiert und 1969 in Jena habilitiert. Die Chirurgische Klinik in der ehemaligen anhaltinischen Residenzstadt Bernburg leitet er 29 Jahre(!) Prof. Schyra, der auch in den Fach-und Standesvertretungen aktiv war, z. B. im Präsidium der DGCH, hinterließ mit dem Buch „Momentaufnahmen eines Chirurgen“ 2003 fesselnde Lebenserinnerungen, die Einblicke in das Spannungsfeld eines Chirurgen zwischen täglicher Arbeit im Operationssaal und der Verantwortung eines „staatlichen Leiters“ im „sozialistischen Gesundheitswesen“ erlauben. Als Kuriosum sei hier angefügt, dass Schyra seine medizinische Dissertation („Johann Wilhelm Baumer und seine Bedeutung für die medizinische Wissenschaft“) an jener Abteilung der Medizinischen Akademie Erfurt angefertigt hat, an welcher der Verfasser 25 Jahre später als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war.

Abb. 2: Gerhard Rothe

Über seinen Wirkungskreis am Stadtkrankhaus Dresden-Friedrichstadt hinaus galt Albert Fromme (1881–1966) als Papst der Chirurgie in Mitteldeutschland, hinter vorgehaltener Hand auch „Pius“ genannt. Die Durchführung der 66. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) 1945 in Dresden unter seiner Präsidentschaft blieb ihm infolge von Krieg und Zerstörung versagt. Als 1954 die Medizinische Akademie „Carl Gustav Carus“ in Dresden gegründet wurde2, wurde Fomme erster Ordinarius für Chirurgie und erster Rektor. Penibel im Diagnostizieren und Operieren, war Fromme, seit 1915 Professor, chirurgisch noch Allrounder und ist wissenschaftlich vor allem mit einer seinerzeit viel diskutierten Mesenchymtheorie des Karzinoms hervorgetreten. Frommes Nachfolger, die Professoren Hans-Dieter Schumann (1911–2001) und Karl-Heinz Herzog (1927–1993) waren bei aller Unterschiedlichkeit aus dem gleichen Holz geschnitzt. Man könnte sie fast als das „Dresdner Triumvirat“ bezeichnen, vermochten sie doch ihre Klinik vor den schlimmsten Auswüchsen des „sozialistischen Gesundheitswesens“ und des totalitären Systems zu bewahren.

Abb. 3: Baldur Schyra

Abb. 4: Das alte Krankenhaus in Bernburg

Abb. 5: Gerhard Schreckenbach

Abb. 6: Albert Fromme

Die Tendenz, auch kleine und mittlere Häuser mit Professoren zu besetzen, ist nicht neu. Als Beispiel sei hier das Stadtkrankenhaus Arnstadt in Thüringen angeführt, das immer wieder Professoren an die Spitze der Chirurgie berief. Prof. Gerhard Jorns (1900–1995) dürfte der prominenteste gewesen sein. Er kam von Guleke in Jena – wie breit dessen Schule ihre Abkömmlinge in die Periphere entsandte, wird sich noch an anderer Stelle zeigen – und übernahm 1935 das Arnstädter Haus, weiterhin in Jena lesend. Jorns’ große Vielseitigkeit und seine enorme Leistungsfähigkeit zeigten sich vor allem im und nach dem Zweiten Weltkrieg, wo er nicht nur Chefchirurg und Leiter des gesamten Krankenhauses, sondern auch verantwortlich für zahlreiche Lazarette der Umgebung war. In der Nachkriegszeit rief er Polikliniken, Landambulatorien und Dispensaires ins Leben, die es zuvor noch nicht gegeben hatte. Ungeachtet dieser Arbeitsbelastung veröffentlichte Prof. Jorns chirurgische Lehr- und Handbücher, die großen Anklang unter den Fachkollegen fanden und noch weit über seine Zeit hinaus wirkten, wie z. B. das zweibändige „Lehrbuch der speziellen Chirurgie“ (zusammen mit W. E. Goldhahn,1955 ff).

