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Wenn die Demografiedebatte sich häufig auf die zu bewältigenden Herausforderungen konzentriert, ist das nur eine Seite der Medaille. Denn zunächst beinhaltet die Veränderung der Bevölkerungsstruktur eine positive Nachricht: Die Menschen leben länger [1], und sie leben länger gesund. Diese begrüßenswerte Entwicklung, die aus Verbesserungen in verschiedensten Lebensbereichen resultiert, rückt leicht in den Hintergrund, wenn in der öffentlichen Debatte der demografische Wandel auf eine Bedrohung der Gesellschaft und ihrer Sozialsysteme reduziert wird. Auch die zukünftige Finanzierbarkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird häufig angesichts der demografischen Veränderungen in Frage gestellt.

Die GKV steht bereits seit einiger Zeit vor einer zunehmenden Diskrepanz zwischen Ausgaben und Einnahmen, da die Gesundheitsausgaben seit Jahren stärker wachsen als das beitragspflichtige Einkommen. Hochrechnungen auf Grundlage der aktuellen Steigerungsraten prognostizieren regelmäßig wiederkehrend massive Beitragssatzsteigerungen der GKV in den nächsten 20 bis 50 Jahren. So wird einer aktuellen Prognose zufolge bei Annahme unveränderter Rahmenbedingungen der aktuelle Beitragssatz von heute 15,5 Prozent auf 30 bis 50 Prozent im Jahr 2060 wachsen [2]. Dass Schreckensszenarien dieser Art bisher nie eingetreten sind, liegt daran, dass das Gesundheitssystem keinen Cetero-paribus-Zustand kennt und durch kontinuierliche Reformen auf bestehende Herausforderungen reagiert. Wohl verdeutlichen sie aber ernstzunehmende Trends. Um dabei zu einer Einschätzung zu kommen, welchen Einfluss der demografische Wandel auf die künftige Finanzentwicklung der GKV hat, müssen die Einnahme- und die Ausgabenseite gesondert betrachtet werden.

Auswirkungen des demografischen Wandels auf die GKV-Einnahmen

Eine länger lebende Bevölkerung bei einer kontinuierlich niedrigen Geburtenrate führt zu einem immer größeren Anteil Rentner an der Bevölkerung. 2060 werden 100 Erwerbstätige nicht mehr 34 Senioren wie noch 2008, sondern bereits 67 Senioren finanzieren [3]. Soweit die Alterseinkommen geringer als die Lohneinkommen sind, führt der Rentnerzuwachs grundsätzlich zu negativen Einnahmeeffekten für die GKV: Berechnungen zufolge sinkt die Summe der beitragspflichtigen Einnahmen der GKV bis 2060 aufgrund des steigenden Anteils Rentner und der rückläufigen Bevölkerungszahlen um 16 Prozent [4]. Diese Entwicklung wird aber auf der anderen Seite durch die abnehmende Zahl mitversicherter Kinder und Ehegatten aufgefangen. Im Ergebnis werden die Pro-Kopf-Einnahmen der GKV bis 2060 voraussichtlich nahezu konstant bleiben und ab 2012 infolge der schrittweisen Einführung der Rente mit 67 sogar positiv beeinflusst werden. Nicht die demografische Entwicklung, sondern andere Faktoren werden in erster Linie für die künftige Belastung der Einnahmen der GKV verantwortlich sein. Dazu gehören wie heute schon die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen, Veränderungen in den Erwerbsstrukturen, Verschiebungen beim Renteneintrittsalter, künftige Nullrunden bei der Rentenanpassung und nicht zuletzt das Ausmaß, in dem die GKV auch künftig als Verschiebebahnhof für versicherungsfremde Ausgaben genutzt werden wird.

