Zurück zur Übersicht

Rückblick auf die Gesundheitspolitik 2016

Am Ende eines Jahres nutzt man gerne die Gelegenheit, zurückzuschauen, was geschehen ist oder auch was nicht. Je nach Blickwinkel des Betrachters fällt das Urteil überschwänglich positiv aus oder eher ernüchtert resigniert. Was die Gesundheitspolitik und im Besonderen die Gesetzgebung betrifft, so wird der Minister als „teuerster Gesundheitsminister“ nicht müde, mit Stolz und durchaus zu Recht darauf zu verweisen, dass sein Haus praktisch alle Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt hat. Bedauerlich für die Ärzteschaft ist dabei nur, dass schon der Koalitionsvertrag nichts Gutes ahnen ließ. An dieser Stelle sollen die verschiedenen Gesetze eher unter exemplarischen Gesichtspunkten abgehandelt werden, um daraus mögliche Perspektiven für die Zukunft abzuleiten. Kritik an Beschlossenem mag dazu dienen, Zorn oder Enttäuschung abzuarbeiten, konstruktiv ist es eher selten.

Im Kern stehen zwei Gesetzesänderungen im SGB V auf dem Prüfstand: Das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz und das Krankenhausstrukturgesetz. Daneben eine Vielzahl flankierender Gesetze, auf die noch einzugehen sein wird. Wirklich umwälzende Richtungsänderungen sind nicht zu erkennen, es bleibt bei einer generell dirigistisch vorgegebenen Struktur der Versorgung, die zaghaften wettbewerblichen Elemente der Vorgängergesetze sind zumindest nicht weiter gestärkt worden.

Für große Aufregung hat die Verpflichtung für die Kassenärztlichen Vereinigungen gesorgt, sogenannte Terminservicestellen (auf eigene Kosten und ohne Zuschuss von dritter Seite) einzurichten. Patienten sollen dort innerhalb einer Woche zu einem Facharzt vermittelt werden, ansonsten erfolgt eine Konsultation im Krankenhaus. Letzteres übrigens explizit auch ohne Facharztstatus und selbstverständlich auf Kosten der Vertragsärzte. Nun hat Deutschland eine der höchsten Arztdichten, allerdings auch die höchste Rate an Inanspruchnahme ärztlicher Leistung. Dennoch gibt es kaum Wartezeiten, außer bei wenigen Hochspezialisten. Es hat sich schnell gezeigt, dass die Terminservicestellen im Verhältnis zur Gesamtheit der Arzttermine in einem kaum messbaren Promillebereich genutzt worden sind. Normale Arzttermine gibt es überall und Spezialisten werden durch Terminstellen eben auch nicht geboren. Kuriosum am Rande: Die Weiterleitung an eine Krankenhausambulanz scheitert oft daran, dass es genau diese Spezialisten dort gar nicht gibt. Also ein Gesetz ohne tieferen Sinn und Nutzen, übrigens auch ohne ernste Nachteile. Der Hintergrund ist allerdings bemerkenswert: Diese von allen im Vorfeld als überflüssig angesehene Verordnung soll angeblich der koalitionsinterne Preis der Union für den Verzicht der SPD auf deren gewünschte Bürgerversicherung gewesen sein. Dann wär´s geradezu ein Schnäppchen gewesen.

Weniger erfreulich sind die Präzisierungen zum Zwangsaufkauf von Zulassungen in überversorgten Gebieten. Tatsächlich soll jetzt bei einer Versorgung von 140 Prozent im Falle einer Praxisabgabe die Zulassung eingezogen werden. Im Prinzip handelt es sich um eine staatlich veranlasste Enteignung. Allerdings wird vorher geprüft, ob die Praxis versorgungsrelevant ist, was man bei großen Einheiten annehmen darf. Es werden, wenn überhaupt, nur kleine, unrentable Einheiten vom Markt genommen, die vermutlich sowieso nicht verkäuflich sind. Aber sicher kann niemand sein, der in einer überversorgten Region tätig ist. Man darf an dieser Stelle fragen, ob es in unserer freiheitlichen Gesellschaft andere Unternehmensbereiche gibt, denen bei der Weitergabe an einen Nachfolger die Enteignung droht. Ganz abgesehen von dem Widerspruch zwischen staatlich verordneter Verknappung des Angebots und staatlicher Klage und Sanktionen wegen angeblich zu langer Wartezeiten.

Interessant ist noch das gesetzlich neu verankerte Recht der Patienten auf das Einholen einer Zweitmeinung vor elektiven Eingriffen. An sich nichts Besonderes, wenn daran nicht ein weiteres Prinzip des Gesetzgebers festzumachen wäre: Alles wird im Gesetz angetönt, aber kaum etwas wird definitiv und im Detail geregelt. Stereotyp findet sich immer der Hinweis: Das Nähere regelt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Dieser G-BA (übrigens ohne demokratische Legitimation zusammengesetzt) ist inzwischen eine Art Nebengesetzgeber. Seine Beschlüsse haben bindenden gesetzlichen Charakter, obwohl eine pluralistische Meinungsbildung oder gar eine demokratische Beschlussfassung nicht existiert. Der Gesetzgeber hat eine untergesetzliche Institution installiert und dieser die Auslegung seiner eigenen Gesetze übertragen. Das ist übrigens auch an anderer Stelle so, z. B. mit der Einrichtung des so genannten IQTIG, neben dem schon bestehenden IQWIG, beides Institute zur Qualitätssicherung, beide mit erheblicher Macht, beide ohne demokratische Legitimation, dafür aber direkt normgebend und Grundlage für die Entscheidungen des G-BA.

