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Ein Rückblick in die Zukunft

Wir schreiben das Jahr 2023 und es ist Einiges passiert in den letzten Jahren im deutschen Gesundheitswesen. Insbesondere seit sich Ratingagenturen auf den Weg gemacht haben, nicht nur Banken und Staaten, sondern auch die Gesundheitssysteme der einzelnen Länder zu bewerten. Die Bewertung in Deutschland fiel katastrophal aus. „Junk Status“!

Das Bundesgesundheitsministerium bemühte sich, den Ruf des deutschen Gesundheitswesens als das beste der Welt aufrecht zu erhalten. Doch dann kam auch noch WikiLeaks und veröffentlichte ein geheimes Gutachten, das der Minister persönlich in Auftrag gegeben hatte. Titel: „Die Möglichkeiten der Förderung einer Mehrklassen-Medizin zur Senkung der Kosten im deutschen Gesundheitswesen“. Nach einer Kabinettsumbildung ging daraufhin der neue Gesundheitsminister in die Offensive und formulierte das neue Ziel: Deutschland wolle nun endlich den Schritt vom Gesundheitswesen zu einem wirklichen Gesundheitssystem – also einer modernen und vernetzten Versorgungsstruktur – vollziehen. Berlin sollte Modell stehen. Dort war alles vorhanden: Eine flächendeckende Versorgung mit Ärzten, eine aktive Pharma- und Medizintechnik-Industrie und natürlich die Gesundheitsversicherer, die man früher Krankenkassen nannte.

Man holte sich mit ConceptHealth einen Berliner Thinktank mit ins Boot und versammelte so ausgesuchte Experten, die bereits erfolgreich zukunftssichernde Strategien entwickelt hatten.

Übergewicht, Diabetes und eine sinkende Lebenserwartung

Die ThinkTanker wandten sich zunächst der zentralen Frage zu: Warum werden wir eigentlich krank und vor allem – wie wieder gesund? Es war glasklar: Gesundheit passierte nicht da, wo die vielen Milliarden Euro ausgegeben wurden. Nicht im Krankenhaus, nicht in der Arztpraxis, nicht in der Apotheke und auch nicht in der Reha-Klinik. Gesundheit passierte im Supermarkt. Entscheidend war der Griff ins Regal. Und da entschied das Produkt oben rechts statt unten links oft genug über den Gesundheitszustand ganzer Familien. Das Übergewicht war in Deutschland mittlerweile auf kumulativ 279.000 Tonnen angewachsen. Dies entsprach dem Normgewicht von 3,8 Millionen Einwohnern. Eine Umkehr des Trends war nicht in Sicht. Vielmehr stieg das Körpergewicht der Deutschen weiter – täglich um satte 30 Tonnen. Findige Köpfe hatte berechnet, dass dies mehr als 700.000 verzehrten Cheeseburgern entsprach, deren Produktion wiederum einen täglichen CO2-Ausstoß verursachte, der der Menge entsprach, die ein VW Golf bei einer Fahrt von 12 Millionen Kilometern produzierte. Viele der übergewichtigen Bürger würden einen Diabetes entwickeln und so wurde eine Diabetes-Epidemie wohl nicht zu Unrecht befürchtet. So begann bereits in einigen Bevölkerungsgruppen die Lebenserwartung wieder zu sinken.

Im nächsten Schritt beschäftigten sich die Experten mit einer weiteren interessanten Fragestellung. Wie bewegt sich eigentlich der Patient im Gesundheitswesen, wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen zu treffen? Und da gab es einige höchst interessante Thesen:

95 Prozent der Erstentscheidungen zur Inanspruchnahme von Leistungen werden außerhalb des Gesundheitssystems getroffen, vom Patienten selbst mit Hilfe der Familie und Freunden.

70 bis 80 Prozent der Patienten, die das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen, können sich – mit den richtigen Informationen versorgt – auch selber helfen

60 bis 80 Prozent der Patienten, die das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen, benötigen keine ärztliche Hilfe.

60 Prozent der Patienten, die wirklich Hilfe benötigen, gehen zu spät zum Arzt; die Behandlung wird so intensiver, unangenehmer, teurer und weniger Erfolg versprechend.

70 Prozent der korrekten Diagnosen hängen ausschließlich davon ab, was der Patient dem Arzt erzählt, also von der Qualität der Information und Kommunikation.

Das Gesundheitswesen war zweifellos in der Pre-Crash-Phase angekommen. Es wurde über steigende Kosten und über Patienten lamentiert, die immer häufiger ihren Arzt aufsuchten. Gleichzeitig wuchs das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Ärzten. Wen wunderte es also, dass vor beinahe jedem Arztbesuch Dr. Google konsultiert wurde.