Auswirkungen des demografischen Wandels auf die GKV-Ausgaben

In welcher Form ist der Einfluss des demografischen Wandels auf die Krankenversicherungsausgaben schon heute zu beobachten bzw. künftig zu erwarten? Analysen bisheriger GKV-Leistungsausgaben zeigen, dass die altersspezifischen Krankheitskosten von Versicherten mit zunehmendem Alter exponentiell ansteigen. Betrugen die Krankheitskosten 2008 bei Frauen im Alter zwischen 30 und 45 durchschnittlich 1.910 Euro, liegen sie bei 65- bis 84-Jährigen im Schnitt bei 6.170 Euro und bei über 85-Jährigen gar bei 15.330 Euro. Dementsprechend gab die GKV schon 2006 knapp die Hälfte ihrer Leistungsausgaben für Menschen über 65 Jahren aus, die lediglich einen Bevölkerungsanteil von einem Fünftel darstellen. Der Ausgabenanteil Älterer wird sich alleine aufgrund der zunehmenden Anzahl älterer Menschen in den nächsten Jahren erhöhen. In welchem Ausmaß aber eine älter werdende Gesellschaft und eine größere Anzahl Versicherter im höheren Lebensalter zur künftigen Kostensteigerung beitragen wird, hängt entscheidend von der Entwicklung der altersspezifischen Pro-Kopf-Ausgaben ab. Verschiedene Studien zur Prognose der Auswirkung des demografischen Wandels auf die GKV-Ausgaben stützen sich auf unterschiedliche Theorien.

Hypothese 1:

Nach der Status-quo-Hypothese werden sich die altersspezifischen Pro-Kopf-Ausgaben auch künftig nicht wesentlich verändern und die GKV-Ausgaben in dem Maße, in dem die Anzahl älterer Menschen zunimmt, steigen.

Hypothese 2:

Die Expansions- oder Medikalisierungsthese geht davon aus, dass die zunehmende Lebensdauer vor allem eine erhöhte Anzahl kranker Lebensjahre mit sich bringt und durch den vermehrten Einsatz medikamentöser und anderer Therapien die Pro-Kopf-Ausgaben im Alter künftig ansteigen werden.

Hypothese 3:

Dagegen geht die Kompressionsthese davon aus, dass die hohen Krankheitskosten im Alter in erster Linie auf den hohen Ausgaben in zeitlicher Nähe zum Lebensende basieren, gleichzeitig aber die durch die verlängerte Lebenserwartung hinzu gewonnenen Lebensjahre in besserer Gesundheit verbracht werden. Insofern ist kein Anstieg, sondern eventuell sogar ein Absinken der Pro-Kopf-Ausgaben in hohen Altersgruppen zu erwarten.

Auch wenn sich Studien für alle drei Annahmen finden lassen, lässt sich in der Gesamtschau eine Tendenz zur schwachen Kompressionstheorie feststellen: Die Gesamtkosten der GKV steigen mit zunehmender gesellschaftlicher Alterung, aber in geringerem Maß als aufgrund von Status-quo-Hochrechnungen zu erwarten wäre. Grund dafür ist der hohe Anteil der Krankheitsausgaben, die zwei bis fünf Jahre vor dem Tod entstehen [5]. Dieser ist nach einer Auswertung von Schweizer Versichertendaten für ein Viertel der Ausgabensteigerung verantwortlich, die vor dem Hintergrund des demographischen Wandels bis 2060 prognostiziert wird [6]. Da weiteren Studien zufolge die Kosten der Mortalität in hohen Altersgruppen wieder absinken [7], ist bei zunehmender Alterung der Bevölkerung ein Rückgang der Kosten der Mortalität wahrscheinlich. Dieser wird aber insgesamt die Kosten der Überlebenden nicht überkompensieren, die in höheren Altersgruppen steigen, auch wenn sie künftig durch einen gesünderen Gesundheitszustand abgemildert werden [8].