Abb. 7: Hans-Dieter Schumann

Abb. 8: Gerhard Jorns

In Arnstadt gab es noch einen weiteren prominenten Professor der Chirurgie, der allerdings nicht mit Jorns konkurrierte, weil er sich gänzlich auf die orthopädische Chirurgie spezialisiert hatte: Prof. Dr. Leopold Frosch (1890–1959), von 1925 bis 1959 Chefarzt der Orthopädischen Klinik „Marienstift“. Die chirurgischen Lehrer des gebürtigen Berliners waren Moritz Katzenstein (1872–1932), Otto Hildebrand (1858–1927) und August Bier (1861–1949), alle in Berlin. Vor allem Kinder mit Rachitis, Knochentuberkulose und Haltungsschäden, natürlich auch Erwachsene, kamen scharenweise aus ganz Thüringen und darüber hinaus zu Frosch. Wie Jorns ist auch er Namensgeber einer Straße in Arnstadt.

Dass Provinzkrankenhäuser auch als Sprungbrett für höhere Aufgaben dienen können, zeigt sich am Beispiel von Heinrich Kuntzen (1893–1977), der als Payr-Schüler zunächst an das Stadtkrankenhaus nach Chemnitz ging und von dort 1951 auf das chirurgische Ordinariat in Jena berufen wurde. Zu Chemnitz (von 1953 bis 1990 „Karl-Marx-Stadt“) wäre noch anzufügen, dass die späteren Chefärzte Kurt Unger (1916–1996), Wilfried Wehner (1932–2022), Rainer Morgenstern (1940–2016) und Joachim Boese-Landgraf (*1950) als Professoren aus dem universitären Bereich kamen.

Wiederum aus der Jenaer Chirurgenschule stammte Prof. Fred Nöller, langjähriger Chefarzt am Bezirkskrankenhaus Gera-Milbitz. Der Guleke-Schüler hatte dort 1950 den nicht minder namhaften Prof. Otto Hilgenfeld (1900–1983) abgelöst. Nöller, der noch das Gesamtgebiet der Chirurgie beherrschte und auch Facharzt für Urologie war, hielt weiter Vorlesungen in Jena. Er brachte die Geraer Klinik auf den neuesten Stand und hat zahlreiche Fachärzte und Oberärzte in die Umgebung entlassen. Ihm eignete zudem eine zeichnerische Begabung, die sich u.  a. in einem Porträt seines Meisters Guleke ausdrückte.

Hier schließt sich nahtlos Prof. Gerhard Hartmann (1923–2011) an, der ebenfalls aus der chirurgischen „Kaderschmiede“ von Guleke in Jena kam. Auch Kuntzen und Becker hat er noch erlebt, bevor er 1968 als Chefarzt an das Kreiskrankenhaus in Greiz „entwich“, zu groß waren die Meinungsverschiedenheiten mit seinem Chef in der Jenaer Bachstraße. Hartmann hat diesen Wechsel nie als Abstieg, sondern als Glücksmoment empfunden, konnte er sich doch in der Greizer Selbständigkeit als Chirurg und Urologe fachlich voll entfalten und seine Vorstellungen von einer reibungslos funktionierenden chirurgischen Abteilung verwirklichen. Zudem war es ihm in der Provinz mehr als im „Dschungel“ der Hochschule möglich, seinen humanistischen und psychologischen Neigungen zu frönen.

Einer der im wahrsten Sinne des Wortes berühmtesten sogenannten Provinzchirurgen war Heinrich Braun (1862–1934) in Zwickau. Hier schuf er ein Großkrankenhaus im damals modernen Pavillonstil mit über 600 Betten, die Hälfte davon chirurgische. Aus Nah und Fern kamen nicht nur Patienten, sondern auch am Krankhausbau interessierte Besucher nach Zwickau. Kurz nach Brauns Tod erhielt die Einrichtung den noch heute bestehenden Namen „Heinrich-Braun-Krankenhaus“. Die Chirurgie erlernte Braun bei Richard von Volkmann (1830–1889) in Halle, autodidaktisch als Privatkliniker in Leipzig sowie als Habilitand bei Karl Thiersch (1822–1895) in Leipzig. Als Chefarzt des neuen Diakonissenkrankenhauses (1899–1905) in Leipzig stand Braun bereits auf eigenen Füßen und widmete sich dem Gebiet der Lokalanästhesie, das ihm später Weltruhm verschaffen sollte. In Zwickau bewies Braun, dass die wissenschaftliche Arbeit längst nicht mehr auf die Universitätskliniken beschränkt war. Eine anschauliche Beschreibung seines Werdeganges gibt Heinrich Braun in seiner Autoergobiographie: „Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen“. Hrsg. v. L. Grote. Bd. 5. Leipzig 1925, S. 1–34.

