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Vor dem Hintergrund der schon bald für alle spürbaren dramatischen Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf unser Solidarsystem mit dem Gesundheitswesen, in dem von immer weniger jungen Mitbürgern immer mehr ältere Mitbürger versorgt werden müssen, ist es erforderlich, alle Leistungsbereiche als Einheit zu sehen und gemeinsam zu planen.

Der Zeitpunkt ist nicht mehr fern, zu dem es weder möglich ist, den bisherigen Leistungsumfang in Gesundheit und Pflege zu finanzieren noch die heutigen Leistungen durch Fachkräfte zu erbringen. In dieser Situation, in der Finanzmittel und Fachkräfte nicht mehr ausreichen, um alle Leistungen bedarfsgerecht zu erbringen, stehen alle Leistungen um begrenzte Finanzmittel und Fachkräfte in Konkurrenz zueinander, zeigt eine neue Studie vom IGSF Kiel [1].

„Alle medizinischen Versorgungsbereiche, die ambulante und akutstationäre medizinische Versorgung, die Pflegeversorgung und die Rehabilitation, gleichgültig ob in der Zuständigkeit der GKV oder der Rentenversicherung, sind Konkurrenten um finanzielle Mittel und um Fachkräfte. Dies ist heute schon so, und es wird sich in Zukunft verschärfen.

Erforderlich wird ein koordinierter Ansatz, der auf der regionalen Ebene alle vier Leistungsbereiche umfasst. Erforderlich sind leistungs- und sektorenübergreifende Verbünde. Dabei kommt Kommunen und Landkreisen eine besondere Bedeutung zu, denn letztlich wird dies nur auf der regionalen und auf der kommunalen Ebene gelingen können.“, so das Credo der Studie.

Es werden sechs Entwicklungslinien dargestellt und dann in einer Zusammenschau analysiert:

  • Demografischer Wandel
  • Morbidität und Versorgungsbedarf
  • Medizinischer Fortschritt
  • Fachkräftemangel
  • Versorgungsstruktur Pflegebedürftiger
  • Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialen Pflegeversicherung

Demografischer Wandel

Bevölkerungsentwicklung von 2009 bis 2060 je nach Annahme unterschiedlicher Varianten (abgerundete Zahlen):

Abnahme der Bevölkerungszahl von 82 auf 65 Millionen, minus 17 Millionen

Abnahme der nachwachsenden Generation, 0 bis 19 Jahre, von 15 auf 10 Millionen, minus 5 Millionen

Abnahme der Altersgruppe im erwerbsfähigen Alter, 20 bis 66 Jahre, von 51 auf 34 Millionen, minus 17 Millionen

Zunahme der Altersgruppe im nicht mehr erwerbsfähigen Alter, 67 Jahre und älter, von 15 auf 20 Millionen, plus 5 Millionen.

Ein Indikator für diese Entwicklung ist der Altenquotient. Für Erwerbstätige bedeutet dies, dass heute drei Erwerbstätige für einen der nicht mehr Erwerbstätigen arbeiten; ab 2050 beträgt die Relation statt 3:1 nur noch 1:1.

Ein zweiter Indikator ist die Lebenserwartung, die von 1900 mit 41 Jahren für Jungen und 44 Jahren für Mädchen bis 2060 auf bis zu 88 Jahren für Jungen und 91 Jahre für Mädchen steigen kann.

Die Rentenbezugsdauer hat sich kontinuierlich erhöht und erhöht sich weiter. Die Höhe des Renteneintrittsalters steht damit weiter zur Disposition.

Morbidität und Versorgungsbedarf

Es nimmt zu die Multimorbidität mit einem höheren Versorgungsbedarf und höheren Kosten. Es nehmen zu mit dem Alter verstärkt auftretende Krankheiten und dabei insbesondere chronische Krankheiten. Beispiele sind von 2007 bis 2050

Zunahme der jährlichen Neuerkrankungen an Herzinfarkt um 75 Prozent

Zunahme der jährlichen Neuerkrankungen an Schlaganfall um 62 Prozent

Zunahme der jährlichen Neuerkrankungen an Krebs insgesamt um 27 Prozent

Zunahme der Erkrankten an Demenz von 1,1 auf 2,2 Millionen.

Es nimmt zu die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,25 Millionen auf 4,5 Millionen, ein Anstieg um 100 Prozent.