Determinanten mit starkem Einfluss auf die Ausgabenentwicklung

Auch empirische Analysen der GKV-Ausgaben der vergangenen Jahre geben keine eindeutigen Anhaltspunkte dafür, dass der demografische Wandel bisher zum Anstieg der Pro-Kopf-Ausgaben geführt hat. Vielmehr zeigt eine Auswertung von Daten des Risikostrukturausgleichs der Jahre 1996, 2001 und 2008, dass die durchschnittlichen, inflationsbereinigten Ausgaben je Versicherten in den einzelnen Altersgruppen im Vergleichszeitraum gleichgeblieben und bei Frauen im höheren Alter sogar leicht zurückgegangen sind [9]. Analysen wie diese unterstützen Prognosen, nach denen die demografische Alterung keineswegs Haupttreiber des künftigen Anstiegs der GKV-Ausgaben ist. So trägt einem OECD-Gutachten zufolge die demografische Alterung nur zu 10 bis 20 Prozent an dem erwarteten Anstieg öffentlicher Gesundheitsausgaben in Deutschland bis 2050 bei. Andere Determinanten haben einen weit stärkeren Einfluss auf die Ausgabenentwicklung, wie das steigende Volkseinkommen, der medizinisch-technische Fortschritt, der insgesamt höhere Lebensstandard und eine angebotsinduzierte Nachfrage. Vor allem der medizinisch-technische Fortschritt ist als einer der Hauptausgabentreiber hervorzuheben. Die Entwicklung der Arzneimittelausgaben der letzten Jahre zeigt, dass die Ausgaben für neue, patentgeschützte Präparate seit 1993 rund achtmal so stark gestiegen sind wie der Gesamtumsatz im ambulanten Arzneimittelmarkt [10]. Einen hohen Anteil daran haben Spezialpräparate wie Krebsmedikamente, die bei einem Verordnungsanteil von 2,5 Prozent einen Umsatz von 27,5 Prozent der ambulanten Fertigarzneimittel ausmachen. Auch der Krankenhausbereich, dessen Ausgaben seit Jahren mit rund einem Drittel den größten Ausgabenblock der GKV ausmachen, ist gewolltes Einfallstor für medizinische Neuerungen, da diese nur in Ausnahmefällen nicht finanziert werden (Verbotsvorbehalt). So kostet beispielsweise eine Herzgefäßerweiterung unter Einsatz eines medikamentenbeschichteten Ballonkatheters mit 1.216 Euro je Fall mehr als doppelt so viel wie das konventionelle Verfahren mit Drug-eluting-Stents. Rechnet man dies hoch auf alle Fälle, bei denen im ersten Halbjahr 2010 Ballonkatheter abgerechnet wurden, entstehen Mehrkosten in Höhe von 1,2 Millionen Euro gegenüber dem herkömmlichen Verfahren. Auch wenn insbesondere die Industrie immer wieder Einsparpotenziale durch Produktinnovationen verspricht, ist mittelfristig nicht mit einem Rückgang der Kosten durch medizinisch-technischen Fortschritt zu rechnen – dies nicht zuletzt auch aufgrund der zunehmenden Grenzkosten von Innovationen. Insgesamt beziffern Studien die Ausgabensteigerung durch medizinisch-technischen Fortschritt auf etwa 1 Prozent pro Jahr. Unter dieser Annahme würde nach TK-Hochrechnungen der heutige GKV-Beitragssatz bis 2060 auf 32,2 Prozent steigen, während eine reine Berücksichtigung des demografischen Wandels lediglich zu einer Steigerung auf 19,6 Prozent führt.

Der häufig befürchtete gravierende Einfluss der demografischen Alterung auf die Finanzierungsgrundlagen der GKV muss damit relativiert werden: nicht nur die Einnahmen, sondern auch die Ausgaben werden nach heutigen Erkenntnissen in geringerem Maß davon betroffen sein als häufig angenommen. Dennoch wird es insgesamt zu Ausgabensteigerungen kommen, die einerseits durch die höhere Anzahl älterer Menschen und andererseits durch andere Faktoren getrieben sind. Hier gilt es Maßnahmen zu ergreifen, um die künftige Finanzierung der GKV sicherzustellen.

Handlungsnotwendigkeiten für eine zukunftsfeste GKV

Angesichts der insgesamt steigenden Gesundheitsausgaben muss es zu allererst Ziel sein, bestehende Ineffizienzen im Gesundheitssystem weiter abzubauen und durch die kontinuierliche Verbesserung von Organisations- und Anreizstrukturen unnötige Kosten zu senken. Nach einer aktuellen Studie können alleine durch den Abbau ineffizienter Strukturen im Gesundheitssystem zwischen fünf und zehn Milliarden Euro eingespart werden [11]. Insbesondere durch die vermehrte Nutzung von Wettbewerbselementen wie zum Beispiel Spielräume für flexible Vertragsgestaltung müssen attraktive Anreize für eine effizientere und gleichzeitig bessere Versorgung geschaffen werden. Verstärkt muss durch Einsatz messbarer Qualitätssicherungssysteme dafür Sorge getragen werden, dass die Beitragseinnahmen ausschließlich zur Finanzierung qualitativ hochwertiger Leistungen eingesetzt werden. Gleichzeitig geht mit der Rationalisierung von Ausgaben die Notwendigkeit einher, die Einnahmebasis der GKV nachhaltig zu sichern und verlässliche Finanzierungsstrukturen zu schaffen. Erforderlich ist außerdem, dass die langjährigen “Verschiebebahnhöfe”, mit der die GKV ihr im Grunde wesensfremde Ausgaben finanziert, abgeschafft werden.