Braun, seit 1905 Extraordinarius an der Universität Leipzig, hat sich besonders um die Lokalanästhesie verdient gemacht, hierbei oft als Widerpart von Carl Ludwig Schleich (1859–1922). Wir kennen noch heute seine Leitungs- und Infiltrationsanästhesie, seine Bein-Lagerungsschiene und (vielleicht) seinen Transfusionsapparat. Für immer verbunden bleibt sein Name auch als Mitherausgeber der ersten großen chirurgischen Operationslehre in Deutschland, dem „Bier-Braun-Kümmell“, zusammen mit August Bier (1861–1949) und Hermann Kümmell (1852–1937). 22 Jahre hat Braun in Zwickau gearbeitet, ist 1924 Präsident der DGCH gewesen und 1929 zu ihrem Ehrenmitglied ernannt worden.

Gelegentlich kam es auch zu Rückberufungen von in die Provinz gegangenen Chirurgen an ihre Alma Mater. Ein solcher Fall begegnet uns in der Person von Hans Schröder (1929–1997), ein Schüler Kuntzens, der dann bei Theo Becker (1916–1997) habilitierte, Professor wurde und von 1972 bis 1981 Chefarzt der Chirurgie am Bezirkskrankenhaus in Gera wurde. Er folgte Becker auf dem Jenaer Lehrstuhl (1981–1995).

Der Franke Dr. Wilhelm Heufelder (1896–1976) hatte bei seinem Dienstantritt 1930 in Waltershausen am Fuße des Thüringer Waldes München als akademischen Hintergrund. Er verließ die Ludwig-Maximilians-Universität, wo er studiert und promoviert hatte, als Facharzt noch zu Zeiten Erich Lexers (1867–1937). Waltershausen wurde zu Heufelders Wahlheimat. Hier setzte er den Krankenhausneubau am Geizenberg durch und hier erwarb er sich den Ruf eines Struma-Spezialisten, zu dem nicht nur Patienten aus dem Thüringer Endemiegebiet kamen, sondern aus der gesamten DDR. Über seine Pensionierung hinaus hat Chefarzt Dr. Heufelder Sprechstunden abgehalten und ist beratend tätig gewesen. In Waltershausen ist er dann auch gestorben.

Die seit 1954 im Rahmen der neu gegründeten „Medizinischen Akademie Erfurt“ als Hochschulklinik fungierende Chirurgische Klinik mit ihren Direktoren Prof. Egbert Schwarz (1890–1966) und Prof. Werner Usbeck (1920–2007) war ebenfalls daran interessiert, möglichst viele aus ihrem „Stall“ hervorgegangene Chirurgen auf Chefpositionen in der Region unterzubringen. Auf diese Weise wurden u.  a. die Kreiskrankenhäuser in Arnstadt, Gotha, Bad Langensalza, Sömmerda, Ilmenau und Nordhausen besetzt. Und so war zumindest in diesen Kliniken dann ein einheitliches chirurgisches Vorgehen („Erfurter Schule“) gewährleistet. Im Umland anderer großer Ausbildungseinrichtungen war es ähnlich.

Abb. 9: Wilhelm Heufelder

Ohne an dieser Stelle auf weitere Städte, in denen Professoren chirurgische Chefärzte waren, wie z. B. Frankfurt an der Oder, Saalfeld an der Saale oder Plauen im Vogtland näher eingehen zu können (was vielleicht an anderer Stelle einmal möglich ist), bleibt zu resümieren, dass in Ost und West, in Nord und Süd des ehemaligen zweiten deutschen Staates sich die Chirurgen gleichermaßen mit PASSION ihrem Metier gewidmet haben, egal ob dies in den Kathedralen der Universitäten oder „auf dem platten Land“ geschah.

1  Inaugurator der nach ihm benannten Kardiomyotomie bei Pylorospasmus und der Thorakoplastik bei Empyemresthöhe

2  Zur Beseitigung des Ärztemangels wurden zeitgleich die Medizinischen Akademien in Erfurt und Magdeburg gegründet.

Dr. med. habil. Volker Klimpel

Grazer Straße 3

01279 Dresden

Panorama

Klimpel V: In der Provinz –
Chirurgen in der DDR (Teil 2).
Passion Chirurgie. 2024 April;
14(04): Artikel 09.

Den ersten Teil „Chirurgie in der DDR“ lesen Sie auf BDC|Online (www.bdc.de) unter der Rubrik Wissen | Panorama.

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