Medizinischer Fortschritt

Grundlage einer weiteren Verbesserung der Gesundheitsversorgung ist im Wesentlichen der medizinische Fortschritt. Niemand darf vom medizinischen Fortschritt ausgeschlossen werden. Der medizinische Fortschritt ist der entscheidendste Faktor für die weitere Verbesserung der Gesundheitsversorgung, aber auch der teuerste Faktor.

Fachkräftemangel

Das Statistische Bundesamt rechnet für 2025 mit etwa 152.000 fehlenden Pflegekräften, PricewaterhouseCoopers bis 2030 mit 165.000 fehlenden Ärzten, 400.000 fehlenden Pflegekräften und 950.000 fehlenden Fachkräften in Gesundheit und Pflege insgesamt.

Es wird gefordert, die Situation durch ausländische Fachkräfte zu entspannen. Die EU-Kommission weist darauf hin, dass 2020 in europäischen Ländern bis zu zwei Millionen Arbeitskräfte im Gesundheitswesen fehlen könnten, auch in anderen Ländern eine Auswirkung der Alterung der Bevölkerung.

In dem Werben um Nachwuchs stehen alle Berufe in Konkurrenz zueinander. Besonders in den Pflegeberufen dürften große Anstrengungen erforderlich sein, um einen ausreichenden Nachwuchs zu gewinnen.

Versorgungsstruktur Pflegebedürftiger

Es zeigt sich ein Trend hin zu einer professionellen ambulanten Betreuung und zu einer Betreuung in Pflegeheimen. Werden für Plätze in Pflegeheimen die Zahlen linear fortgeschrieben, würden bis 2050 zusätzlich 800.000 Pflegeheimplätze erforderlich sein. In den Stadtstaaten ist bereits heute jeder zweite Haushalt ein Einpersonenhaushalt. 2025 sind es rund 55 Prozent. Bundesweit werden dann 41 Prozent der Privathaushalte Einpersonenhaushalte sein. Damit sinkt die Möglichkeit zur häuslichen Pflege.

Finanzierung der GKV und der SPV

In der Gesetzlichen Krankenversicherung steigen die altersbedingten Pro-Kopf-Ausgaben von durchschnittlich 970 Euro in der Altersgruppe 1 bis 29 Jahre bis auf 5.585 Euro im Alter von 89 Jahren, um dann geringfügig um 200 Euro zurückzugehen. 2008 haben 51 Millionen Mitglieder die Beiträge für Ausgaben der GKV von 160 Milliarden Euro aufgebracht. 2060 müssen 40 Millionen Mitglieder, 11 Millionen weniger, die Beiträge für Ausgaben von 468 Milliarden Euro aufbringen, 308 Milliarden mehr. Der Beitragssatz müsste von 14,9 Prozent 2010 auf bis zu 52 Prozent steigen. Der Beitragssatz ist ab 01.01.2011 gesetzlich festgeschrieben. Ein Beitragssatz von 52 Prozent weist jedoch darauf hin, welcher Beitragssatz erforderlich wäre, um den heutigen Umfang der Leistungen der GKV zu finanzieren.

In den öffentlichen Haushalten wird durch die grundgesetzlich festgelegte Schuldenbremse davon ausgegangen, dass nicht wie bisher die Ausgaben bestimmen, was an Einnahmen aufgebracht werden muss, sondern dass sich die Ausgaben an den Einnahmen orientieren. Eine gleiche Entwicklung kann für die GKV erwartet werden. Auch in der GKV wird die bedarfsbestimmte durch eine einnahmeorientierte Finanzierung abgelöst. Die Einnahmen bestimmen, was geleistet werden kann.

Bei der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) handelt es sich nur um eine Teilkostenversicherung. Dies ist so weiten Teilen der Bevölkerung nicht bewusst. Durch Leistungsausweitungen kann in Verbindung mit dem demografischen Wandel der Beitragssatz bis 2060 auf über 5 Prozent steigen. Die jetzt erörterte Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs würde die Ausgaben weiter erhöhen. Auch bei der Sozialen Pflegeversicherung könnte eine Umstellung auf eine einnahmeorientierte Finanzierung erfolgen müssen.