Nur an einer Stelle ist der Gesetzgeber eindeutig vorgegangen: Bei der Organisation der Vertragsärzte. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung ist nicht zuletzt auch wegen groben internen Missmanagements an die Kette gelegt worden. Zahlreiche Auflagen der Aufsichtsbehörde engen den Handlungsspielraum der Selbstverwaltung massiv ein und der Einsatz eines Staatskommissars scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Zudem wird gesetzlich eine kuriose Verbiegung der Demokratie verlangt, indem Haus- und Fachärzte unabhängig von der tatsächlichen demokratisch gewählten Zusammensetzung paritätisch über die gleiche Stimmgewichtung verfügen. Man stelle sich vor, im Bundestag hätten alle Parteien die gleiche Stimmenzahl, egal wie viele Mandate die einzelnen errungen haben.

Größeres Lob hat – zumindest von Seiten der Trägerorganisationen – das Krankenhausstrukturgesetz erfahren. Immerhin wird sehr direkt eine massive finanzielle Spritze gesetzt, ohne erkennbare strukturelle Einschränkungen. Offenbar resigniert der Gesetzgeber vor der Tatsache, dass die Länder ihren Verpflichtungen zur Investitionsförderung im Rahmen der dualen Finanzierung nicht nachkommen und greift selber ein. Auch wird die Pflege deutlich aufgebessert, jedenfalls finanziell – jedoch ohne relevante Auswirkungen. Ob die zukünftige Verschmelzung der drei Pflegebereiche (Kinder-, Alten- und Regelpflege) in eine einheitliche generalistische Ausbildung wirklich den Pflegemangel behebt, erscheint mehr als fraglich. Nicht immer führt eine Minderung der Qualität zu einer Mehrung der Quantität. Es erstaunt schon, dass hier eine Qualitätsverwässerung vorgenommen wird, wo doch sonst die sogenannte Qualitätsoffensive im Focus steht. Übrigens übernimmt wie immer der G-BA unter Einbeziehung von IQTIG und IGWIG die Definition von Qualität. Geprüft wird das dann vor Ort durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen, deren Mitarbeiter nicht immer auf dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand sind.

Neu für die Kliniken ist der Zugang zur ambulanten Versorgung. Sehr zum Ärger der Vertragsärzte können jetzt von Krankenhäusern sogenannte Portalpraxen eingerichtet werden. Damit wird letztlich legitimiert, was sowieso schon geschieht. Immer häufiger gehen Patienten auch während der regulären Öffnungszeiten der niedergelassenen Chirurgen direkt ins Krankenhaus und verstopfen dort die Notaufnahmen. Das soll wohl durch die Portalpraxen zu einer Art Regelversorgung werden. Wer das allerdings angesichts der Personalsituation an den Kliniken leisten soll, bleibt unklar. Vorsorglich hat die Deutsche Krankenhausgesellschaft schon das Doppelte der Regelleistungsvolumina der KV-Ärzte für sich als Honorar reklamiert.

Leider gibt es kaum weitere Ansätze, die von uns immer wieder geforderte sektorübergreifende Versorgung voranzubringen. Das gesetzlich verankerte Entlassmanagement ist kein wirklicher Fortschritt, sondern nur eine weitere bürokratische Erschwernis auf dem Weg zu mehr Zusammenarbeit. Das größte Hindernis kommt allerdings in Form des Antikorruptionsgesetzes aus dem Justizministerium. Prinzipiell stehen alle Formen der Kooperation unter genereller Strafandrohung, sofern das „übliche Maß“ überschritten wird. Das betrifft die Zuweisung gegen Entgelt ebenso wie die Annahme von Gefälligkeiten oder schon die Vermeidung eines Nachteils. Vor allem Honorarärzte sind massiv verunsichert, denn es ist völlig unklar, auf welcher Basis eine Vergütung noch als „üblich“ angesehen wird. In der Konsequenz erreichen uns eine große Zahl von Kündigungen bestehender Verträge durch die Klinikträger, wohl in der Absicht, die Preise absenken zu können. Bedauerlicherweise haben die Juristen auch keine klare Vorstellung und warten jetzt auf erste Urteile. Wir haben wieder den klassischen Fall des Unterschiedes zwischen „Gesetzesrecht“ und „Richterrecht“.