Alles perfekt vernetzt

Wie also könnte ein neues Gesundheitssystem aussehen, das seinen Namen tatsächlich verdient hätte? Die Experten gaben die Antwort und lieferten ein neues Modell, das vielen bekannt vorkommen musste. So wie ein iPhone mit seinen Apps die Welt der Information vernetzte, so sollte in einem i-System für Gesundheit alles, von der Arztpraxis bis zum Krankenhaus, von der Apotheke bis zum Pharmakonzern und vom Grund- und Regelversorger bis zur Universitätsklinik perfekt vernetzt werden in jeder Sekunde des Tages nutzbar sein einen maximalen Patientennutzen.

Doch das reichte den Berliner Experten nicht. Denn mittlerweile hatten eben alle verstanden, dass man den wichtigsten Sektor im Gesundheitswesen schlicht vergessen hatte: den Alltag! Im Alltag wurden die Menschen krank. Zunächst wurden sie vielleicht nur dick, dann aber unweigerlich krank. Also musste der Alltag der Menschen im neuen System ebenfalls berücksichtigt werden. Den Alltag der Gesundheit bestimmten Firmen, die Produkte und Dienstleistungen anboten, die im Alltag der Bürger Einfluss auf deren Gesundheit hatten: Supermärkte, Restaurants, Reiseveranstalter, Autohersteller usw. Im neuen Gesundheitssystem wurden auch solche Unternehmen zu den Leistungserbringern gezählt – vorausgesetzt, sie ließen sich akkreditieren. In einem aufwendigen Prozess wurde geprüft, ob die angebotenen Produkte/Dienstleistungen gesundheitsfördernd oder eher gesundheitsschädlich waren und wie sichergestellt wurde, dass der Kunde die Information dazu erhielt.

Aber auch das reichte dem Berliner ThinkTank noch nicht aus auf dem Weg vom guten alten Gesundheitswesen hin zu einem Gesundheitssystem, das tatsächlich seinen Namen nun endlich verdienen sollte.

Immer mehr Menschen lebten mehr in der Welt von Facebook, Google+ usw. als in der realen Welt. Diese Netzwerke hatten mittlerweile den milliardenschweren Gesundheitsmarkt entdeckt und waren bereits nicht mehr aus dem Gesundheitswesen weg zu denken. Die Menschen in den Netzwerken waren mittlerweile nicht nur online, sondern onhealth. Es dauerte nicht lange, bis die Nutzer der Sozialen Netzwerke mit ihren gesammelten Gesundheitsinformationen im Netz vertreten waren. Begonnen hatte Facebook im Jahr 2011 mit seiner sogenannten Time Line, in der alle Facebook – Nutzer ihre Lebensbiographie in allen Einzelheiten von der Wiege bis zur Bahre einschließlich Baby-Foto und Nachruf der Netzgemeinde zur Verfügung stellen konnten. Einige Jahre später war daraus eine Lebensgesundheitsakte geworden, in der die gesamte Krankengeschichte einschließlich aller relevanten Untersuchungsbefunde gespeichert war. Beim Besuch eines Online-Shops oder eines Supermarktes wurde die Lebensgesundheitsakte automatisch mit dem Wareninformationssystem verbunden und man konnte unmittelbar die Auswirkungen des Verzehrs eines Produktes simulieren. Der Käufer wurde konkret informiert, um wie viel Gramm man zunehmen würde und wie der Cholesterinspiegel steigen würde, wenn man mit seinem wohlgefüllte Einkaufswagen in Richtung Kasse ging. Und so bildete sich schnell ein neuer Fachbegriff: Supermarket based Medicine.

Lebensgesundheitsakte auf Google, Facebook & Co.

Für die Krankenhäuser waren die Sozialen Netzwerke eine doppelte Herausforderung. Zum einen erwarteten die Patienten, dass ein Krankenhaus Zugriff auf die Facebook oder Google+ Lebensgesundheitsakte hatte und nach Entlassung diese Akte auch mit den aktuellen Informationen des Klinikaufenthaltes gefüllt war. Dies führte nicht nur zu erheblichen Kosten für die notwendige IT-Infrastruktur. Darüber hinaus ließen sich die sozialen Netzwerke den Zugriff fürstlich von den Krankenhäusern entlohnen. Zunächst weigerten sich manche Krankenhäuser, diese kostspielige Verbindung mit den sozialen Netzwerken einzugehen. Als dann tatsächlich die Patienten mit der Begründung ausblieben, dass ohne die Verbindung an die persönlichen Gesundheitsinformationen die Behandlungsqualität nicht stimmen könne, wurden die Krankenhäuser schließlich zu Kunden von Facebook, Google+ und Co.

Die zweite Herausforderung bestand darin, dass praktisch kein Patient mehr ein Krankenhaus betrat, ohne vorher seine Beschwerden und Behandlungsbedarfe online und in Echtzeit mit dem führenden Qualitäts-Portal abgeglichen zu haben. Nachdem das Portal Qualitätskliniken.de zum Marktführer geworden war, wurden mittlerweile auch die Fragen der Medizinethik, der Anteil innovativer Behandlungsverfahren, ja selbst der Gesundheitszustand der Mitarbeiter nicht ausgelassen, wenn es um die Beschreibung der Qualität eines Krankenhauses ging. Und das ganze natürlich mobil, überall verfügbar, als App.