Zusammenschau der sechs Entwicklungslinien

Keine dieser Zahlen, keine Prognose muss so stimmen. Was aber stimmt, sind Größenordnungen und Entwicklungstendenzen. Es kommt der Zeitpunkt, zu dem es weder möglich ist, den bisherigen Leistungsumfang in Gesundheit und Pflege zu finanzieren, noch die heutigen Leistungen durch Fachkräfte zu erbringen. In einer Situation, in der Finanzmittel und Fachkräfte nicht mehr ausreichen, um alle Leistungen bedarfsgerecht zu erbringen, stehen alle Leistungen um begrenzte Finanzmittel und Fachkräfte in Konkurrenz zueinander. Jeder Euro, der im Gesamtsystem nicht bedarfsgerecht ausgegeben wird, und jede Fachkraft, die falsch eingesetzt ist, fehlt an anderer Stelle. Betroffen sind alle vier großen Leistungsbereiche ambulante medizinische Versorgung, akutstationäre medizinische Versorgung (Krankenhaus), Pflege und Rehabilitation. Jede Leistung muss sich in Anbetracht begrenzter Ressourcen mit allen anderen Leistungen messen lassen und in Art und Umfang daraufhin überprüft werden, welchen Stellenwert ihr in Konkurrenz mit allen anderen Leistungen zukommt.

Lösungsansätze

Lösungsansätze können nur beispielhaft sein und nur skizziert werden. Sie sollen bewirken, dass eine Diskussion darüber beginnt, was jenseits von derzeitigen Regelmechanismen getan werden muss, um auch in Zukunft eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung bei begrenzten Mitteln sicherzustellen.

Die Bundesgesetzgebung muss umgestellt werden auf eine Rahmengesetzgebung mit einem weitgehenden Verzicht auf detaillierte Regelungen. Die Lösungen liegen nicht mehr vorwiegend in Berlin, sie liegen in den Regionen, Kommunen und Landkreisen. Es gilt dezentral vor zentral. Es ist die Verwirklichung von Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard, auch in Gesundheit und Pflege.

Integrative Regionalisierung

Wenn es so ist, dass die vier Leistungsbereiche ambulante medizinische Versorgung, akutstationäre medizinische Versorgung (Krankenhaus), Pflege und Rehabilitation um Finanzmittel und Fachkräfte konkurrieren, dann stellt sich die Frage, wie lange eine isolierte Leistungsplanung und Leistungserbringung noch aufrecht erhalten werden kann. Erforderlich wird ein koordinierter Ansatz, der auf der regionalen Ebene alle vier Leistungsbereiche umfasst. Erforderlich sind leistungs- und sektorenübergreifende Verbünde. Dabei kommt Kommunen und Landkreisen eine besondere Bedeutung zu. Diese Entwicklung wird durch die Notwendigkeit gefördert, besonders in der Versorgung Pflegebedürftiger das ehrenamtliche Element zu stärken. In Zukunft werden professionelle Pflege und ehrenamtliche Tätigkeit gemeinsam die Versorgung Pflegebedürftiger sicherstellen müssen.

Eine stärker regionalisierte und kommunalisierte Versorgung ist ohne zusätzliche Finanzmittel nicht möglich. Die Politik hat die Aufgabe zu prüfen, wie in Gesundheit und Pflege die Finanzströme so gelenkt werden können, dass in den Regionen die erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung stehen, ohne die insgesamt zur Verfügung stehenden Finanzmittel zu erhöhen. Da in der Verwendung dieser Mittel unterschiedliche Interessen ausgeglichen werden müssen, ist die Konstruktion dieses Verfahrens die vielleicht schwierigste Aufgabe bei der Sicherstellung einer integrativen Versorgung überhaupt. Eine integrative Versorgung wird erleichtert, wenn GKV und SPV wieder zusammengeführt werden. Integriert werden muss auch die Rehabilitation trotz Zuständigkeiten der Rentenversicherung.

Abgestufte professionelle Versorgung

Der Fachkräftemangel erfordert eine eindeutige Aufgabenbestimmung derjenigen Tätigkeiten, die von einem Beruf erbracht werden müssen. Dies betrifft in erster Linie den Beruf des Arztes. Für die heute von Ärzten ausgeführten Tätigkeiten gibt es in Zukunft nicht die hierfür erforderliche Zahl an Ärzten. Zusätzlich ist erforderlich:

Entlastung aller Fachkräfte von Aufgaben, die von geringer qualifiziertem Personal erbracht werden können

Abbau des bürokratischen Aufwands, darunter in der Dokumentation

Ausbau der Pflegeassistenzberufe.

Innovationen

Erforderlich sind Innovationen im Versorgungsbereich, mit denen Fachkräfte und dabei vorzugsweise Ärzte und Pflegekräfte entlastet werden und mit denen die selbstständige Lebensführung erleichtert wird: im Pharmabereich, in der Medizintechnik und in der Informationstechnologie und dabei vorzugsweise in der Telemedizin. Der zusätzliche Nutzen muss nachweisbar sein und wahrgenommen werden können.