Ein Thema hat im letzten Jahr die Ärzteschaft neben der eigentlichen Gesetzgebung beschäftigt: die Reform der Gebührenordnungen EBM und GOÄ. Beim EBM läuft es einigermaßen reibungslos, wenn auch langsam. Wir erwarten eine EBM-Reform (finanzneutral!) ohne zusätzliche Geldmittel zum Ende des kommenden Jahres. Es wird sich vermutlich nicht viel ändern. Wie immer unter den Bedingungen des Budgets wird es allenfalls eine Umverteilung des Mangels geben. Für Chirurgen als Randnotiz zu bemerken ist die Tatsache, dass es eine Zusammenlegung der Honorare von bisherigen Orthopäden mit der Fachgruppe Chirurgie geben soll. In gleichem Zusammenhang soll auch die Bedarfsplanung der beiden Gruppen zusammengeführt werden, was interessante Auswirkungen auf den jeweiligen Grad der Überversorgung haben dürfte (Stichwort Enteignung bei Überversorgung). Genaueres ist noch nicht bekannt.

Die Diskussion um die neue GOÄ hat dagegen ganz andere Wellen geschlagen. Sogar ein Sonderärztetag musste abgehalten werden, weil die Intransparenz der Verhandlungen zwischen Bundesärztekammer und privaten Kassen abenteuerliche Ausmaße angenommen hatte. Im März ist das Projekt GOÄ neu seitens der BÄK gestoppt worden, seitdem sind wieder die Verbände, die bisher unter angeblicher Geheimhaltungverpflichtung durch das Ministerium ausgeschlossen waren, wieder mit im Boot. Aktuell wird zusammen mit den Verbänden eine neue Legendierung erarbeitet, die dann allerdings wieder mit der PKV konsentiert werden muss. Ob in der noch laufenden Legislaturperiode ein fertiger Kompromiss vom Gesetzgeber als Verordnung auf den Weg gebracht werden kann, ist mehr als fraglich. Der Minister hat sein Wort gegeben, dies zu tun, aber der Koalitionspartner hat bereits ebenso klar zu erkennen gegeben, dass Derartiges mit der SPD nicht durch den Bundesrat gehen wird. Je dichter der Wahltermin heranrückt, umso mehr wird die GOÄ zum Wahlkampfthema und damit vermutlich nicht verabschiedet werden.

Warten wir also den Ausgang der nächsten Bundestagswahl ab. Die Parteien haben durchaus unterschiedliche Vorstellungen zur zukünftigen Gesundheitspolitik. In einem Punkt ist aber aus dem letzten Jahr, wie auch schon seit Seehofers Budgetbremse, konsistent eine immer weiter zunehmende Reglementierung, Bürokratisierung und Verstaatlichung des Systems zu konstatieren. Gleich, wer die Gestaltungsmacht im Gesundheitsministerium besitzt, immer sind es dieselben Instrumente, die genutzt werden, um die Schere zwischen sinkenden Sozialeinnahmen und steigenden Kosten durch medizinischen Fortschritt (vergeblich) am weiteren Aufklappen zu hindern. Man versucht, der Bevölkerung einerseits freien wohnortnahen Zugang zu sämtlichen medizinischen Möglichkeiten zu versprechen, andererseits werden die Kapazitäten erkennbar ausgedünnt. Im Krankenhausbereich durch verschärfte Qualitätsindikatoren, die kleinere Häuser nicht mehr werden bedienen können, im Bereich der niedergelassenen Chirurgen mit Zulassungsrücknahmen, ebensolchen Qualitätsmaßnahmen, die vor allem teuer sind, und mit einer Öffnung der Krankenhäuser als subventionierte Konkurrenz. Dies sind die Indizien, die sich aus dem Studium der Gesundheitspolitik des vergangenen Jahres ergeben und deren Fortsetzung wir mit großer Sicherheit nach der Wahl erleben werden. Da kann man sich freuen, dass in 2017 wegen des Wahlkampfes in der Regel keine tiefgreifenden Gesetze mehr zu erwarten sind.

Meyer H.-J. / Rüggeberg J.-A. Alles wie immer?. Passion Chirurgie. 2016 Dezember, 6(12/IV): Artikel 05_02.

Autoren des Artikels

Profilbild von Meyer

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Hans-Joachim Meyer

Präsident des Berufsverband der Deutschen Chirurgie e.V. (BDC)Referat Presse- & Öffentlichkeitsarbeit/WeiterbildungskommissionLuisenstr. 58/5910117Berlin kontaktieren
Profilbild von Rüggeberg

Dr. med. Jörg-Andreas Rüggeberg

Vizepräsident des BDCReferat Presse- & Öffentlichkeitsarbeit/Zuständigkeit PASSION CHIRURGIEPraxisverbund Chirurgie/Orthopädie/Unfallchirurgie Dres. Rüggeberg, Grellmann, HenkeZermatter Str. 21/2328325Bremen kontaktieren

Weitere Artikel zum Thema

PASSION CHIRURGIE

Passion Chirugie 12/2016

Gemeinsam stark – Wir wünschen viel Spaß beim Entdecken der neuen Ausgabe, ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Start ins neue Jahr!

Passion Chirurgie

Lesen Sie PASSION CHIRURGIE!

Die Monatsausgaben der Mitgliederzeitschrift können Sie als eMagazin online lesen.