Der Patient des Jahres 2023 war sich eben seiner Gesundheit bewusst und nicht minder seiner Marktmacht. Nach dem Check bei Qualitätskliniken.de wusste er, welches Krankenhaus am besten für diese oder jene Operation oder Intervention geeignet war. In ausgesuchten Krankenhäusern konnten die Patienten sogar ihren geplanten Aufenthalt simulieren, um zu erfahren, wie hoch das individuelle Risiko von Komplikationen oder der Grad der Einschränkung und die Stärke der Schmerzen sein würden. Doch nach der Empfehlung des Qualitätsportals ging es noch einen Schritt weiter. Dann fragte man in seinem sozialen Netzwerk nach, ob jemand mit dem Krankenhaus, der Abteilung und dem behandelnden Arzt bereits Erfahrung gemacht hatte. Und wenn die persönliche Bewertung durch einen mehr oder wenig bekannten onHealth-Freund nicht wirklich gut ausfiel, dann ging man eben zum nächsten Krankenhaus. Mindestens in Berlin war dies kein Problem.

Gerne posteten auch Patienten über Twitter direkt aus dem Krankenhaus, welche Erfahrungen sie gerade machten. Eine Transparenz, die nicht ohne Folgen für das ein oder andere Krankenhaus blieb. Insbesondere dann, wenn eitrige Wunden oder eine unzureichende Schmerztherapie in Echtzeit den vielen Tausend Followern beschrieben wurde.

In der Welt der Expertensysteme war es mittlerweile ein Leichtes, intelligente Computer per Sprachsteuerung und Anbindung an das Internet auf medizinische Sachverhalte zu programmieren. Immerhin verfügte der berühmte „Watson“ von IBM über eine Rechenleistung, die das menschliche Gehirn um das Vielfache übertraf. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war hochkarätigstes medizinisches Wissen nicht mehr an Ärzte gebunden. Die Information hatte das Skalpell als das klassische lebensrettende Werkzeug abgelöst.

Und da das Wissen nun eine Frage der Rechenkapazität geworden war, konzentrierten sich die Auswahlprozesse bei der Suche nach Ärzten wieder vermehrt auf die menschlichen Qualitäten der Kolleginnen und Kollegen. Denn Empathie und Vertrauen waren auch im Jahr 2023 kaum elektronisch abbildbar.

Chefarztbehandlung gratis im Sommerloch

Das also waren die Rahmenbedingungen, mit denen die Krankenhäuser umgehen mussten. Auf der einen Seite durften sie nun auch in den Markt der ambulanten Medizin einsteigen und sogar Arzneimittel herstellen und verkaufen. Auf der anderen Seite war die Finanzierung der Leistungen umfänglich an die Qualität der Leistungserbringung gekoppelt worden. Die Vergütung erfolgte erst, wenn am Tag 100 nach Entlassung das Ergebnis der Behandlung dem Soll-Ergebnis entsprach.

Außerdem hatten die Patienten nun die Möglichkeit, den Preis der Leistungen frei zu verhandeln. Die Krankenhäuser ihrerseits reagierten mit Preisoffensiven, boten im Sommerloch gerne auch einmal ein Einzelzimmer oder die Chefarztbehandlung gratis an. Dafür mussten die, die schnell einen Termin haben wollten, schon einmal persönlich tief in die Tasche greifen. Man merkte schnell, welche Krankenhäuser sich ihre Manager von den großen Fluggesellschaften geholt hatten. Frühbucherrabatte wurden ebenso der Renner, wie die sogenannten All-you-can-heal-Angebote. Hier wurde z. B. die Entfernung der Gallenblase mit einer Nasenkorrektur kombiniert und zu einem besonders günstigen Preis angeboten.

Eine Topmanagerin von E-Bay entwickelte daraufhin speziell für Deutschland eine Variante, die sie medBay nannte. Hier hatten Krankenhäuser die Möglichkeit, ihre Leistungen im Versteigerungsmodus anzubieten. Für Patienten bestand bei medBay auf der andere Seite die Möglichkeit, sich selbst als Patienten zu vermarkten. „Benötige Endoprothese – wer macht mir das günstigste Angebot“.

So war der Gesundheitsmarkt Schritt für Schritt Wirklichkeit geworden. Nachdem das Gesundheitswesen selbst die Patienten über Jahre gezwungen hatte, zum Kunden zu werden, verhielten sich die Patienten nun auch kompromisslos wie zahlende Kundschaft.

Müschenich M. Gesundheit als App – Das Gesundheitssystem im Jahr 2023. Passion Chirurgie. 2013 Juni, 3(06): Artikel 02_04.

Autor des Artikels

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Dr. med. Markus Müschenich

Concept Health – Der Berliner Think Tank für die GesundheitswirtschaftAskaloner Weg 413465Berlin kontaktieren

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