Ausgabenbegrenzung

Mit keiner wie auch immer gearteten Finanzierungsform ist der heutige Leistungsumfang der GKV und sind die auf die GKV durch neue Leistungen zukommenden Ausgaben zu finanzieren. Dies dürfte so auch auf die Pflegeversicherung zutreffen. Es kann nur versprochen werden, was auch finanziert werden kann. In der GKV betrifft die Ausgabenbegrenzung den Leistungskatalog, die Leistungsstruktur und die Leistungsinhalte.

Grundlage für eine Neubestimmung von Leistungen in der GKV ist eine Neubestimmung der Aufgaben der GKV dahingehend, dass Aufgabe der GKV in erster Linie die Versorgung im Krankheitsfall ist, ergänzt um definierte Präventionsmaßnahmen. Bei der Überprüfung der Leistungsstruktur muss z. B. die Frage nach der Zahl und der Verteilung von Krankenhausbetten, der Umfang der stationären Rehabilitation und die Zahl der Arztkontakte gestellt werden, bei den Leistungsinhalten z. B. die Versorgung von Frühgeborenen, die Indikation zum Einsatz einer Endoprothese und die Palliativmedizin.

Rationierung und Priorisierung

Die Diskussion über Rationierung und Priorisierung wird belebt werden müssen. Dies erfordert eindeutige Definitionen. Vorschläge für Definitionen werden in dieser Arbeit unterbreitet: Rationierung ist die vernünftige, die rationale Zuteilung begrenzter Leistungen, Priorisierung eine Rangfolge der Wertigkeit innerhalb einer Leistung mit Prioritäten und Posterioritäten.

Künftigen Generationen eine Zukunft bieten

In der Bewertung der hier vorgelegten Zahlen und Prognosen muss einmal mehr darauf hingewiesen werden, dass Maßstab nicht die angegebene Zahl oder die Prognose ist, sondern die Größenordnung und der Entwicklungstrend, die beide unbestritten sein dürften.

Es gibt zwei Möglichkeiten, mit der Zukunft umzugehen:

Die Zukunft auf sich zukommen zu lassen und zu reagieren.

Die Zukunft zu erfassen und zu agieren.

Nur der zweite Weg bietet die Möglichkeit, künftigen Generationen ein Erbe zu hinterlassen, das auch ihnen eine Zukunft bietet. Die Aufgabe lautet, Konzepte zu entwickeln, deren Kernpunkte Dezentralisierung und Regionalisierung mit Stärkung von Selbstverwaltung und ehrenamtlichem Element, von Nachbarschaftshilfe, von freiwilligen und integrierten Zusammenschlüssen von Leistungserbringern und Leistungsbereichen auf der Grundlage eines klaren Realitätsbezugs hinsichtlich finanziell und personell begrenzter Ressourcen. Finanzströme müssen umgeleitet werden. Es ist sicher einfacher und wohl auch publikumswirksamer, bundesweit geltende Gesetze, Verordnungen und Kontrollmechanismen zu erlassen, als in Verbünden auf der regionalen und kommunalen Ebene Lösungen mit einer größeren Zahl von Beteiligten und unterschiedlichen Interessen zu suchen. Ob jedoch bei den auf die Gesellschaft zukommenden Problemen der Weg von gesetzlicher Regelung und Kontrolle in der Lage ist, die Probleme zu lösen, muss bezweifelt werden. Der vorgeschlagene Weg erfordert allerdings den Mut zur Lücke und zum Unterschied.

Die Zeit drängt. Gesellschaftliche Prozesse brauchen ihre Zeit. Die Schere zwischen steigendem Bedarf und sinkenden Möglichkeiten der Bedarfsdeckung geht immer weiter auseinander. Die Antwort kann nur lauten: Gehandelt werden muss sofort.

Literatur:

[1] Beske, F.: „Sechs Entwicklungslinien in Gesundheit und Pflege – Analyse und Lösungsansätze“. Schriftenreihe/Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel; Bd. 119. Kiel 2011.

Pressemitteilung zur Pressekonferenz des IGSF am 24. Februar 2011 in Berlin

Beske F. Gesundheitswesen jetzt ganzheitlich planen. Passion Chirurgie. 2011 April; 1(4): Artikel 02_03.

Autor des Artikels

Profilbild von Fritz Beske

Prof. Dr. med. Fritz Beske

Institut für Gesundheits-System-Forschung (IGSF )Weimarer Str. 824106Kiel kontaktieren

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