Parallel zu kurzfristigen Steuerungsmaßnahmen ist langfristig angesichts des medizinisch-technischen Fortschritts und der steigenden Anzahl älterer Menschen eine Diskussion über die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems notwendig. Ein System wie die GKV mit einem weiten Leistungskatalog und einem relativ schnellen Zugang zu medizinischen Neuerungen hat seinen Preis. Damit die GKV auch künftig nutzenstiftenden Fortschritt finanzieren kann, muss langfristig eine gesellschaftliche Diskussion darüber stattfinden, welchen Preis wir künftig für die Gesundheitsversorgung zu zahlen bereit sind. Diese Herausforderung gilt es anzunehmen und auf dieser Grundlage zentrale Kriterien für die Finanzierung von medizinischen Leistungen zu diskutieren, um so Finanzierungsentscheidungen von der individuellen Arzt-Patienten-Ebene auf eine gesellschaftliche Ebene zu verlagern.

Neben anderen Bereichen wie dem Arbeitsmarkt, der Rentenversicherung und dem Bildungswesen ist die Gesetzliche Krankenversicherung nur einer der Bereiche, die vom demografischen Wandel betroffen sind. Zu nennen ist hier insbesondere die Pflegeversicherung, die in den nächsten Jahren durch den demografischen Wandel vor einer immensen Zunahme der Pflegebedürftigen steht und mit massivem Ausgabenanstieg rechnen muss. Hier wie in allen Bereichen müssen in den nächsten Jahren die Weichen richtig gestellt werden. Für die GKV ist es an der Zeit, den demografischen Wandel nicht als Bedrohung, sondern als eine positive Herausforderung und Chance zur Veränderung zu sehen. Denn eine der Kernaufgaben der GKV wird in den nächsten Jahren darin liegen, die Strukturen der medizinischen Versorgung auf die veränderten Bedarfe einer alternden Bevölkerung auszurichten. Die erfolgreiche Umsetzung und eine offene gesellschaftliche Diskussion ohne Tabuisierung von Themen werden ausschlaggebend für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen sein.

Literatur:

[1] Laut der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts vom 31.1.2008 ist die Lebenserwartung Neugeborener seit 1990 um etwa vier Jahre auf 82,3 (Frauen) bzw. 76,9 Jahre (Männer) gestiegen und wird bis 2060 um weitere acht Jahre steigen.

[2] Beske, Friedrich, Krauss, Christian (2010), Ausgaben- und Beitragssatzentwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung bis 2060, IGSF Schriftenreihe Bd. 118

[3] 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausrechnung des Statistischen Bundesamts vom 31.1.2008

[4] TK-Berechnungen 2011

[5] Felder, Stefan (2008), Im Alter krank und teuer? Gesundheitsausgaben am Lebensende, in: GGW 2008, Jg. 8, Heft 4 (Oktober) : 23-30

[6] Felder 2008, a.a.O.

[7] Kruse, Andreas et al. (2003), Kostenentwicklung im Gesundheitswesen: Verursachen ältere Menschen höhere Gesundheitskosten? AOK Baden-Württemberg 2003; Weber Christian (2006), Der medizinische Fortschritt und seine Finanzierung im Lichte einer älter werdenden Gesellschaft, Wissenschaftliches Institut der PKV, Vortrag 17.5.2006

[8] OECD (2006), Projecting OECD Health and Long Term Care Expenditure

[9] Göpffarth Dirk (2010), Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf die Ausgaben der GKV, Vortrag 18.1.2010. Ausgabenvergleich verschiedener als Verhältniswerte, die um Inflation und gesundheitssystembedingte Kostensteigerungen bereinigt wurden.

[10] Paffrath, Dieter, Schwabe, Ulrich, Arzneiverordnungsreport 2010

[11] Gesundheitswesen? et al, Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), in: Die BKK 03/2009 : 92-98

Zusammenfassung des Vortrags beim Symposium des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen e.V. am 4. Februar 2011 in Berlin.

Baas JC. GKV – Chancen und Herausforderungen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Passion Chirurgie. 2011 April; 1(4): Artikel 02_04.

Autor des Artikels

Profilbild von Jens Christian Baas

Dr. Jens Christian Baas

Vorstandsmitglied der Techniker KrankenkasseBramfelder Straße 14022305Hamburg

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